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Entscheidung S 2 U 32/22


Metadaten

Gericht SG Potsdam 2. Kammer Entscheidungsdatum 06.03.2023
Aktenzeichen S 2 U 32/22 ECLI ECLI:DE:SGPOTSD:2023:0306.S2U32.22.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 8 SGB 7, § 2 Abs 1 Nr 10 SGB 7, § 4 Nr 1 SGB 7, § 128 SGG

Tenor

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Oktober 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2022 verurteilt, das Ereignis am 18. November 2020 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

2. Die Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Streitig ist die Anerkennung einer Coronainfektion der Klägerin als Arbeitsunfall.

Die 1966 geborene Klägerin war am Mittwoch, den 18. November 2020, als ehrenamtliche Richterin bei der Kammersitzung eines Gerichts in B tätig. Vorsitzender Richter war der Zeuge B, weitere ehrenamtliche Richterin die Zeugin Dr. L. Das Beratungszimmer war ca. 10 bis 15 m² groß, die Klägerin und die Zeugin Dr. L saßen sich darin an einem ca. 80 cm breiten Tisch direkt gegenüber. Es wurden Stoffmasken getragen. Am 23. November 2020 meldete sich die Klägerin telefonisch bei ihrer Hausärztin mit Fieber, trockenem Husten, Glieder- und Kopfschmerzen und wurde für eine Woche krankgeschrieben. Am 27. November 2020 (Freitag) wurde sie wegen Übelkeit, Kaltschweißigkeit und kurzzeitigem Bewusstseinsverlust mit dem Rettungsdienst in die Notaufnahme des Krankenhauses H gebracht. In dem Behandlungsbericht der Notaufnahme heißt es unter „aktuelle Beschwerden“: „Seit 5 Tagen respiratorischer Infekt mit trockenem Husten, subfebrilen Temperaturen, Gliederschmerzen. Keine sonstigen respiratorischen Erkrankungen im Familien/Bekanntenkreis, kein wissentlicher Kontakt zu Covid-Patienten. Bisher keine weitere Abklärung diesbezüglich erfolgt.“ Der Vorfall wurde seitens des Krankenhauses als synkopales Ereignis am ehesten im Rahmen einer Kreislaufdysregulation im Rahmen des Infekts gewertet und eine ambulante SARS-CoV-2-Testung empfohlen. Montag, den 30. November 2020 wurde eine ambulante PCR-Testung durchgeführt, deren positives Ergebnis zwei Tage später, am 2. Dezember 2020 vorlag. Am 2. Dezember 2020 erhielt die Klägerin auch einen Anruf der Zeugin K aus dem Gericht in B, die ihr mitteilte, dass die Zeugin Dr. L positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden sei. Ausweislich des dem Gericht vorliegenden Laborbefundes lag das positive PCR-Ergebnis des bei der Zeugin Dr. L am 23. November 2020 abgenommenen Abstrichs am 26. November 2020 vor. In der Patientenkartei der die Zeugin behandelt habenden Fachärztin für Allgemeinmedizin G über die Zeugin Dr. L ist unter dem 23. November 2020 vermerkt: „Dr. P fragt n(ach) Abstrich für seine LG (Lebensgefährtin), diese sei seit 3 Tagen erkältet, kommt zu 12:00 Uhr zur Terrasse“. Zum Befund der Zeugin am selben Tag heißt es dort auszugsweise: „Seit ca. 3 Tagen grippige Zeichen, (…), bisher Ibu genutzt, (…), Antigen-Schnelltest positiv, PCR Rachenabstrich gemacht“. In der Karteikarte ist weiter für den 23. November 2020 als Diagnose der Verdacht auf eine Covid-19-Infektion festgehalten und für den 26. November 2020 eine Covid-19-Infektion als gesichert vermerkt. Am 26. März 2021 ging bei der Beklagten die Unfallanzeige der Klägerin ein, in der sie angab, sich am 18. November 2020 im Gericht in B mit Covid 19 angesteckt zu haben. In ihrer Unfallanzeige gab die Klägerin auch an, die Zeugin Dr. L habe am 18. November 2020 über starke Kopfschmerzen geklagt und dies als Migräne abgetan. Weiter erklärte sie darin, am 2. Dezember 2020 von der positiven Testung der Zeugin Dr. L erfahren zu haben und führte ihre eigene Erkrankung auf eine Ansteckung am 18. November 2020 zurück. Es habe ansonsten kein Kontakt zu einer anderen erkrankten Person, auch nicht im persönlichen und familiären Umfeld, bestanden. Im Rahmen ihrer Ermittlungen bat die Beklagte die Zeugin Dr. L anzugeben, wann sie positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden sei und wann sie die ersten Symptome gehabt habe. Die Zeugin gab mit E-Mail vom 2. September 2021 an, ein positiver Coronatest habe am 23. November 2020 vorgelegen und sie sei arbeitsunfähig gewesen. Die ersten Symptome hätten am Morgen des 23. November 2020 vorgelegen, „nicht sehr schlimm, aber wegen Termin mit mehreren Kollegen zum Arzt gegangen, statt auf Arbeit. (Unter Nicht-Corona-Bedingungen wären die Anzeichen kein Grund gewesen zum Arzt zu gehen.)“ Ein wissentlicher Kontakt zu an Corona erkrankten Menschen habe nicht vorgelegen. Als einzige Möglichkeit der Infektion benannte die Zeugin die S-Bahn. Mit Bescheid vom 12. Oktober 2021 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus am 18. November 2020 mit anschließender Covid-19-Erkrankung bei der Klägerin als Versicherungsfall ab. Zur Begründung gab sie an, es fehle der Nachweis, dass die Infektion der Klägerin infolge ihrer versicherten Tätigkeit als ehrenamtliche Richterin eingetretene sei, weil weder eine Indexperson (eine nachweislich mit dem Coronavirus infizierte Personen im beruflichen Umfeld, zu der ein intensiver beruflicher Kontakt bestanden hat) noch ein typischer konkreter Geschehensablauf habe ermittelt werden können. Es habe keine Infektionsquelle bzw. Indexperson festgestellt werden können, die eindeutig vorbestehende Symptome gehabt hätte. Mit ihrem hiergegen am 9. November 2021 bei der Beklagten eingegangenen Widerspruch verwies die Klägerin nochmals auf die Zustände im Beratungszimmer am 18. November 2020 und darauf, dass hierdurch bedingt ein langer, intensiver Kontakt zur Zeugin Dr. L bestanden habe. Weiter legte sie eine Erklärung des Zeugen B vom 2. Dezember 2021 vor, in der dieser angab, dass die Sitzung am 18. November 2020 von 8:45 Uhr bis ca. 13:00 Uhr angedauert habe. Zu Beginn der Beratungen sei das Gespräch auf das allgemeine Wohlbefinden gekommen. Hierbei habe sich die Zeugin Dr. L dahingehend geäußert, dass es ihr an diesem Tag nicht so gut gehe, sie an Kopfschmerzen leide und sie das auf eine gewisse Neigung zur Migräne zurückführe. Das Thema sei nicht weiter vertieft worden, nachdem er sich vergewissert habe, dass sich die Zeugin Dr. L deswegen nicht von der Sitzung zurückziehen möchte. Die Sitzung sei dann wie gewöhnlich durchgeführt worden. Dem Vernehmen nach sei die Zeugin Dr. L dann am Folgetag mit der Diagnose Covid-19 schwerer erkrankt, die Klägerin einige Tage darauf schwer. Der Vorgang sei in Erinnerung geblieben, da das Gericht nicht sogleich, sondern nach ca. zwei Wochen von den Erkrankungen erfahren habe. Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 2022 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Sie führte aus, dass es unstreitig sei, dass es sich bei einer Erregeraufnahme um ein Unfallereignis im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung handeln könne, soweit die schädigende Einwirkung innerhalb einer Arbeitsschicht vorliege. Voraussetzung hierfür sei, dass ein intensiver Kontakt zu einer Indexperson nachweisbar sei. Ein Ursachenzusammenhang sei dann zu bejahen, wenn wegen der versicherten Tätigkeit Kontakt zu einer bekannten Indexperson bestanden habe, der gesichert als intensiv und länger andauernd zu werten sei. Als vermeintliche Indexperson sei für den Verhandlungstag am 18. November 2020 die Zeugin Dr. L angegeben worden. Diesbezüglich hätten die Ermittlungen ergeben, dass der Zeugin Dr. L erstmals am 23. November 2020 leichte Symptome aufgefallen seien und ein Test noch am selben Tag positiv ausgefallen sei. Es sei von keinem der weiteren am 18. November 2020 anwesenden Personen des Gerichts in B von einer Covid 19 Erkrankung berichtet worden. Die Klägerin habe zu ihrer eigenen Person angegeben, sie habe ab dem 22. November 2020 erste Symptome bei sich bemerkt. Nach Angaben des Gerichts seien regelmäßiges Lüften, Schutzglas, Maskenpflicht, Abstand „etc.“ als Schutzmaßnahmen durchgeführt worden. Zudem habe kein enger Kontakt zur mutmaßlichen Indexperson bestanden. Während das Vorliegen einer versicherten Tätigkeit zu bejahen sei, weil die Klägerin zum Unfallzeitpunkt ihrer Tätigkeit als ehrenamtlicher Richterin nachgegangen sei, sei das Vorliegen eines schädigenden Ereignisses jedoch nicht erwiesen. Da die ersten Symptome beinahe am gleichen Tag aufgetreten seien, bei der Klägerin sogar einen Tag zuvor, sei unter Berücksichtigung der RKI-Mitteilung zur Kontaktpersonen-Nachverfolgung bei SARS-CoV-2-Infektionen hier nicht nachweisbar, bei wem sich die Klägerin letztlich angesteckt habe. Im Rahmen der pandemischen Lage, sei das Risiko einer Infektion geradezu jederzeit gegeben gewesen und könne durch die Aussage, keine privaten Kontakte gehabt zu haben, bei lebensnaher Betrachtung nicht entkräftet werden.

Die Klägerin hat am 22. März 2022 Klage erhoben. Sie verweist im Wesentlichen auf die Gründe ihres Widerspruchs und gibt an, im Zeitraum um den 18. November 2020 herum keine privaten Kontakte gehabt, nichts unternommen, keine Einkäufe getätigt und keine öffentlichen Verkehrsmittel genutzt zu haben. Sie habe seit Beginn der Pandemie den wöchentlichen Einkauf gemeinsam mit ihrem Ehemann am Samstag erledigt, so auch am 21. November 2020. Am Nachmittag dieses Tages hätten die ersten Symptome eingesetzt.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Oktober 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2022 zu verurteilen, das Ereignis vom 18. November 2020 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie macht noch einmal darauf aufmerksam, dass ihre nachfolgenden Ermittlungen ergeben hätten, das der Zeugin Dr. L erstmals am 23. November 2020 leichte Symptome aufgefallen seien.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Befragung der Zeugen B, F, K, M und Dr. L. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird verwiesen auf die Anlagen 1 bis 5 der Sitzungsniederschrift zum Termin der mündlichen Verhandlung mit Beweisaufnahme am 6. März 2023.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und denjenigen des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen, die – soweit maßgeblich – Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässig (§ 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG) und begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 12. Oktober 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2022 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin daher in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG). Die Klägerin hat einen Anspruch auf Anerkennung des Ereignisses vom 18. November 2020 als Arbeitsunfall.

Rechtsgrundlage für die Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall ist § 8 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII). Nach § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit. Gemäß § 8 Abs. 1 S. 2 SGB VII sind Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Für einen Arbeitsunfall ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Verletzten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkendem Ereignis – dem Unfallereignis – geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitserstschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls, sondern für die Gewährung einer Verletztenrente. Dabei müssen die Tatbestandsmerkmale „versicherte Tätigkeit“, „Unfallereignis“ und „Gesundheitsschaden“ im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit – nicht allerdings die Glaubhaftmachung und erst recht nicht die bloße Möglichkeit – ausreicht. Hierunter ist eine Wahrscheinlichkeit zu verstehen, nach der bei vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein so deutliches Übergewicht zukommt, dass hierauf die richterliche Überzeugung geründet werden kann. Für den Vollbeweis muss sich das Gericht grundsätzlich die volle Überzeugung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen der maßgeblichen Tatsachen verschaffen. Absolute Gewissheit ist hingegen so gut wie nie möglich und daher auch nicht erforderlich. Die notwendige, aber auch ausreichende, an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit liegt vor, wenn die Tatsache in so hohem Maße wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Gewisse Zweifel sind unschädlich, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (ständige Rechtsprechung, vgl. nur BSG, Urteil vom 30. Januar 2007 – B 2 U 23/05 R -, Urteil vom 17. Februar 2009, - B 2 U 18/07 R -, Urteil vom 31. Januar 2012 – B 2 U 2/11 R -, alle zitiert nach juris, m.w.N.; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 128 Rn. 3b).

Die Klägerin stand am 18. November 2020 während ihrer Tätigkeit als ehrenamtliche Richterin unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nach §§ 2 Abs. 1 Nr. 10, 4 Nr. 1 SGB VII. Als Gesundheitsschaden ist bei ihr eine Infektion mit dem Coronavirus durch positiven PCR-Abstrich vom 30. November 2020 mit Symptomen (Covid 19) seit dem Wochenende 21./22. November 2020 zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen (vgl dazu, dass eine symptomlose Infektion die Voraussetzungen eines Gesundheitsschadens im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung nicht erfüllt: BSG, Urteil vom 7. Mai 2019, B 2 U 34/17 R, Rn. 19, juris). Medizinisch sind die Symptome der Klägerin durch die Behandlungsauskunft ihrer Hausärztin von der (telefonischen) Vorstellung der Klägerin bei ihr am 23. November 2020 sowie den Behandlungsbericht aus der Notaufnahme des Krankenhauses H über die Einlieferung der Klägerin dort am 27. November 2020 belegt. Die Klägerin selbst gab an, die ersten Symptome am Nachmittag des 21. November 2020 bemerkt zu haben, im Behandlungsbericht der Notaufnahme heißt es „seit 5 Tagen respiratorischer Infekt mit trockenem Husten, subfebrilen Temperaturen, Gliederschmerzen“, wonach der Symptombeginn auf dem 22. November 2020 liegen würde. Eine Infektion mit Krankheitssymptomen erfüllt auch insofern den Unfallbegriff, als dass es sich bei dem Eindringen von Erregern um eine Einwirkung auf den menschlichen Körper „von außen“ handelt (vgl. G. Wagner in: Schlegel/Voelzke, juris PK-SGB VII, 3. Aufl., § 8 SGB VII (Stand: 29. Juni 2022, Rn. 126). Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass sich die Infektion der Klägerin infolge ihrer Tätigkeit als ehrenamtliche Richterin an dem Gericht in B am 18. November 2020 ereignet hat. Das Gericht hat hier im Rahmen der Beweiswürdigung die typischen Beweisschwierigkeiten für den Nachweis einer – naturgegeben äußerlich nicht erkennbaren - Infektionsquelle zu berücksichtigen, die dazu führen, dass es – ohne dass das jeweils maßgebende Beweismaß als solches reduziert wäre – geringere Anforderungen an den Beweis der betreffenden Tatsache stellen darf als sonst (vgl. auch hierzu Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a.a.O., Rn. 3e). Gemessen an den oben skizzierten Maßstäben steht für das Gericht nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und der allgemeinen Lebenserfahrung ohne gewichtige Zweifel fest, dass sich die Klägerin am 18. November 2020 bei der Zeugin Dr. L mit dem Virus infiziert hat. Das Gericht hat sich bei seiner Entscheidung in diesem Zusammenhang an den Vorgaben der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) orientiert. Der DGUV ist der Spitzenverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften und der Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand. Zu seinen Aufgaben gehört unter anderem die Klärung von allen grundsätzlichen Fach- und Rechtsfragen zur Sicherung der einheitlichen Rechtsanwendung in der gesetzlichen Unfallversicherung sowie die fachliche Beratung und Information der Mitglieder (§ 2 Abs. 4 Nr. 9 der Satzung des DGUV in der am 10. Juni 2021 von der Mitgliederversammlung beschlossenen Fassung). Die Beklagte gehört zu den Mitgliedern des DGUV. Vor diesem Hintergrund ist von einer Selbstbindung der Mitglieder – hier der Beklagten – an die von ihrem Spitzenverband hinsichtlich von Fragen der Rechtsanwendung gegebenen Vorgaben auszugehen. Auch wenn das Gericht alle Umstände des Einzelfalls zu würdigen hat und das Gericht nicht an die Maßgaben des DGUV gebunden ist, erscheint eine Orientierung hieran als von Expertenwissen getragenen Grundsätzen und zur Förderung der Gleichbehandlung der Versicherten zweckmäßig und vernünftig. Für die Anerkennung von Covid-19 als Arbeitsunfall muss nach diesen Maßgaben (siehe: Infektion mit SARS-CoV-2 kann auch ein Arbeitsunfall sein (dguv.de) ein intensiver Kontakt mit einer infektiösen Person („Indexperson“) nachweislich stattgefunden haben. Dieser Kontakt muss nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI), Stand 1. Mai 2022, zwischen zwei Tagen vor dem Auftreten der ersten Symptome bei der Indexperson und zehn Tagen nach Symptombeginn erfolgt sein. Die Anhaltspunkte für einen intensiven persönlichen Kontakt entnimmt der DGUV ebenfalls den Einschätzungen des RKI. Danach liegt ein intensiver persönlicher Kontakt bei nachfolgend beschriebenen Kontaktzeiten vor:

1. Enger Kontakt (<1,5 m, Nahfeld) länger als 10 Minuten ohne adäquaten Mund-Nase-Schutz oder FFP2-Maske

2. Gespräch mit der Indexperson (face-to-face-Kontakt, <1,5 m, unabhängig von der Gesprächsdauer), ohne dass die Index- wie die Kontaktperson einen adäquaten Schutz tragen

3. Gleichzeitiger Aufenthalt von Index- und Kontaktperson im selben Raum mit wahrscheinlich hoher Konzentration infektiöser Aerosole unabhängig vom Abstand für länger als 10 Minuten, auch wenn durchgehend Mund-Nasen-Schutz oder FFP2-Maske getragen wurde.

Das Gericht hat keine Zweifel daran, dass es sich bei den genannten Prämissen um den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zur maßgeblichen Frage der möglichen Übertragungswege des Coronavirus handelt (vgl. dazu, dass die Tatsachengerichte bei ihrer Entscheidungsfindung den jeweils aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zugrunde zu legen haben, die ständige Rechtsprechung des BSG, zuletzt beispielsweise: Urteil vom 28. Juni 2022, B 2 U 9/20 R, Rn. 21, juris). Das Gericht sieht vorliegend die Zeugin Dr. L als maßgebliche Indexperson an. Ausweislich der dem Gericht vorliegenden medizinischen Unterlagen lag bei der Zeugin Dr. L ein positiver PCR-Abstrich vom 23. November 2020 am 26. November 2020 vor. Durch das positive PCR-Testergebnis vom 26. November 2020 ist bei der Zeugin eine Covid 19-Infektion nachgewiesen. Ausweislich der Karteikarte der sie behandelnden Hausärztin gab der Lebensgefährte der Zeugin – selber Arzt - bei der Nachfrage nach einem entsprechenden Abstrich für die Zeugin bei der Hausärztin am 23. November 2020 an, die Zeugin sei seit drei Tagen erkältet. Zum Befund vom 23. November 2020 hat die Hausärztin notiert, es lägen seit ca. drei Tagen grippige Zeichen vor, es sei bisher „Ibu“ genutzt worden. Hieraus schließt das Gericht, dass die ersten Symptome bei der Zeugin Dr. L am 20. November 2020 vorlagen. Diesen zeitnah durch die Ärztin und damit einer objektiven, an dem Geschehen um den 18. November 2020 herum unbeteiligten Person, in der Patientenkartei festgehaltenen Angaben misst das Gericht höheren Beweiswert bei als der trotz Vorhalt der ärztlichen Angaben beibehaltenen Aussage der Zeugin Dr. L, sie habe die ersten Symptome erst am 23. November 2020 bemerkt. Die Zeugin Dr. L wurde erstmals Ende Juli 2021 durch den Fragebogen der Beklagten damit konfrontiert, dass sie als mögliche Infektionsquelle für die Erkrankung einer anderen Person am 18. November 2020 überprüft wird. Die Gründe für das offensichtliche Bestreben des Herunterspielens ihrer Erkrankung bereits in der Antwortmail an die Beklagte vom 2. September 2021, das sich in der Befragung zur Sache im Rahmen der mündlichen Verhandlung erneut gezeigt hat, mögen - vor dem Hintergrund, dass sie nach eigener Aussage an einem medizinisch ungeklärtem „lebensbegleitendem“ Kopfschmerz leidet - in der Art ihrer Krankheitswahrnehmung, durch Zeitablauf beeinträchtigter Erinnerung oder Zurückweisung von Verantwortung liegen. Angesichts des bei der Zeugin festzustellenden Herunterspielens ihrer Symptome ist es jedenfalls erst recht unglaubhaft, dass sie sich ohne vorangegangene ungewöhnliche Krankheitszeichen am 23. November 2020 direkt einem Schnelltest auf das Coronavirus unterzieht. Ebensowenig ist nachvollziehbar, warum ihr Lebensgefährte der Ärztin gegenüber angegeben haben soll, die Zeugin sei bereits seit drei Tagen erkältet, wenn keinerlei Krankheitszeichen vorgelegen haben und weshalb er, der selbst Arzt ist, – ohne dass verdachtsbegründende Umstände vorlagen - für die Zeugin um einen Corona-Abstrich gebeten hat. Auch die in der Patientenkartei festgehaltene Einnahme von Ibuprofen vor dem Aufsuchen der Ärztin ergibt nur zusammen mit der ebenfalls dort festgehaltenen Aussage von seit drei Tagen bestehenden Grippesymptomen Sinn. Die von der Ärztin bereits am 23. November 2020 als Diagnose gesicherte „grippale Atemwegsinfektion“ kann mit den von der Zeugin Dr. L erstmals für den Morgen des 23. November 2020 angegebenen „nicht sehr schlimmen“ Symptomen nicht in Einklang gebracht werden. Wenn dem so – wie von der Zeugin Dr. L angegeben – gewesen wäre, wäre weder ein Corona-Abstrich erfolgt, noch hätte die Ärztin eine „grippale“ Atemwegsinfektion diagnostiziert. Ob auch die am 18. November 2020 nach den übereinstimmenden Aussagen der Klägerin und der Zeugin Dr. L - insoweit bestätigt durch die Angaben des Zeugen B in seinem Schreiben an die Klägerin vom 2. Dezember 2021 - vorgelegenen Kopfschmerzen bereits der Infektion zuzuordnen waren, kann nicht entschieden werden und muss im Ergebnis offen bleiben. Nicht verifizieren konnte das Gericht die in den schriftlichen Unterlagen vom 2. Dezember 2020 und 2. Dezember 2021 vorliegende Aussage, dass die Zeugin Dr. L am Folgetag der Sitzung mit der Diagnose Covid-19 schwer erkrankt sei. Dies ergeben weder die vorliegenden medizinischen Unterlagen über die Erkrankung der Zeugin noch die Beweisaufnahme am Tag der mündlichen Verhandlung. Allein aus der Aussage des Stellvertreters der Zeugin Dr. L auf ihrer Arbeitsstelle, dem Zeugen M, ist ebenfalls zu schließen, dass bei der Zeugin Dr. L Symptome bereits vor dem Wochenende 21./22. November 2020 vorgelegen haben. Denn dieser erklärte, am 23. und 24. November 2020 (Wochenbeginn) selbst erkrankt gewesen zu sein. Die Zeugin Dr. L war nach der Patientenkartei ihrer Hausärztin im Zeitraum 23. November 2020 bis 11. Dezember 2020 und 14. Dezember bis 24. Dezember 2020 arbeitsunfähig. Sie gab in der Beweisaufnahme an, sich am 23. November 2020 nicht zur Arbeit begeben zu haben. Da der Zeuge M angegeben hat, vom Gesundheitsamt als mögliche Kontaktperson der Zeugin Dr. L angeschrieben worden zu sein, muss von ihr der mögliche Kontakt daher vor dem Wochenende 21./22. November 2020, also spätestens Freitag, den 20. November 2020 angegeben worden sein. Der Zeuge hat auch angegeben, die Zeugin Dr. L habe vor seiner Erkrankung – also vor dem Wochenende 21./22. November 2020, denn jedenfalls die Zeugin Dr. L hat angegeben, am Wochenende nicht zu arbeiten – ihm gegenüber über Kopfschmerzen geklagt. Der nach allem anzunehmende Symptombeginn bei der Zeugin Dr. L spätestens am 20. November 2020 genügt den oben angegebenen notwendigen zeitlichen Voraussetzungen für den Kontakt zwischen Index- und Kontaktperson. Denn die fragliche Sitzung am 18. November 2020 hat damit zwei Tage vor dem Auftreten der ersten Symptome bei der Indexperson Dr. L stattgefunden. Zwischen der Zeugin Dr. L und der Klägerin hat am 18. November 2020 auch ein intensiver persönlicher Kontakt nach den oben angegebenen Kriterien bestanden. Sie saßen sich deutlich länger als 10 Minuten – der Zeuge B sprach von mindestens anderthalb Stunden, die Zeugin K davon, dass sie aufgrund umfangreicher Beratungen die meiste Zeit alleine im Sitzungssaal gesessen habe, wobei der Sitzungstag nach den schriftlichen Angaben des Zeugen B im Schreiben vom 2. Dezember 2021 von 8:45 Uhr bis ca. 13:00 Uhr, also 4 Stunden, dauerte – an einem ca. 80 cm breiten Tisch und damit unter 1,5 m Abstand ohne adäquaten Mund-Nase-Schutz (Stoffmaske) im Beratungsgespräch gegenüber. Es kann trotz des nach Angaben der Klägerin gekippten Fensters von einer wahrscheinlich hohen Konzentration infektiöser Aerosole in dem ca. 10-15 m² großen Beratungszimmer ausgegangen werden. Damit sind alle drei von dem DGUV angenommenen Konstellationen für einen intensiven persönlichen Kontakt erfüllt. Eine möglicherweise konkurrierende Ansteckungsursache ist im Fall der Klägerin nicht ersichtlich. Nach ihren glaubhaften Angaben gab es im fraglichen Zeitraum vor ihrer Erkrankung keine infizierte Person in ihrem privaten oder beruflichen Umfeld. Die Klägerin gab in der mündlichen Verhandlung zudem an, im Home Office tätig gewesen zu sein, sich in der Woche vor ihrer Erkrankung zu Hause aufgehalten, keine Einkäufe erledigt und keine öffentlichen Verkehrsmittel genutzt zu haben. Die Glaubwürdigkeit der Klägerin insoweit wird untermauert durch den Behandlungsbericht aus der Notaufnahme des Krankenhauses H vom 27. November 2020 – zu einem Zeitpunkt, als die Klägerin noch nichts von einer möglichen Ansteckung im Rahmen der Sitzung am 18. November 2020 wusste –, in dem sie die Frage nach sonstigen respiratorischen Erkrankungen im Familien/Bekanntenkreis und wissentlichen Kontakt zu Covid-Patienten verneint hat. Insgesamt ist zur Coronalage im November 2020 im Raum B festzustellen, dass zu diesem Zeitpunkt Restaurants, Museen, Theater, Kinos, Opern- und Konzerthäuser, Hotels, Kosmetiksalons und Fitnessstudios geschlossen waren, im Handel nur ein Kunde pro 10 m² Einkaufsfläche erlaubt war und Sportvereine nicht mehr trainieren durften (vgl: Teil-Lockdown: Diese Bestimmungen gelten jetzt in Berlin und Brandenburg | rbb24 ). Bei der nach allem anzunehmenden Infektiosität der Zeugin Dr. L bereits am 18. November 2020, einem Symptombeginn bei der Zeugin Dr. L spätestens am 20. November 2020 und einem Symptombeginn bei der Klägerin frühestens am Nachmittag des 21. November 2020 (laut Notaufnahmeprotokoll wäre Symptombeginn bei der Klägerin der 22. November 2020 gewesen), liegt nach Auffassung des Gerichts ein für die Annahme eines Versicherungsfalls hinreichend plausibler Ablauf vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie folgt dem Ausgang des Verfahrens.