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Entscheidung 16 K 2790/17.A


Metadaten

Gericht VG Potsdam 16. Kammer Entscheidungsdatum 21.04.2023
Aktenzeichen 16 K 2790/17.A ECLI ECLI:DE:VGPOTSD:2023:0421.16K2790.17.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 3 AsylVfG 1992, § 11 Abs 1 AufenthG, § 3a AsylVfG 1992, § 3e AsylVfG 1992, § 4 AsylVfG 1992, § 34 Abs 1 AsylVfG 1992, § 38 Abs 1 AsylVfG 1992, § 77 AsylVfG 1992, § 11 Abs 3 AufenthG, § 59 Abs 1 AufenthG, § 60 Abs 5 AufenthG, § 60 Abs 7 AufenthG

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Die Kläger sind russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Der Kläger zu 1. wurde am ... 1979 in B... (Kasachstan) und die Klägerin zu 2. am ... 1987, der Kläger zu 3. am ... 2004, der Kläger zu 4. am ... 2008, der Kläger zu 5. am ... 2010 und die Klägerin zu 6. am ... 2013 in A... (Russische Föderation) geboren. Die Kläger zu 1. und 2. sind die Eltern der Kläger zu 3. bis 6. und des am ... 2015 in N... geborenen R... und des am ... 2019 in N... geborenen D....

Die Kläger reisten am 16. September 2015 über den Landweg aus der Republik Polen kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 8. Oktober 2015 Asylanträge.

Mit Bescheid vom 4. Dezember 2015 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Im Folgenden: Bundesamt) die Asylanträge der Kläger mit Verweis auf bereits zuvor in der Republik Polen gestellte Asylanträge als unzulässig ab, ordnete die Abschiebung in die Republik Polen an und erließ ein auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot. Eine Abschiebung unterblieb daraufhin.

Mit rechtskräftigem Gerichtsbescheid vom 6. September 2016 hob das hiesige Verwaltungsgericht den Bescheid vom 4. Dezember 2015 auf. Zur Begründung führte es aus, dass die Zuständigkeit zur Durchführung des Asylverfahrens wegen unterbliebener Überstellung und Ablaufs der Überstellungsfrist auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen sei.

Am 27. Dezember 2016 hörte das Bundesamt den Kläger zu 1. und die Klägerin zu 2. zu den Asylgründen der Kläger an. Die Kläger gaben im Wesentlichen an, dass sie beginnend mit dem 5. Mai 2015 wiederholt zu Hause von unbekannten, bärtigen und bewaffneten Männern aufgesucht worden seien, die um Versorgung mit Essen gebeten hätten. Daraufhin sei der Kläger zu 1. am 8. Juni 2015 von Männern in Polizeiuniform unter Gewaltanwendung auf das Revier in A... mitgenommen und vier Tage lang festgehalten, mit Schlagstöcken geschlagen und in Bezug auf die Männer, denen er Essen gegeben habe, verhört worden. Daraufhin sei der Kläger zu 1. dank einer Zahlung seiner Verwandtschaft freigelassen worden. Mitte Juli 2015 sei der Kläger zu 1. erneut mitgenommen und daraufhin geschlagen und verhört worden. Ihm seien Fotos mit Leichen von Männern vorgelegt worden und er sei aufgefordert worden, die Männer zu identifizieren. Am nächsten Morgen sei der Kläger zu 1. wieder freigelassen worden. Es sei ihm gegenüber gesagt worden, dass man wisse, wo er zu finden sei. Anschließend sei er am 14. August 2015 ein drittes Mal mitgenommen worden, wieder verhört und zudem aufgefordert worden, irgendwelche Papiere zu unterschreiben, die er jedoch nicht unterschrieben habe. Erneut seien ihm Fotos mit Leichen zum Zwecke der Identifizierung vorgelegt worden. Nachdem der Kläger zu 1. gesagt habe, dass er diese Männer nicht kenne, sei ihm gegenüber gesagt worden, dass es nächstes Mal ein Foto geben könnte, auf dem seine Leiche zu sehen sei. Auf die darauffolgende Frage des Klägers zu 1., ob es auch einen anderen Ausweg gebe, sei geantwortet worden, dass er eine Million Rubel zahlen müsse. Der Kläger zu 1. habe daraufhin gesagt, dass er so viel Geld nicht habe und dieses erst durch Arbeit erwirtschaften müsse. Daraufhin sei er freigelassen worden. Es sei angekündigt worden, dass man ihn finden werde, wenn man ihn brauche. Aufgrund dieser Ereignisse und aus Angst vor weiterer Verfolgung seien die Kläger im September 2015 aus der Russische Föderation geflohen.

Mit Bescheid vom 20. April 2017, den Klägern zugestellt am 24. April 2017, lehnte das Bundesamt die Anträge der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nummer 1), Asylanerkennung (Nummer 2) und Gewährung subsidiären Schutzes (Nummer 3) ab. Weiter stellte das Bundesamt fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Nummer 4). Das Bundesamt forderte die Kläger dazu auf, die Bundesrepublik Deutschland für den Fall der Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen und drohte die Abschiebung in die Russische Föderation oder einen anderen Staat an, in den die Kläger einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist (Nummer 5). Schließlich verfügte das Bundesamt ein auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot (Nummer 6).

Hiergegen haben die Kläger am 8. Mai 2017 Klage erhoben. Zur Begründung vertiefen sie ihre Ausführungen beim Bundesamt und führen ergänzend aus, dass den Klägern zu 1. und 3. für den Fall der Rückkehr in die Russische Föderation die Einziehung zum russischen Militär und die ungewollte Teilnahme an dem völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine drohe.

Die Kläger beantragen schriftsätzlich,

die Beklagte unter Aufhebung der Nummern 1, 3, 4, 5 und 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. April 2017 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise subsidiären Schutz zu gewähren,

höchst hilfsweise festzustellen, dass die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Aufenthaltsgesetz vorliegen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen

und nimmt zur Begründung Bezug auf ihre Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid.

Die Kammer hat den Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom 2. August 2021 auf den Einzelrichter als Berichterstatter zur Entscheidung übertragen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Entscheidung ergeht durch den Berichterstatter als Einzelrichter (vgl. § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes [AsylG]) und im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (vgl. § 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO]).

Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, jedoch unbegründet.

Die Kläger haben in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung weder einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG noch auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG. Weiter haben sie auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG), § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Auch die gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 59 Abs. 1 AufenthG verfügte Abschiebungsandrohung, die nach § 59 Abs. 1 AufenthG i. V. m. § 38 Abs. 1 AsylG erlassene Ausreiseaufforderung als auch das gemäß § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG ergangene Einreise- und Aufenthaltsverbot begegnen keinen rechtlichen Bedenken und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Die Kläger haben keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG.

Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling ist und keiner der dort aufgeführten Ausschlussgründe vorliegt.

Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (GFK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die (1.) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist, oder (2.) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist.

Diese Legaldefinition der Verfolgungshandlung erfährt in § 3a Abs. 2 AsylG eine Ausgestaltung durch einen nicht abschließenden Katalog von Regelbeispielen. Danach kann die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (Nr. 1) ebenso wie eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (Nr. 2) ausreichen. Gleiches gilt bei Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (Nr. 5). Die Annahme einer Verfolgungshandlung setzt einen gezielten Eingriff in ein flüchtlingsrechtlich geschütztes Rechtsgut voraus (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 31/18 - juris, Rn. 12).

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (siehe zu diesem Maßstab im Einzelnen: BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 31/18 - juris, Rn. 16 ff.).

In Anwendung dieses Maßstabs kann dahinstehen, ob die Kläger in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ausreise in dem nach §§ 3 Abs. 1, 3a Abs. 1 AsylG erforderlichen Ausmaß verfolgt wurden. Denn ihnen steht nach Maßgabe der nachfolgenden Ausführungen jedenfalls eine inländische Fluchtalternative nach § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung.

Gemäß § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2). Nach § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG sind bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind gemäß § 3e Abs. 2 Satz 2 AsylG genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen.

Nach diesen Maßgaben besteht im Falle des Klägers zu 1. und damit erst recht im Falle der Kläger zu 2. bis 6. außerhalb Tschetscheniens keine begründete Furcht vor Verfolgung (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG).

Zwar ist es für russische und tschetschenische Behörden möglich, eine Person aufzufinden und zurück in den Nordkaukasus zu bringen, wenn sie offiziell von der Polizei gesucht wird (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 3. Februar 2023, Seite 53). Am 20. Januar 2022 etwa haben Männer, die dem Sicherheitsapparat des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow zuzurechnen sind, die Frau des Richters Sajdi Jangulbajew aus dem 400 Kilometer östlich von Moskau gelegenen Nischni Nowgorod nach Tschetschenien verschleppt, wo sie anschließend inhaftiert wurde. Kadyrow verdächtigt zwei Söhne Jangulbajews, hinter einem regimekritischen Telegram-Kanal namens „1ADAT“ zu stehen. Die übrigen Mitglieder der Kernfamilie des Richters sind alle ins Ausland geflohen. Kadyrow droht, sie auch dort zu finden und zu „vernichten“ (vgl. https://www.faz.net/aktuell/politik/tschetschenien-ausser-kontrolle-kadyrows-blutrache-und-putins-schweigen-17779611.html, 4. Febr. 2022).

Die Tschetschenische Republik ist offiziell Teil der Russischen Föderation. Obwohl Kadyrow die Polizei, die Sicherheitsbehörden und die Gerichte mit seinen eigenen Anhängern dicht besetzt hat, damit ihm ihre tatsächliche Macht zur Verfügung steht, so sind sie auch mit dem restlichen Machtapparat der Russischen Föderation verbunden. Dadurch können die tschetschenische Abteilung des FSB, der örtliche Ermittlungsausschuss und die Staatsanwaltschaft sowie das MVD und andere Behörden auf die Daten ihrer Amtskollegen landesweit zugreifen. Dies erstreckt sich auf die Ausstellung von Haftbefehlen und das Setzen von "Überwachungsvermerken" und ähnlichen Markierungen in nationale Datenbanken (einschließlich derjenigen, die zum Prüfen der Identitätsdokumente bei Ein- und Ausreise verwendet werden), mit der Erwartung, dass sie vollstreckt werden. Tatsächlich vollstrecken die Gerichte und die Polizei in Russland in Tschetschenien ausgestellte, rechtskräftige Haftbefehle, was normalerweise zur Rückführung nach Tschetschenien für das Gerichtsverfahren oder das Verbüßen einer Strafe führt (vgl. Galeotti, Lizenz zum Töten? Das Risiko für Tschetschenen innerhalb Russlands, Juni 2019, Seite 6).

Wie bereits aufgezeigt, fallen Ermittlungen wegen terroristischer Aktivitäten, der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung oder logistischer Unterstützung von Aufständischen innerhalb der Russischen Föderation in die Zuständigkeit des FSB, bei Bezügen zu militärischen Interessen auch in die Zuständigkeit des Militärnachrichtendienstes. In Tschetschenien ist hingegen die Verantwortlichkeit für die Eindämmung terroristischer Aktivitäten weitgehend auf die Sicherheitsbehörden der Teilrepublik übertragen worden. Die tschetschenische Außenstelle des föderalen FSB ist nur selten in Einsätze im Zusammenhang mit Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung eingebunden. In der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle werden derartige Operationen durch die tschetschenische Polizei oder paramilitärische Sondereinsatzkräfte durchgeführt, die sich fast ausschließlich aus tschetschenischen Volkszugehörigen rekrutieren. Eine koordinierte Zusammenarbeit zwischen tschetschenischen Sicherheitskräften und föderalen Behörden ist regelmäßig nicht zu verzeichnen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 3. Februar 2023, Seite 24-25 und 97; http://government.ru/en/department/113/).

Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen lassen. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, können Untergetauchte durch eine Vermisstenanzeige ausfindig gemacht werden. Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich daher häufig auch in russischen Großstädten vor dem „langen Arm“ des Regimes von Ramsan Kadyrow nicht sicher (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 28. September 2022, Seite 17).

Es kann zudem sein, dass die tschetschenischen Behörden nicht auf den vorbezeichneten, offiziellen Weg zurückgreifen, da diese Vorgehensweise eine schlüssige Begründung erfordert und häufig lange dauert. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind nach Aussagen von Nichtregierungsorganisationen (NGO‘s) etwa auch in Moskau präsent. Verhaftungen durch tschetschenische Gesetzeshüter, die straffrei russlandweit operieren, und inoffizielle Überstellungen nach Tschetschenien sind gleichwohl weniger üblich. NGO‘s berichten jedoch von Einzelfällen aus Tschetschenien, in denen entweder die Familien der Betroffenen oder tschetschenische Behörden Flüchtende in andere Landesteile verfolgten, sowie von LGBTI-Personen (Lesbian, Gay, Bisexual, Transexuell/Transgender und Intersexual), die gegen ihren Willen von einem innerstaatlichen Zufluchtsort nach Tschetschenien zurückgeholt und dort Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden seien. Solche Fälle betrafen in mehreren Fällen, über die NGO‘s sowie unabhängige Journalisten berichteten, neben LGBTI-Personenauch Oppositionelle und Regimekritiker, darunter ehemalige Kämpfer und Anhänger der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung. Morde wiederum, die auf Kadyrows Anweisungen oder eigeninitiativ innerhalb der Grenzen Russlands erfolgten, betrafen keine kleinformatigen Ziele, sondern seriöse politische Figuren, die mit Kadyrow selbst in Konflikt geraten waren, wie etwa Oppositionspolitiker, Clan-Machthaber oder Menschenrechtsaktivisten (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 28. September 2022, Seite 17; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 3. Februar 2023, Seite 24-25 und 97; Galeotti, Lizenz zum Töten? Das Risiko für Tschetschenen innerhalb Russlands, Juni 2019, Seite 2, 12 und 16).

Trotz der Rolle nationaler Datenbanken und Registrierungsgesetze, die eine Rückverfolgung von Personen ermöglichen, besteht für betroffene Personen ein gewisser Spielraum, Anonymität und Sicherheit in Russland zu finden, allerdings abhängig von den spezifischen Umständen. Die russischen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden sind gerade vor dem Hintergrund der schlechten Beziehungen zwischen den tschetschenischen Machtstrukturen und denen ihrer Nachbarn sowie den gesamtrussischen Behörden in Moskau im Allgemeinen oft nicht bereit, als tschetschenische Vollstrecker aufzutreten, da sie oft skeptisch gegenüber Forderungen aus Grosny sind. Die föderalen Sicherheitsbehörden machen einen deutlichen Unterschied zwischen der Behandlung von Personen, die wegen Verbrechen in Tschetschenien gerichtlich verurteilt wurden, aufgrund einer klaren Beweislage einer schwerwiegenden, insbesondere politischen Straftat verdächtigt werden oder etwa der organisierten Kriminalität zuzuordnen sind und von jenen, welchen nur vorgeworfen wird, Verbrechen begangen zu haben, bzw. tschetschenienrelevanten Polizeifällen, die nicht schwerwiegend genug sind, um von Staatsanwälten oder dem FSB übernommen zu werden. Insofern ist es eher unwahrscheinlich, dass ein Tschetschene, der von Tschetschenien aus verfolgt wird, anderswo in Russland aktiv misshandelt wird, wenn nicht bereits ein Gerichtsurteil ergangen ist oder andere Behörden - im Wesentlichen der Inlandsgeheimdienst FSB, Generalstaatsanwaltschaft, Untersuchungskommission - davon überzeugt sind, dass ein substanzielles politisches Fehlverhalten oder ein Fall von organisierter Kriminalität vorliegt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 28. September 2022, Seite 17; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 3. Februar 2023, Seite 24-25 und 97; Galeotti, Lizenz zum Töten? Das Risiko für Tschetschenen innerhalb Russlands, Juni 2019, Seite 11 und 12).

Hinsichtlich der Frage, in welchen Fällen ein derartiges besonderes Verfolgungsinteresse besteht, folgt das Gericht den überzeugenden Darlegungen des Historikers und Leiters des Zentrums für Europäische Sicherheit in Prag Mark Galeotti in seinem im Juni 2019 veröffentlichten Gutachten Lizenz zum Töten? Das Risiko für Tschetschenen innerhalb Russlands“. Seiner Recherche zufolge seien die Feinde von Ramsan Kadyrow sowohl in der Russischen Föderation wie auch außerhalb des Landes mit Gewalt oder Einschüchterung konfrontiert, und sein Sicherheitsapparat und seine Elite würden gleichermaßen über beträchtliche, wenn auch geringere, Mittel und Freiheit, um jede beliebige Person zu verfolgen, verfügen. Zwar erstrecke sich dies auch zu einem bestimmten Grad über die Grenzen Tschetscheniens hinweg auf den Rest der Russischen Föderation, aber weitverbreitete Annahmen über die Straffreiheit, mit der sie operieren und ihre Fähigkeit, jede beliebige Person zu finden und ins Visier zu nehmen, seien bei genauer Betrachtung stark vereinfacht. So würden nicht alle tschetschenienrelevanten Fälle in den nationalen Datenbanken landen. Zudem gäbe es einen klaren Unterschied zwischen der Behandlung von Personen, die in Tschetschenien wegen einer Straftat verurteilt wurden, und denen, die derer nur beschuldigt werden (vgl. Galeotti, Lizenz zum Töten? Das Risiko für Tschetschenen innerhalb Russlands, Juni 2019, Seite 2-3, 7 und 10).

Galeotti differenziert hinsichtlich des Verfolgungsrisikos zwischen folgenden vier „Risikovarianten“:

„Personen, die persönlich im Visier von Kadyrow oder einem seiner höheren tschetschenischen Beamten sind, ob durch offizielle Kanäle oder nicht, können anderswo in Russland und auch außerhalb des Landes als bedroht angesehen werden, zumindest bis eine Lösung des Streits erreicht worden ist. Wenn sie aufgespürt werden, steht ihnen die glaubhafte Androhung von Gewalt bis hin zu und einschließlich der Ermordung bevor, und offizielle Anklagen sind auch möglich. (...)

Personen, die wegen einer Straftat verurteilt wurden oder die glaubhaft verdächtigt werden, ein Terrorist oder aktiver Unterstützer des Terrorismus zu sein, werden voraussichtlich innerhalb der gesamten Russischen Föderation gesucht. Wenn sie aufgespürt werden, ist ihre Verhaftung und Rückführung nach Tschetschenien wahrscheinlich. (...)

Personen, die offiziell einer Straftat angeklagt sind, aber nicht verurteilt wurden, werden zwar vermutlich innerhalb der Russischen Föderation gesucht, sind aber wahrscheinlich nicht der Gegenstand einer aktiven Suche seitens der tschetschenischen oder anderer russischer Behörden, sofern die Anklage nicht schwerwiegend genug ist, um die Aufmerksamkeit des Föderalen Sicherheitsdienstes oder eines Ermittlungsausschusses zu verdienen. Allerdings, falls und wenn sie von den Behörden beispielsweise durch Passkontrollen oder Wohnsitzregistrierung entdeckt werden, können sie verhaftet werden, oder die Behörden, die nach ihnen suchen, werden zumindest auf ihren Aufenthaltsort aufmerksam. Ersucht Grosny dann um ihre Verhaftung und Rückführung zurück nach Tschetschenien, so wird dem in der Regel entsprochen. (...)

Sonstige Personen, die die tschetschenischen Behörden oder Gruppen sowie Personen, die inoffiziell für sie arbeiten, verärgert haben, werden wesentlich weniger klar bedroht. Abhängig von der Art des Streits und der Position der Verfolger ist es möglich, dass sie ausfindig gemacht werden, entweder zum Zwecke der Einschüchterung oder Gewalt, oder der Verhaftung. Der Konsens zwischen den Quellen und den vorhandenen Beweisen lässt jedoch vermuten, dass dies unwahrscheinlich ist, sofern es sich nicht um größere Schulden oder andere Finanzbeteiligungen handelt. Diese Personen werden nicht sicher wieder nach Tschetschenien zurückkehren können, bis dieser Streit beigelegt ist, und ihre Familie und ihr Vermögen in Tschetschenien könnte in Gefahr sein. Darüber hinaus können sie aber wahrscheinlich unbehelligt leben, falls sie nicht ihre Verfolger direkt bedrohen oder herausfordern oder in ihrer Angelegenheit anderweitig Druck machen, oder falls die Verfolger nicht willens und in der Lage sind, die Angelegenheit zumindest auf eine halboffizielle Ebene zu eskalieren (wie die Verwendung des tschetschenischen Föderalen Sicherheitsdienstes, um einen Beobachtungsvermerk in ihre Akte zu setzen). Es ist natürlich oft schwer zu ermessen, ob diese Umstände auftreten werden oder nicht (...)“

Nach diesen Maßgaben besteht im Falle des Klägers zu 1. und damit erst recht im Falle der Kläger zu 2. bis 6. weder ein eigenes, landesweites Verfolgungsinteresse föderaler Sicherheitsbehörden noch existieren konkrete Anhaltspunkte dafür, dass seitens der tschetschenischen Sicherheitsbehörden ein derart großes Verfolgungsinteresse besteht, dass diese mit hinreichender Aussicht auf Erfolg eine Festnahme und offizielle Überstellung durch die föderalen oder lokalen Behörden in der übrigen Russischen Föderation bewirken können oder dass die tschetschenischen Sicherheitsbehörden zu einem inoffiziellen Tätigwerden außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs verleiten kann.

Im Einzelnen:

Von einem aus Sicht der föderalen Sicherheitsbehörden bestehenden Interesse, den Kläger zu 1. in anderen Teilen der Russischen Föderation festzunehmen, ist nicht auszugehen. Die Ausführungen der Kläger lassen bereits keine Verfolgung durch eine regionale Stelle des FSB oder andere föderale Behörden erkennen. Vielmehr deuten ihre Ausführungen auf örtliche tschetschenische Sicherheitsbehörden hin. Unabhängig davon ist es auch unwahrscheinlich, dass der Kläger zu 1. nunmehr in anderen Teilen der Russischen Föderation mit Festnahmen durch föderale Behörden zu rechnen hat, denn er ist weder ein bekannter, hochrangiger noch in die Begehung oder Planung schwerwiegender Straftaten eingebundener Separatist oder Islamist, an dem eine föderale Behörde der Russischen Föderation landesweit ein besonderes Verfolgungsinteresse haben könnte (dazu sogleich im Einzelnen).

Mangels Verfolgungsinteresse, geschweige denn besonderem Verfolgungsinteresse, ist auch nicht damit zu rechnen, dass die föderalen oder lokalen russischen Behörden den Kläger zu 1. auf Ersuchen der tschetschenischen Sicherheitsbehörden festnehmen und anschließend nach Tschetschenien überstellen werden oder dass es zu inoffiziellen Festnahmen oder Übergriffen durch tschetschenische Kräfte außerhalb Tschetscheniens kommen wird.

Dafür, dass der Kläger zu 1. persönlich ins Visier von Kadyrow geraten ist, und aus diesem Grunde aus der Russischen Föderation ausgereist ist, sind Tatsachen weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Des Weiteren ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass der Kläger zu 1. bereits wegen einer Straftat verurteilt wurde und die Strafe noch nicht angetreten hat.

Wie soeben bereits im Ansatz ausgeführt, gehört der Kläger zu 1. auch nicht zur Gruppe der Personen, die besonders gefährdet sind, weil sie glaubhaft verdächtigt werden, selbst Terroristen oder aktive Unterstützer des Terrorismus zu sein. Den Ausführungen der Kläger zufolge wurde der Kläger zu 1. zwar wiederholt mitgenommen und daraufhin geschlagen, gefoltert, verhört, erpresst und bedroht. Zudem wurde ihm unterstellt, Separatisten zu unterstützen. Dies reicht für die Annahme eines landesweiten Verfolgungsinteresses jedoch nicht aus. Denn dem Kläger zu 1. wurden durch eine klare Beweislage gestützte, stichhaltige Anschuldigungen, dass er selbst Kämpfer oder jedenfalls Anhänger des Separatismus bzw. Islamismus ist oder als Täter oder Teilnehmer in die Begehung oder Planung schwerwiegenden Straftat involviert ist, gerade nicht gemacht. Der Kläger zu 1. hat zudem beim Bundesamt als auch während des Gerichtsverfahrens zum Ausdruck gebracht, dass er weder unmittelbar vor der Ausreise in separatistische oder radikal-islamistische Tätigkeiten eingebunden gewesen ist noch gegenwärtig solchen exilpolitisch nachgehe würde.

Dem Vortrag des Klägers zu 1. ist auch nicht zu entnehmen, dass er einer Straftat angeklagt ist, aber noch nicht verurteilt wurde. Der Erlass eines Haftbefehls ist ebenfalls weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Auch ist weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass der Kläger zu 1. zur Fahndung in Tschetschenien oder in anderen Teilen der Russischen Föderation ausgeschrieben ist.

Der Kläger zu 1. hat außerdem auch nicht angegeben, eine prominente Persönlichkeit oder ein bekannter oder hochrangiger Gegner von Kadyrow zu sein. Er gehört nach seinem eigenen Vortrag weder dem LGBTI-Personenkreis noch dem Kreis der exponierten, aktiven und öffentlich wahrnehmbaren Oppositionellen, Regimekritiker, Menschenrechtsaktivisten oder Clan-Machthaber an. Ein anderweitiges, aus Sicht der Sicherheitsbehörden substanzielles politisches Fehlverhalten oder ein Fall von organisierter Kriminalität sind ebenfalls nicht ersichtlich.

Dass der Kläger zu 1. größere, unbezahlte Schulden bei den tschetschenischen Machthabern hat oder ein sonstiges, herausragendes Geschäftsinteresse an der Ergreifung des Klägers zu 1. besteht, ist ebenfalls weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Die Glaubwürdigkeit der Kläger und die Glaubhaftigkeit ihres Vortrags unterstellt, ist mithin nicht davon auszugehen, dass die Kläger vor dem Hintergrund ihrer Ausreisegründe bei einer Rückkehr in eine andere als ihre Heimatregion von staatlichen Akteuren verfolgt werden. Vielmehr gehören die Kläger zu den Personen, die zumindest außerhalb Tschetscheniens wahrscheinlich unbehelligt leben können, falls sie nicht - wofür nichts vorgetragen oder ersichtlich ist - ihre Verfolger direkt bedrohen oder herausfordern.

Es ist nach der derzeitigen Erkenntnislage zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger zu 1. und 3. bei einer Rückkehr in die Russische Föderation außerhalb Tschetscheniens mit einer Einziehung zum Militärdienst und anschließender Teilnahme an dem völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine rechnen müssen.

Eine Einberufung der Kläger zu 1. und 3. ist weder mit Blick auf die in der Russischen Föderation ausgerufene Teilmobilmachung noch aufgrund einer bestehenden Wehrpflicht beachtlich wahrscheinlich.

Der russische Präsident erließ am 21. September 2022 ein entsprechendes Dekret, in dem er die Teilmobilmachung in der Russischen Föderation ausrief. Nr. 2 des Dekrets besagt, dass Bürger der Russischen Föderation zum Militärdienst im Rahmen der Mobilmachung einberufen werden.

Gemäß Art. 17 Nr. 2 des Mobilmachungsvorbereitungs- und Durchführungsgesetzes (Nr. 31-FS vom 26. Februar 1997) der Russischen Föderation sind im Rahmen einer Mobilmachung grundsätzlich solche Personen zum Dienst an der Waffe einzuberufen, die sich in Reserve befinden und keinen Anspruch auf die Zurückstellung vom Wehrdienst bei einer Mobilisierung haben (vgl. Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen des BMI vom 30. November 2022 zur Aktualisierung der HKL-Leitsätze des BAMF, Teilmobilmachung/Wehrpflicht in der Russischen Föderation, 10. Februar 2023, Seite 2).

Der Präsidentenerlass über die Verkündung der Teilmobilisierung soll unter der Berücksichtigung der Vorschriften aus dem o. g. Gesetz Nr. 31-FS vom 26. Februar 1997 angewendet werden. Somit unterliegen nach den Rechtsvorschriften ausschließlich Reservisten der Teilmobilmachung (vgl. Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen des BMI vom 30. November 2022 zur Aktualisierung der HKL-Leitsätze des BAMF, Teilmobilmachung/Wehrpflicht in der Russischen Föderation, 10. Februar 2023, Seite 2).

Nach Art. 51.2 des föderalen Gesetzes vom 28. März 1998 über die Wehrpflicht und den Militärdienst besteht die Reserve zu einem Teil aus den inaktiven Reservisten und zum anderen Teil aus der aktiven Reserve, deren Angehörige sich auf Grundlage eines Vertrages zu militärischem Training verpflichtet haben. Art. 52 Abs. 1 dieses Gesetzes zählt im Einzelnen auf, aus welchen Bürgern sich die Reserve der Streitkräfte der Russischen Föderation zusammensetzt.

Der Kläger zu 1. unterfällt als ungedienter ehemaliger Wehrpflichtiger Art. 52 Abs. 1 Unterabs. 7, nach dem Personen, die den Wehrdienst ohne rechtlichen Grund nicht abgeleistet haben, bei Erreichen des 27. Lebensjahres zur Reserve gehören.

Der Kläger zu 3. unterfällt als Wehrdienstpflichtiger, der noch keinen Wehrdienst geleistet hat, nicht der Norm. Demgemäß ist er nicht von dem Dekret des Präsidenten der Russischen Föderation vom 21. September 2022 erfasst.

Auch wenn damit formal betrachtet die Einziehung des Klägers zu 1. als Reservisten auf Seiten der russischen Streitkräfte im Rahmen des Angriffskrieges gegen die Ukraine möglich ist und selbst wenn unterstellt wird, dass auch der Kläger zu 3. als Reservist eingezogen werden kann, besitzen bei umfassender Würdigung der einschlägigen Erkenntnisse die gegen eine Einziehung zum Kriegsdienst sprechenden Umstände ein größeres Gewicht und überwiegen die für eine Einberufung sprechenden Tatsachen.

Zwar ist das präsidiale Dekret über die Erklärung der Teilmobilmachung in der Russischen Föderation vom 21. September 2022 bisher nicht offiziell aufgehoben oder anderweitig zurückgenommen worden. Der Erlass enthält zudem keine Angaben zur Anzahl der einzuberufenden Staatsbürger (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 3. Februar 2023, Seite 36; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 9. November 2022, Seite 35).

Des Weiteren ist zu konstatieren, dass der Kreml anfängliche Fehler bei der Umsetzung der Teilmobilmachung einräumte. So wurden Personen einberufen, welche eigentlich formal von der Mobilmachung ausgenommen sind, beispielsweise Krebskranke und Studierende. Außerdem waren auch ethnische Minderheiten aus ärmeren Regionen überproportional von der Mobilmachung betroffen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 3. Februar 2023, Seite 36; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 9. November 2022, Seite 35). Teilweise wurden zwar Personen, die anhand von Dokumenten beweisen konnten, dass sie fälschlich eingezogen wurden, freigelassen. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass ein Teil der zu Unrecht mobilisierten Männer dennoch in die Ukraine geschickt wurde (vgl. The Danish Immigration Service, Country of origin information - Russia - An update on military service since July 2022, 19. Dezember 2022, Seite 16).

Gleichwohl vermeldete der russische Verteidigungsminister Schoigu am 28. Oktober 2022 den Abschluss der Teilmobilmachung, in deren Rahmen 300.000 Reservisten einberufen wurden. Daraufhin verkündete Putin am 1. November 2022 das Ende der am 21. September 2022 ausgerufenen Teilmobilmachung (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 3. Februar 2023, Seite 36). Teilweise heißt es, dass nach offiziellen Angaben sogar 318.000 Reservisten eingezogen wurden (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell - Der Angriff auf die Ukraine und die Militarisierung der russischen Außen- und Innenpolitik, 7. Dezember 2022, Seite 4).

Es liegen auch keine belastbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass trotz Verkündung des Endes der Teilmobilisierung weiterhin außerhalb Tschetscheniens eine Massenmobilisierung stattfindet und Reservisten flächendeckend in einem Ausmaß verdeckt rekrutiert werden, welches im Falle der Kläger zu 1. und 3. eine Einberufung zum Kriegsdienst beim russischen Militär beachtlich wahrscheinlich macht (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 3. Februar 2023, Seite 36; Danish Immigration Service, Country of origin information - Russia - An update on military service since July 2022, 19. Dezember 2022, Seite 13; European Union Agency for Asylum, The Russian Federation - Military service, 16. Dezember 2022, Seite 27-28; Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell - Der Angriff auf die Ukraine und die Militarisierung der russischen Außen- und Innenpolitik, 7. Dezember 2022, Seite 5).

Zum derzeitigen Zeitpunkt kann eine weitere Massenmobilisierung für die Zukunft zwar nicht ausgeschlossen werden.

Es existierten und existieren Prognosen des ukrainischen Generalstabs und Spekulationen weiterer Quellen über eine zweite und möglicherweise eine dritte Mobilisierungswelle, um getötete, verwundete, desertierte und gefangene Männer zu ersetzen (vgl. The Danish Immigration Service, Country of origin information - Russia - An update on military service since July 2022, 19. Dezember 2022, Seite 12). Zudem hat das russische Parlament am 11. April 2023 beschlossen, dass künftig Einberufungsbescheide für Wehrpflichtige und Reservisten nicht mehr persönlich überreicht, sondern auf elektronischem Weg zugestellt werden können, es ab dem Zeitpunkt der Zustellung online erfassten Wehrpflichtigen und Reservisten verboten ist, das Staatsgebiet zu verlassen, und den Vorgeladenen ein Zeitraum von 20 Tagen ab dem jeweiligen Zustellungsdatum zur Verfügung steht, sich zu stellen, andernfalls drastische Rechtsbeschränkungen, Bußgelder und Strafen verhängt werden können (vgl. Artikel mit dem Titel „Moskau erhöht Druck auf Wehrpflichtige“, erschienen am 12. April 2023 in der Süddeutschen Zeitung; Artikel mit dem Titel „Confusion and Indifference but No Panic as Russia Tightens Draft Rules“, erschienen am 14. April 2023 in der Zeitung The Moscow Times; Artikel mit dem Titel „Ukraine war: Russian parliament approves online call-up“, erschienen am 12. April 2023 bei BBC; Artikel mit dem Titel „Russia Moves to Make Draft Evasion More Difficult“, erschienen am 12. April 2023 in der Zeitung The New York Times; Artikel mit dem Titel „Es ist unmöglich, eine Vorladung nicht zu erhalten. Staatsduma beschließt neue Wehrpflichtbestimmungen“, erschienen auf dem Online-Medium zona.media am 11. April 2023; Artikel mit dem Titel „Die Behörden haben beschlossen, die Ausreise aus Russland für diejenigen zu sperren, die nicht kämpfen wollen. Vorladungen werden über den staatlichen Dienst verschickt. Und Ausreißer werden ihrer Rechte beraubt. Was kann man tun, um nicht an die Front zu gehen? Militärjurist antwortet“, erschienen in der Internetzeitung Meduza am 11. April 2023, übersetzt mit deepl.com).

Gleichwohl fehlt es insoweit an einer hinreichend belastbaren Tatsachengrundlage. So ist es entgegen der Prognosen weder Ende 2022 noch 2023 und insbesondere auch nicht in den Folgetagen der jüngsten Gesetzesänderung zu einer zweiten Mobilisierungswelle gekommen. Zudem wird in den Erkenntnismitteln in Frage gestellt, ob sich bei einer neuen Einberufungswelle die Probleme der hastig und vielfach improvisierten ersten Mobilmachungsrunde überhaupt überwinden ließen. Denn es würden die organisatorischen und personellen Grundlagen, also Trainingseinrichtungen und Ausbilder, für eine längere Ausbildung der Reservisten fehlen oder sie seien durch den Kriegseinsatz gebunden (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell - Der Angriff auf die Ukraine und die Militarisierung der russischen Außen- und Innenpolitik, 7. Dezember 2022, Seite 5). Damit ist auch die tatsächliche Umsetzbarkeit einer weiteren Massenmobilisierung vor dem Hintergrund der dann notwendig werdenden Ausbildung, Ausrüstung und Unterbringung einer Vielzahl weiterer Rekruten fraglich. Unabhängig davon ist zu berücksichtigen, dass aus den einschlägigen Erkenntnismitteln nicht folgt, dass bereits alle im Zuge der Teilmobilmachung eingezogenen Reservisten in die Ukraine entsandt worden sind (vgl. Danish Immigration Service, Country of origin information - Russia - An update on military service since July 2022, 19. Dezember 2022, Seite 12; European Union Agency for Asylum, The Russian Federation - Military service, 16. Dezember 2022, Seite 27).

Unabhängig davon wäre es auch bei einer weiteren Mobilisierungswelle nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger zu 1. und 3. zu den Personen gehören würden, die hiervon betroffen wären. Bereits bei Vergleich der Anzahl der ca. 25 Millionen russischen Reservisten einerseits und der Anzahl der potentiell noch zu mobilisierenden Personen, die je nach Quelle auf bis zu mehrere Hunderttausend Rekruten geschätzt wird, ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass gerade die Kläger zu 1. und 3. von einer Einziehung betroffen wären. Auch wenn zu Gunsten der Kläger zu 1. und 3. angenommen wird, dass eine Million Männer rekrutiert werden würden, so läge die reine mathematische Wahrscheinlichkeit der Rekrutierung bei den Klägern zu 1. und 3. jeweils bei gerade mal 4 %. Die Wahrscheinlichkeit der Einziehung ist auch vor dem Hintergrund gering, dass die Kläger zu 1. und 3. bisher nicht in den Streitkräften gedient und weder über ein abgeschlossenes Studium an einer militärischen Hochschule noch über militärische Erfahrung, geschweige denn eine militärische Spezialausbildung verfügen.

Es ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger zu 1. und 3. bei Rückkehr in die Russische Föderation außerhalb Tschetscheniens im Rahmen des Wehrdienstes zu einem Einsatz in der Ukraine herangezogen werden.

Der Kläger zu 1. unterfällt als 44-Jähriger bereits nicht mehr der regulären Wehrpflicht, die gemäß Art. 22 Abs. 1 a) des föderalen Gesetzes vom 28. März 1998 über die Wehrpflicht und den Militärdienst für männliche russische Staatsbürger im Alter zwischen 18 und 27 Jahren gilt (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 3. Februar 2023, Seite 33-34). Bereits vor diesem Hintergrund ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass er bei Rückkehr in die Russische Föderation in einer Region außerhalb Tschetscheniens im Rahmen des Wehrdienstes zu einem Einsatz in der Ukraine herangezogen wird.

Der Kläger zu 3. unterfällt zwar der regulären Wehrpflicht.

Es ist aber nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger zu 3. - sofern er überhaupt zum Wehrdienst herangezogen werden sollte - in der Ukraine eingesetzt wird.

Zu berücksichtigen ist, dass von den jährlich ca. 1,2 Millionen der Wehrpflicht unterfallenden Männern lediglich die Hälfte die Aufforderung erhält, sich bei den örtlichen Einberufungsämtern zum Zwecke der Musterung zu melden (vgl. Danish Immigration Service, Country of origin information - Russia - An update on military service since July 2022, 19. Dezember 2022, Seite 17; European Union Agency for Asylum, The Russian Federation - Military service, 16. Dezember 2022, Seite 15).

Soweit die Prozessbevollmächtigten der Kläger mit Schriftsatz vom 24. November 2022 ein Schriftstück in russischer Sprache samt Übersetzung vorgelegt und dieses ohne weitere Kommentierung „als Einberufungsbefehl für den Kläger zu 3.“ bezeichnet haben, so ist das Gericht davon überzeugt, dass das Schriftstück nicht echt ist. Denn dieses sieht vor, dass der Kläger zu 3. sich am 1. November 2022 beim Militärkommissariat zu melden hat, der Einberufungsbefehl also an einem Tag vor dem 1. November 2022 erlassen worden sein muss. In der am 2. November 2022 stattgefundenen mündlichen Verhandlung hat der Kläger zu 3. den Einberufungsbefehl hingegen mit keinem Wort erwähnt. Es ist auch nicht substantiiert vorgetragen, wann und wem der Einberufungsbefehl zugestellt worden sein soll. Zudem ist auf dem Einberufungsbefehl in der oberen rechten Ecke die Zahl 2004 zu sehen, die augenscheinlich nicht auf der ebenfalls eingereichten Übersetzung enthalten ist. Des Weiteren macht das Schriftstück den Eindruck des Scans einer Schwarzweißkopie und nicht des Scans eines Originals. Schließlich enthält der Einberufungsbescheid keine mit einem Datum des Empfangs versehene Erklärung, dass der Adressat darüber in Kenntnis gesetzt wurde, dass, wann und wo er sich einzufinden hat (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation - Russische Föderation - Muster für einen Einberufungsbefehl, 7. September 2022). Diesen Einwänden, die den Prozessbevollmächtigten der Kläger bereits mit gerichtlichem Schreiben vom 6. Dezember 2022 mitgeteilt wurden, sind sie bis zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht, geschweige denn mit Substanz entgegengetreten. Unabhängig davon ist weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich, warum das Original des Einberufungsbefehls, obwohl es vor über fünf Monaten ausgestellt worden sein soll, bis zum Entscheidungszeitpunkt nicht an den Kläger zu 3. postalisch versandt und dem Gericht vorgelegt wurde.

Selbst wenn zu Gunsten des Klägers zu 3. unterstellt wird, dass er zur Musterung geladen wurde, ist zu berücksichtigen, dass von den Wehrpflichtigen nur jeder Vierte bis Fünfte tatsächlich eingezogen wird. So wurden im Jahr 2019 insgesamt 267.000 Personen, im Jahr 2020 insgesamt 263.000 Personen, im Jahr 2021 insgesamt 261.000 Personen und Jahr 2022 insgesamt 254.500 Personen einberufen (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zur Russische Föderation vom 16. Mai 2022, [a-11873-2], Seite 4-9; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 3. Februar 2023, Seite 34).

Jedenfalls ist zu berücksichtigen, dass Grundwehrdienstleistende grundsätzlich nicht zu den Reservisten gehören (Art. 52, 53 des föderalen Gesetzes vom 28. März 1998 über die Wehrpflicht und den Militärdienst) und damit nicht für den Kriegsdienst vorgesehen sind. In diesem Sinne haben sich auch Staatspräsident Putin und Verteidigungsminister Shoigu bei mehreren Gelegenheiten im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine geäußert. Das in den besetzten ukrainischen Gebieten eingesetzte russische militärische Personal soll sich vielmehr im Grundsatz aus drei Gruppen zusammensetzen: (1) „Vertragssoldaten" (sog. „kontraktniki"), (2) im Rahmen der Teilmobilmachung eingezogene Reservisten sowie (3) Freiwillige (vgl. Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen des BMI vom 30. November 2022 zur Aktualisierung der HKL-Leitsätze des BAMF, Teilmobilmachung/Wehrpflicht in der Russischen Föderation, 10. Februar 2023, Seite 2).

In rechtlicher Hinsicht ermöglicht zwar Art. 2 Abs. 3 des Präsidialdekretes Nr. 1237 vom 16. September 1999 über „Fragen des Militärdienstes", dass Grundwehrdienstleistende „zur Erfüllung von Aufgaben in bewaffneten Konflikten“ eingesetzt werden können, nachdem sie einen mindestens viermonatigen Wehrdienst und eine Ausbildung in ihrer militärischen Spezialisierung absolviert haben (vgl. Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen des BMI vom 30. November 2022 zur Aktualisierung der HKL-Leitsätze des BAMF, Teilmobilmachung/Wehrpflicht in der Russischen Föderation, 10. Februar 2023, Seite 2-3; European Union Agency for Asylum, The Russian Federation - Military service, 16. Dezember 2022, Seite 37). Auch ist festzustellen, dass direkt nach Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 über zahlreiche Grundwehrdienstleistende berichtet wurde, die nach Gruppierung der russischen Armee in Belarus in den Angriffskrieg gegen die Ukraine befehligt wurden und Wehrdienstleistende an Bord des am 14. April 2022 versenkten Flaggschiffs der russischen Schwarzmeerflotte „Moskva“ gewesen sein sollen. Auch im Juni 2022 sprach der Militärstaatsanwalt des Moskauer und St. Petersburger Militärbezirks von rund 600 ihm bekannten Fällen aus seinem Militärbezirk, in denen Wehrpflichtige gesetzeswidrig in der Ukraine zum Einsatz kamen (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zur Russische Föderation vom 16. Mai 2022, [a-11873-2], Seite 4-9; Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen des BMI vom 30. November 2022 zur Aktualisierung der HKL-Leitsätze des BAMF, Teilmobilmachung/Wehrpflicht in der Russischen Föderation, 10. Februar 2023, Seite 2-3).

Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass Grundwehrdienstleistende weiterhin im Rahmen ihrer Wehrpflicht in der Ukraine und somit für den russischen Angriffskrieg eingesetzt werden (vgl. Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen des BMI vom 30. November 2022 zur Aktualisierung der HKL-Leitsätze des BAMF, Teilmobilmachung/Wehrpflicht in der Russischen Föderation, 10. Februar 2023, Seite 2).

Dies allein genügt jedoch nicht für eine Prognoseentscheidung zu Gunsten des Klägers zu 3. Denn das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 4. Juli 2019 klargestellt, dass ein Gericht das geltende Beweismaß der vollen richterlichen Überzeugung der Prognose beachtlicher Wahrscheinlichkeit unterschreitet, wenn es genügen lässt, dass eine Verfolgungshandlung keineswegs ausgeschlossen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 31/18 - juris, Rn. 24). Seit der Erklärung der Teilmobilmachung am 21. September 2022 und der Annexion ukrainischer Gebiete am 30. September 2022, mithin seit über einem halben Jahr, gibt es nur noch vereinzelte Berichte, dass Wehrpflichtige an die Front gebracht werden. Hinweise, dass Wehrpflichtige in einem über Einzelfälle hinausgehenden Ausmaß an die Front oder in die besetzten Gebiete mit Ausnahme der Krim und der Grenzgebiete entsandt werden, gibt es hingegen gerade nicht (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation vom 3. Februar 2023, Seite 35; Danish Immigration Service, Country of origin information - Russia - An update on military service since July 2022, 19. Dezember 2022, Seite 17; European Union Agency for Asylum, The Russian Federation - Military service, 16. Dezember 2022, Seite 38).

Es ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger zu 3. während eines etwaigen Dienstes als Wehrpflichtiger dazu gezwungen wird, sich als Vertragssoldat zu verpflichten.

Es existieren zwar Medienberichte über die Nötigung von Grundwehrdienstleistenden zum Abschluss eines Vertrags über die „freiwillige" Teilnahme an der sogenannten „Sonderoperation“. Zudem heißt es, dass die Vorgesetzten unter Druck stünden, neues Personal für die sog. „Sonderoperation" zu gewinnen (vgl. Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen des BMI vom 30. November 2022 zur Aktualisierung der HKL-Leitsätze des BAMF, Teilmobilmachung/Wehrpflicht in der Russischen Föderation, 10. Februar 2023, Seite 3; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation vom 3. Februar 2023, Seite 35; Danish Immigration Service, Country of origin information - Russia - An update on military service since July 2022, 19. Dezember 2022, Seite 17-18). Außerdem wurde im Rahmen der zuvor ausgeführten jüngsten Gesetzessänderung vom 11. April 2023 auch beschlossen, dass es in Zukunft möglich ist, sofort einen Vertrag über den Militärdienst zu unterzeichnen, ohne zuvor einen mindestens dreimonatigen Wehrdienst absolvieren zu müssen (vgl. die vorbezeichneten Artikel auf zona.media und Meduza vom 11. April 2023).

In den einschlägigen Erkenntnismitteln liegen jedoch keine belastbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass Wehrdienstleistende in einem über Einzelfälle hinausgehenden Ausmaß zum Abschluss eines Vertrags über die „freiwillige" Teilnahme an der sogenannten „Sonderoperation" genötigt werden, sodass nicht beachtlich wahrscheinlich ist, dass der Kläger zu 3. - abgesehen davon, dass nicht jeder Vertragssoldat in der Ukraine eingesetzt werden dürfte - zu dem Personenkreis gehören wird, der gegen seinen Willen zu einem Vertragssoldat wird. Ein auf dem Gebiet der Wehrpflicht kenntnisreicher Menschenrechtsaktivist berichtete, dass Fälle der Täuschung und/oder des Zwanges bei Vertragsschluss seiner Erfahrung nach im niedrigen zweistelligen Bereich liegen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 3. Februar 2023, Seite 35-36; Danish Immigration Service, Country of origin information - Russia - An update on military service since July 2022, 19. Dezember 2022, Seite 17-18; European Union Agency for Asylum, The Russian Federation - Military service, 16. Dezember 2022, Seite 37-38; Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen des BMI vom 30. November 2022 zur Aktualisierung der HKL-Leitsätze des BAMF, Teilmobilmachung/Wehrpflicht in der Russischen Föderation, 10. Februar 2023, Seite 3).

In jedem Falle ist zu berücksichtigen, dass trotz der jüngsten Verschärfungen des Wehr- und Militärrechts die Möglichkeit, den Wehrdienst durch einen alternativen Zivildienst zu ersetzen, aufrechterhalten geblieben ist (vgl. die vorbezeichneten Artikel auf zona.media und Meduza vom 11. April 2023). Das Recht auf einen zivilen Ersatzdienst (Zivildienst) aus Gewissens-, religiösen oder anderen Gründen wird durch Art. 59 der russischen Verfassung garantiert. Eine gesetzliche Grundlage stellt das Föderale Gesetz über den alternativen Zivildienst dar (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 3. Februar 2023, Seite 40-41). Eine Verweigerung des Wehrdienstes ist damit in der Russischen Föderation von Rechts wegen möglich; Verweigerungen werden tatsächlich jedenfalls bei der Hälfte der Fälle anerkannt (vgl. European Union Agency for Asylum, The Russian Federation - Military service, 16. Dezember 2022, Seite 20-21).

Es ist auch nicht im Ansatz ersichtlich, dass Kadyrow, der in Tschetschenien Kämpfer in einer allgemeinen Atmosphäre des Zwanges und unter Verletzung von Menschenrechtsstandards rekrutiert, selbst Kämpfer landesweit rekrutieren lässt und daher auch auf Personen zugreifen würde, die - wie die Kläger zu 1. und 3. - internen Schutz in anderen Teilen der Russischen Föderation in Anspruch nehmen können (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 3. Februar 2023, Seite 37; Danish Immigration Service, Country of origin information - Russia - An update on military service since July 2022, 19. Dezember 2022, Seite 32-34; European Union Agency for Asylum, The Russian Federation - Military service, 16. Dezember 2022, Seite 47-54).

Der schriftsätzlich am 13. April 2023 gestellte Antrag der Kläger, zu den Fragen, wie die gegenwärtige Situation von Personen zwischen 18 und 27 Jahren aussieht, die noch keinen Wehrdienst geleistet haben (Nr. 1), ob Personen aus dieser Gruppe im Rahmen ihrer Wehrpflicht auch im Krieg in der Ukraine eingesetzt werden (Nr. 2) und ob Personen aus dieser Gruppe im Rahmen ihrer Wehrpflicht dazu gezwungen werden, sich für einen längeren Dienst zu verpflichten (Nr. 3), Beweis zu erheben durch Einholung einer Auskunft des Auswärtigen Amtes oder eine Nichtregierungsorganisation wie Memorial oder der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, ist abzulehnen. Denn die Kläger haben nicht dargetan, inwiefern über die vorhandene Erkenntnislage zu den unter Beweis gestellten Fragen ein spezifischer Aufklärungsbedarf besteht. Zur Begründung des Beweisantrags wird im Wesentlichen nur ausgeführt, dass die in das Verfahren eingeführte Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 10. Februar 2023 nur begrenzt Auskunft über die Situation von Wehrpflichtigen und darüber hinaus keine weiterführenden Auskünfte gebe. Damit bestehe weiterhin Bedarf an einer ausführlichen Auskunft. Zwar ist zu konstatieren, dass zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 2. November 2022 aus Sicht des Gerichts keine ausreichende Erkenntnislage vorlag, um die Frage, ob der Kläger zu 3. als Wehrpflichtiger mit einer Einziehung zum Militärdienst und anschließender Teilnahme an dem völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine rechnen muss, abschließend zu bewerten und daher die Sache vertagt wurde. Gleichwohl liegen dem Gericht nunmehr neben der klägerseits in Bezug genommenen Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 10. Februar 2023 zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt hinreichende Erkenntnismittel, wie insbesondere die umfangreichen Berichte des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 9. November 2022 und 3. Februar 2023, des Danish Immigration Service vom 19. Dezember 2022 und der European Union Agency for Asylum vom 16. Dezember 2022, vor, um die Frage der beachtlichen Wahrscheinlichkeit des Kriegseinsatzes des Klägers zu 3. in der Ukraine zu beurteilen. Diese Erkenntnismittel sind in das Verfahren eingeführt worden. Mit diesen Erkenntnismitteln setzen sich die Kläger in ihrem Beweisantrag nicht, geschweige denn mit Substanz auseinander.

Die Kläger können auch sicher und legal in andere Landesteile reisen. Es ist davon auszugehen, dass sie dort aufgenommen werden (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG).

Tschetschenen, Inguschen und Dagestanern steht, genauso wie allen russischen Staatsbürgern, das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Auch wenn zu konstatieren ist, dass diese Bevölkerungsgruppen oftmals mit Diskriminierung und Korruption bei der behördlichen Anmeldung als auch mit antikaukasischen Stimmungen im Alltag, wie etwa in Form von Erpressung von Bestechungsgeldern oder willkürlichen Identitätskontrollen, rechnen müssen, haben Menschen aus dem Nordkaukasus die Möglichkeit in andere Teile der Russischen Föderation zu reisen und dort zu leben. Es gibt eine weit verbreitete Diaspora innerhalb der Russischen Föderation, die aus natürlicher Migration sowie der Flucht vor zwei Kriegen resultiert, die seit 1991 in Tschetschenien stattgefunden haben sowie die Vermächtnisse vergangener Zwangsumsiedlungen sind. Zwischen 2008 und 2015 haben laut offiziellen Zahlen 150.000 Tschetschenen die autonome Republik verlassen. Sie zogen sowohl in andere Regionen in der Russischen Föderation als auch ins Ausland. Als Gründe für die Abwanderung werden ökonomische, menschenrechtliche und gesundheitliche Gründe genannt. Laut der letzten Volkszählung von 2010 leben die meisten Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens, z.B. in Moskau (über 14.000 Personen), in Inguschetien (knapp 19.000 Personen), in der Region Rostow (über 11.000 Personen), in der Region Stawropol (knapp 12.000 Personen), in Dagestan (über 93.000 Personen), in der Region Wolgograd (knapp 10.000 Personen) und in der Region Astrachan (über 7.000 Personen). Die Zahlen sind aber nicht sehr verlässlich, da bei der Volkszählung ein großer Teil der Bevölkerung die ethnische Zugehörigkeit nicht angab. Beispielsweise soll die tschetschenische Bevölkerung in der Region Wolgograd um das doppelte höher sein, als die offiziellen Zahlen belegen. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes sollen allein in Moskau mittlerweile 200.000 Tschetschenen leben vgl. (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 28. September 2022, Seite 17; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 3. Februar 2023, Seite 95-98; Galeotti, Lizenz zum Töten? Das Risiko für Tschetschenen innerhalb Russlands, Juni 2019, Seite 15 und 17).

Von den Klägern kann vernünftigerweise auch erwartet werden, dass sie sich in anderen Landesteilen der Russische Föderation niederlassen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG).

Die Frage der Zumutbarkeit der Niederlassung erfordert eine umfassende wertende Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen Verhältnisse unter Berücksichtigung der in § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG genannten Dimensionen. Hierbei sind auch und gerade die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Blick zu nehmen, die der Ausländer am Ort der Niederlassung zu gewärtigen hat. Erforderliche, aber auch hinreichende Voraussetzung für die Niederlassung ist, dass das wirtschaftliche Existenzminimum auf einem Niveau gewährleistet ist, das eine Verletzung des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht besorgen lässt; darüber hinausgehende Anforderungen sind nicht notwendige Voraussetzung der Zumutbarkeit der Niederlassung (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 - 1 C 4/20 - juris, Rn. 27).

Die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel (vgl. insbesondere Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 28. September 2022, Seite 23 ff.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 3. Februar 2023, Seite 98 ff. und Auskunftsersuchen des Auswärtigen Amtes in Asyl- und Rückführungsangelegenheiten an das Verwaltungsgericht Regensburg, Gz. 508-9-1 Ob-51 6.80/54367, 29. September 2021) sprechen dafür, dass die Niederlassung in anderen Landesteilen der Russischen Föderation unter Würdigung der allgemeinen Gegebenheiten und unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände der Kläger zumutbar ist.

Die Kläger zu 1. und 2. werden in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt als auch den der Kläger zu 4. bis 6. und der weiteren, minderjährigen Kinder R... und D... durch eigene Arbeit, gegebenenfalls in Verbindung mit Sozialbeihilfen und möglicher Unterstützung durch Familienangehörige im Umfang des Existenzminimums zu bestreiten. Auch der Kläger zu 3. wird im Stande sein, seinen Lebensunterhalt zu sichern.

Der über eine neunjährige Schulausbildung und Berufserfahrung als Maurer verfügende Kläger zu 1., die Arbeitserfahrung als Sanitäterin im Krankenhaus besitzende Klägerin zu 2. und der Kläger zu 3. sind arbeitsfähig. Gesundheitliche Einschränkungen, die ihre Arbeitsfähigkeit ausnahmslos ausschließen würden, haben sie weder substantiiert vorgetragen noch sind solche ersichtlich. Zudem ist es für sie möglich, in der Russischen Föderation Arbeit zu finden. So existieren dort viele Erwerbsmöglichkeiten sogar für ungelernte Personen etwa im kaufmännischen Bereich (z. B. Verkäufer, Kurier, Wächter). Des Weiteren haben die Kläger Zugang zum russischen Gesundheitssystem und in diesem Rahmen das Recht auf eine kostenfreie medizinische Grundversorgung. Die medizinische Versorgung ist in Russland auf einfachem, aber grundsätzlich ausreichendem Niveau gesichert. Darüber hinaus verfügen die Kläger in der Russischen Föderation über ein familiäres Netzwerk, so dass sie jedenfalls im Notfall auf die sozialadäquate und landestypische Unterstützung durch die nach wie vor in der Russischen Föderation lebenden Verwandten zu verweisen sind. Für die Kläger zu 4. bis 6. und die weiteren Kinder R... und D... können die Kläger zu 1. und 2 Kindergeld beanspruchen. Zudem gibt es in der Russischen Föderation zahlreiche Betreuungsmöglichkeiten sowohl für nicht schulpflichtige Kinder unter 6 Jahren als auch für schulpflichtige Kinder über 6 Jahre. Des Weiteren gibt es in der Russischen Föderation staatliche Wohnungszuteilungen und finanzielle Hilfen für Miet- und Nebenkosten. Eine andere Bewertung der Versorgungssituation in der Russischen Föderation ergibt sich auch nicht aus den wirtschaftlichen Folgen des seitens Russlands gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 geführten Angriffskrieges.

Die Kläger haben auch mit ihrem ersten Hilfsantrag keinen Erfolg. Der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 AsylG steht nach Maßgabe der vorangegangenen Ausführungen in jedem Falle die Möglichkeit des internen Schutzes gemäß § 3e Abs. 1 i. V. m. § 4 Abs. 3 AsylG entgegen.

Des Weiteren besteht auch kein Anspruch der Kläger auf die höchst hilfsweise begehrte Feststellung von Abschiebungsverboten hinsichtlich der Russischen Föderation nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Dies umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Eine Verletzung des Art. 3 EMRK kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei "nichtstaatlichen" Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein "verfolgungsmächtiger Akteur" (§ 3c AsylG) fehlt, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung "zwingend" sind mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung. Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein "Mindestmaß an Schwere" (minimum level of severity) aufweisen; es kann erreicht sein, wenn er seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält. Maßgeblich ist, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Für die Prognose der bei einer Rückkehr drohenden Gefahren ist bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehrt. Von einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband ist für die Rückkehrprognose im Regelfall auch dann auszugehen, wenn einzelnen Familienmitgliedern bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45/18 - juris, Rn. 2, 3, 11 und 12; EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 - juris, Rn. 90).

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK liegen in der Person der Kläger nicht vor. Eine beachtlich wahrscheinliche, im Widerspruch zu Art. 3 EMRK stehende Behandlung ist für sie in der Russischen Föderation nicht zu erwarten. Wegen der Begründung nimmt das Gericht Bezug auf die vorangegangenen Ausführungen im Zusammenhang mit der Zumutbarkeit der Niederlassung in anderen Landesteilen der Russischen Föderation.

Auch ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Insbesondere ist in Bezug auf den Kläger zu 5. weder anhand den Anforderungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 i. V. m. § 60a Abs. 2c Satz 2-3 AufenthG genügender ärztlicher Bescheinigungen konkret vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass er an einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG leidet, die sich durch die Abschiebung in die Russische Föderation wesentlich verschlechtern würde (vgl. zur medizinischen Versorgung in der Russischen Föderation: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 3. Februar 2023, Seite 108 ff.).

Die Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i. V. m. § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Die Aufforderung zur freiwilligen Ausreise beruht auf § 59 Abs. 1 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen resultiert aus § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG.

Gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG wurden seitens der Kläger weder substantiiert Einwände vorgetragen noch ist ersichtlich, dass die Befristung auf 30 Monate ermessensfehlerhaft ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die sachliche Gerichtskostenfreiheit resultiert aus § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.