Gericht | VG Cottbus 5. Kammer | Entscheidungsdatum | 25.04.2023 | |
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Aktenzeichen | 5 K 320/21.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2023:0425.5K320.21.A.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Auf das dem Bundesamt in § 31 Abs. 3 Satz 3 AsylG eingeräumte Ermessen sind die für § 51 Abs. 5 i. V. m. §§ 48, 49 VwVfG entwickelten Grundsätze zu übertragen.
Trotz des absoluten Charakters von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-GR-Charta besteht ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiteren Sinne nur bei Offensichtlichkeit eines Verstoßes.
Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Wegen der Kosten ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des sich aus dem Kostenfestsetzungsbeschluss ergebenden Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils beizutreibenden Betrages leistet.
Der eigenen Angaben zufolge aus Äthiopien stammende, angeblich am 22. Mai 2000 geborene Kläger, der die äthiopische Staatsangehörigkeit innehat, wendet sich gegen die Ablehnung seines Folgeantrages als unzulässig.
Den am 22. Dezember 2016 gestellten Asylerstantrag des Klägers hatte die Beklagte mit Bescheid vom 28. August 2017 (Az.: 7...) unter Verneinung von Abschiebungsverboten und unter Androhung einer Abschiebung nach Äthiopien als unbegründet abgelehnt. Wegen der Begründung dieses Bescheides wird auf dessen Seite 2 bis 11 Bezug genommen. Das dagegen vor dem Verwaltungsgericht Potsdam anhängig gemachte Klageverfahren wurde durch Beschluss vom 8. Dezember 2017 nach § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO wegen fiktiver Klagerücknahme eingestellt.
Den Folgeantrag stellte der Kläger schriftlich am 18. Januar 2021. Zur Begründung er gegenüber dem Bundesamt an, an einer Demonstration wegen der politisch motivierten Verhaftung seines Vaters und aus Protest gegen die Ungerechtigkeit teilgenommen zu haben. Während der Demonstration habe die Polizei ihn und andere Demonstranten geschlagen und verhaftet. Daraufhin habe er zwei Monate im Gefängnis verbracht, wobei sie kein Essen bekommen hätten. Er befürchte, erneut verhaftet oder getötet zu werden. Ferner machte der Kläger geltend, mentale Probleme zu haben.
Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 27. Januar 2021 als unzulässig ab. Außerdem lehnte sie es ab, den Ausgangsbescheid vom 28. August 2017 im Hinblick auf Abschiebungsverbote abzuändern. Wegen der Begründung wird auf dessen Seite 2 bis 5 verwiesen (Bl. 48 bis 51 der Gerichtsakte 5 L 125/21.A).
Dagegen hat der Kläger Klage erhoben.
Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, wegen der politischen Aktivitäten des Vaters selbst Verfolgung ausgesetzt gewesen zu sein. Im Alter von 15 Jahren sei er im Rahmen einer Demonstration für zwei Monate festgenommen und misshandelt worden. Nach der Ablehnung seines Asylantrages in Deutschland habe er in Frankreich an verschiedenen Orten auf der Straße gelebt. Er sei psychisch belastet und leide unter psychischen Beschwerden wegen der erlebten Traumata. Jedenfalls sei ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen. Wegen der diesbezüglichen Begründung wird auf Blatt 19 bis 23 der Gerichtsakte Bezug genommen. Zur Stützung seines Vorbringens fügt er mehrere Berichte und eine „fachärztliche sozialpsychiatrische Stellungnahme“ vom 27. Juli 2021 an.
Ferner macht der Kläger mit anwaltlichem Schriftsatz vom 31. März 2023 geltend, dass der Kontakt zu seiner Familie abgebrochen sei. Während die allgemeine prekäre Lage in Äthiopien der Beklagten bekannt sei und somit für die Annahme der Wiederaufnahmegründe keiner expliziten Benennung bedürfe, habe der Kläger auf den Kontaktabbruch zu seiner Familie und seine Gesundheitsprobleme im Folgeantrag explizit hingewiesen. Vor der Folgeantragsbegründung habe er in anderen europäischen Ländern auf der Straße gelebt. Entsprechend sei es ihm auch nicht möglich gewesen, den Folgeantrag früher zu stellen. Zudem habe sich die Sicherheitslage in der Heimatregion des Klägers erneut verschlechtert, was der Bericht der Deutschen Welle vom 1. Februar 2023 belege.
Unter Rücknahme der Klage im Übrigen beantragt der Kläger,
die Beklagte unter Aufhebung der Ziffer 2 des Bescheides vom 27. Januar 2021 zu verpflichten, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 u. 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes hinsichtlich Äthiopiens festzustellen,
hilfsweise die Ziffer 2 des Bescheides vom 27. Januar 2021 aufzuheben,
Schriftsätzlich beantragt die Beklagte,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie die Verfahrensakte 5 L 125/21.A Bezug genommen. Sämtliche Akten wurden zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.
Soweit der Kläger die Klage hinsichtlich der Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides, mit der das Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich des internationalen Schutzes abgelehnt wurde, zurückgenommen hat, ist das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
Die mit dem Hauptantrag nurmehr verfolgte Verpflichtungsklage auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG ist unbegründet.
Die Ablehnung des Antrages auf Wiederaufgreifen des Verfahrens insoweit ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), weil dem Kläger kein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens zusteht.
Die Ablehnung, die Feststellungen über die Abschiebungsverbote abzuändern, findet ihre gesetzliche Grundlage in § 31 Abs. 3 Satz 3 AsylG. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens sind das Asylgesetz (AsylG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch den am 1. Januar 2023 in Kraft getretenen Art. 1 Nr. 10 des Gesetzes zur Beschleunigung von Asylgerichtsverfahren und asylverfahren vom 21. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2871). Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Tatsachengericht nach § 77 Abs. 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen hat, muss es seiner Entscheidung, die aktuellen Fassungen zugrunde legen, soweit nicht hiervon eine Abweichung aus Gründen des materiellen Rechts geboten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Mai 2021 – 1 C 6.20 –, BVerwGE 172, 356-365, Rn. 9). Im Übrigen geht der Gesetzgeber selbst davon aus, dass der aktuellen Textfassung des § 31 Abs. 3 Satz 3 AsylG lediglich klarstellende Bedeutung zukommt (Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Inneres und Heimat BT-Drs 20/4703 vom 30.11.2022, Seite 11; Entwurf einer Formulierungshilfe für die Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zum Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren, Seite 43).
Gemäß § 31 Abs. 3 Satz 3 AsylG kann das Bundesamt bei Entscheidungen über unzulässige Asylanträge von der Feststellung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG absehen, wenn es in einem früheren Verfahren über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes entschieden hat und die Voraussetzungen des § 51 Absatz 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes nicht vorliegen.
Diese Voraussetzungen für ein Absehen von einer erneuten Prüfung der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG liegen vor.
Über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes hat das Bundesamt bereits im Erstbescheid eine Feststellung getroffen. Demgegenüber liegen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens zur Prüfung der Abschiebungsverbote nicht vor. Schließlich ist das Absehen von der erneuten Feststellung zu den Abschiebungsverboten ermessensfehlerfrei, geschweige denn reduziert sich das behördliche Ermessen auf Null zu Gunsten einer erneuten Entscheidung über die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG.
Von den Wiederaufgreifensgründen des § 51 Abs. 1 VwVfG kommt nur eine nachträgliche Änderung der Sachlage i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG in Betracht.
Den Folgeantrag stellte der Kläger schriftlich am 18. Januar 2021. Die gerichtliche Prüfung beschränkt sich auf die in dem Folgeantrag angeführten Gründe. Denn weder das Bundesamt noch die Verwaltungsgerichte sind befugt, ihrer Entscheidung über die Wiederaufnahme andere als vom Kläger geltend gemachte Gründe zugrunde zu legen (BVerwGE 138, 289-301, Rn. 28).
Vor dem Bundesamt gab der Kläger zur Begründung seines Folgeantrages an, an einer Demonstration wegen der politisch motivierten Verhaftung seines Vaters und aus Protest gegen die Ungerechtigkeit teilgenommen zu haben. Während der Demonstration habe die Polizei ihn und andere Demonstranten geschlagen und verhaftet. Daraufhin habe er zwei Monate im Gefängnis verbracht, wobei sie kein Essen bekommen hätten. Er befürchte, erneut verhaftet oder getötet zu werden. Ferner machte der Kläger geltend, mentale Probleme zu haben.
Abgesehen von den mentalen Problemen legt der Kläger schon keine Änderung der Sachlage i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG dar. Die Geschehnisse, die sich in seinem Heimatland 2016 zugetragen haben sollen, gehen dem Erstbescheid voraus und sind im Übrigen vom Kläger im Erstverfahren schon geltend gemacht worden.
Der im Erstbescheid gegebenen Begründung, es sei flüchtlingsrechtlich irrelevant, wenn die Polizei nach ihm zur Ahndung von Straftaten suche, nachdem er auf der Demonstration Steine geworfen habe, setzt der Kläger erstmals im gerichtlichen Verfahren entgegen, dass sich die Sicherheitslage derart verschlechtert habe, dass die äthiopischen Sicherheitskräfte bei der Strafverfolgung menschenrechtliche Mindeststandards missachten würden. Neben der flüchtlingsrechlichen – nach Klagerücknahme nicht mehr relevanten - Stoßrichtung zielt dieser Vortrag zwar auch auf § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ab. Er kann dem Antrag auf Wiederaufgreifen dennoch nicht zum Erfolg verhelfen, weil der Kläger mit diesem Vorbringen nur einen von mehreren selbständig tragenden Gründen angreift, auf die im Erstbescheid die Ablehnung gestützt wurde. Im Falle mehrerer selbstständig tragender Ablehnungsgründe reicht es für einen erfolgreichen Wiederaufnahmeantrag nach § 51 Abs. 1 VwVfG nicht aus, wenn nur hinsichtlich eines Ablehnungsgrundes ein durchgreifender Wiederaufnahmegrund geltend gemacht wird (BVerwGE 78, 332 <336 f.>; BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 – 1 C 23.17 –, BVerwGE 163, 370-380, Rn. 19). Der Erstbescheid verneint die Gefahr einer Verhaftung zuvörderst wegen der Unglaubhaftigkeit des klägerischen Vorbringens. Der Hinweis auf die Strafbarkeit von Steinwürfen versteht sich lediglich als zusätzlicher Grund für die Ablehnung des Flüchtlingsschutzes. Die Unglaubhaftigkeit seines Vorbringens im Erstverfahren greift der Kläger jedoch im Folgeantrag nicht an. Sein Vortrag im Folgeverfahren bestätigt vielmehr die damalige, für die Ablehnung im Erstbescheid tragende Einschätzung des Bundesamtes, dass das Vorbringen unglaubhaft ist. Im Widerspruch zu seinem Vorbringen im Erstverfahren, wo er von seiner Schwester erfahren haben will, dass die Polizei nach ihm suche, woraufhin er das Land verlassen habe, will der Kläger nämlich nunmehr bei der Demonstration für zwei Monate verhaftet und während der Haft mehrmals täglich geschlagen worden sein. Zudem behauptet der Kläger im Folgeverfahren, dass sein Motiv, an der Demonstration teilzunehmen, auch die Verhaftung seines Vaters gewesen sei und der Kläger ihn niemals wiedergesehen habe. Im Erstantragsverfahren gab der Kläger demgegenüber an, dass seine Eltern ihm die Reise finanziert hätten und sein Vater eine eigene Landwirtschaft habe und in Robe lebe, er im Übrigen mit seiner Familie telefonisch Verbindung halte.
Soweit der Kläger ein gesundheitsbedingtes Abschiebungsverbot wegen PTBS geltend macht, genügt die bloße Behauptung hierzu nicht. Vielmehr ist er gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG, der sowohl im Rahmen von § 60 Abs. 5 (vgl. OVG Niedersachen, Beschluss vom 13. März 2020 – 9 LA 46/20 – Juris) als auch im Rahmen von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG) maßgeblich ist, zur Vorlage einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung gehalten. Die in Anlage zum Schriftsatz vom 3. August 2021 dem Gericht, also nicht dem Bundesamt, vorgelegte ärztliche Bescheinigung vom 27. Juli 2021 (Fachärztliche sozialpsychiatrische Stellungnahme zur Vorlage beim Verwaltungsgericht und allen weiteren zuständigen Behörden vom 27. Juli 2021) wahrt schon nicht die gemäß § 51 Abs. 3 VwVfG einzuhaltende Frist von drei Monaten. Unionsrechtlich begegnet diese Frist keinen Bedenken, weil sich die Maßgaben der Richtlinie 2013/32/EU auf internationalen Schutz beschränken, vorliegend aber allein nationalrechtliche Abschiebungsverbote inmitten stehen. Bei Dauersachverhalten - wie einer längeren Erkrankung - ist grundsätzlich die erstmalige Kenntnisnahme von den Umständen für den Fristbeginn maßgeblich. Bei sich prozesshaft und kontinuierlich entwickelnden Sachverhalten, wie einer PTBS, ist indes entscheidend, wann sich die Entwicklung der Sachlage insgesamt so verdichtet hat, dass von einer möglicherweise entscheidungserheblichen Veränderung im Sinne eines Qualitätsumschlags gesprochen werden kann. Nur im Falle unklarer Beschwerden ohne eine konkrete Diagnose besteht regelmäßig keine Obliegenheit zur sofortigen Stellung eines Folgeschutzgesuchs (Sächsisches OVG, Urteil vom 21. Juni 2017 – 5 A 109/15.A – Juris Rn. 20). Ein solcher Qualitätsumschlag manifestiert sich etwa im Besuch eines Arztes, auch eines Allgemeinmediziners, mit dem Ziel, wegen psychischer Probleme behandelt zu werden (Sächsisches OVG, Urteil vom 21. Juni 2017 – 5 A 109/15.A –, Juris Rn. 20). Das sozialpsychiatrische Erstgespräch fand bereits am 9. April 2021 statt. Dies zu Grunde legend lief die Frist zur Vorlage der Bescheinigung drei Monate später, also am 9. Juli 2021, ab. Die am 3. August 2021 ins Verfahren eingeführte Bescheinigung ist verspätet vorgelegt worden. Die Frist von drei Monaten ist erst recht verstrichen, wenn man auf den Folgeantrag abstellt. Vorliegend war dem Kläger nämlich ausweislich seiner Angaben bereits bei Stellung des Folgeantrages am 18. Januar 2021 bewusst, dass seine geltend gemachten psychischen Probleme auf der nunmehr behaupteten Verfolgung beruhen.
Unabhängig davon genügt die vorgelegte Bescheinigung des Psychosozialen Zentrums für Flüchtlinge im Land Brandenburg nicht den an solche Bescheinigungen zu stellenden Anforderungen. Ein Attest über das Vorliegen einer PTBS ist unbrauchbar, wenn schon seine Grundlage, nämlich das traumatische Erlebnis, unglaubhaft ist (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. Januar 2013 – OVG 7 S 11.13 –, Rn. Juris 10; Beschluss vom 2. Juni 2014 – OVG 12 S 30.14 -; Beschluss vom 30. März 2017 – OVG 12 S 16.17 -). Der dem Gutachter unterbreitete Sachverhalt zeichnet sich durch erhebliche Steigerungen gegenüber den Angaben vor dem Bundesamt aus und steht im eklatanten Widerspruch zum Vortrag aus dem Erstverfahren. Gegenüber den Angaben im Folgeverfahren steigerte der Kläger seinen Vortrag, indem er behauptet hat, im Gefängnis wiederholt misshandelt worden zu sein. Er sei im Gefängnis täglich 7 bis 10 mal täglich mit Stöcken auch auf den Kopf geschlagen worden. Von einer derart gravierenden Folter im Gefängnis hat der Kläger gegenüber dem Bundesamt nicht berichtet, obwohl sich dies aufgedrängt hätte. Im Erstverfahren kommt dies konsequenterweise nicht zur Sprache, weil er dort Äthiopien noch vor einer Inhaftierung dank der Warnung durch seine Schwester verlassen haben will. Wegen der übrigen Widersprüche zum Vorbringen aus dem Erstverfahren wird auf die Ausführungen oben verwiesen.
Soweit der Kläger insbesondere mit Schriftsatz vom 5. März 2021 Berichte und Erkenntnismittel ins gerichtliche Verfahren einführt, zeigt er schon keine konkreten Tatsachen auf. Vielmehr erschöpft sich der Vortrag in der Schilderung der allgemeinen Verhältnisse in Äthiopien. Dies verfehlt die Anforderungen des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG. Es bedarf nämlich nachprüfbarer Einzelschilderungen, um neue Umstände i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG darzulegen (BVerwG, Urteil vom 23. Juni 1987 – 9 C 251.86 – BVerwGE 77, 323/325). Eine allgemein gehaltene Darstellung der Verhältnisse in Äthiopien unter Verweis auf Berichte verfehlt diese Anforderungen.
Unabhängig vom Vorstehenden muss es sich um Tatsachen handeln, die sich im Verhältnis zu den tatsächlichen Annahmen im Bescheid als Änderung ausnehmen. Wird also eine nachträgliche Änderung der Sachlage zugunsten des Asylbewerbers (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) geltend gemacht, genügt es nicht, dass – wie hier - lediglich eine diesbezügliche Behauptung aufgestellt wird. Vielmehr muss substantiiert eine nachträgliche Änderung im Verhältnis zu dem früher geltend gemachten Sachverhalt dargelegt werden (BVerwG, Urteil vom 25. Juni 1991 – 9 C 33.90 – Buchholz 402.25 § 14 AsylVfG Nr. 10). Dazu muss nicht nur der Status quo, sondern auch die Lage im Dezember 2017, also beim Abschluss des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht Potsdam, jedenfalls ansatzweise dargelegt werden. Das ist unterblieben (vgl. zu diesem Erfordernis Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 15. März 2022 – 4 A 154/19.A – Juris Rn. 26). Das klägerische Vorbringen beschränkt sich vielmehr darauf darzulegen, dass die derzeitigen oder jedenfalls die absehbaren Lebensbedingungen nicht mit Art. 3 EMRK vereinbar seien, wobei der Kläger u.a. Berichte aus der Zeit vor Abschluss des ersten verwaltungsgerichtlichen Verfahrens anführt.
Der erstmals mit Schriftsatz vom 8. November 2022 geltend gemachte Vortrag zu den Abschiebungsverboten verfehlt überdies die sich aus § 51 Abs. 3 VwVfG ergebenden Anforderungen. Es obliegt dem Asylsuchenden, innerhalb der Ausschlussfrist von drei Monaten (§ 51 Abs. 3 VwVfG) die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Folgeantrags, zu denen auch die Fristwahrung selbst gehört, schlüssig darzulegen (OVG des Saarlandes, Beschluss vom 8. Juni 2006 – 2 Q 7/06 – Juris Rn. 17; Hessischer VGH, Beschluss vom 8. März 2000 – 12 UZ 1407/98.A – Juris Rn. 4). Dies gilt auch dann, wenn der jeweilige Wiederaufgreifensgrund - etwa eine Änderung der Sach- oder Rechtslage - allgemeinkundig oder gerichtskundig ist. Denn für jeden neuen Wiederaufgreifensgrund, der während eines bereits anhängigen Asylfolgeverfahrens eingetreten ist, läuft eine eigenständige Drei-Monats-Frist nach § 51 Abs. 3 VwVfG. Dies gilt nicht nur im Verfahren vor dem Bundesamt, sondern auch für während des gerichtlichen Verfahrens neu vorgebrachte Wiederaufgreifensgründe (BVerwG, Beschluss vom 31. Januar 2011 – 10 B 26.10 – Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 57; BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2010 – 10 C 13.09 – BVerwGE 138, 289-301, Rn. 28). Vorliegend enthält sich der Kläger indes jedweder Angabe dazu, wann ihm jene neuen Tatsachen aus dem zitierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18. Januar 2022 bekannt geworden sein sollen, die er im gerichtlichen Verfahren zur Stützung seines Antrages auf Wiederaufgreifen mit diesem Schriftsatz ins Feld führt, wobei es auf die Kenntnis durch den Kläger oder seinen Prozessbevollmächtigten ankommt (BVerwG, Beschluss vom 31. Januar 2011 – 10 B 26.10 – Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 57).
Auch ein weiterer vom Kläger gerlichtlich geltend gemachter Wiederaufgreifensgrund scheitert an dieser aus § 51 Abs. 3 VwVfG folgenden Darlegungsobliegenheit. Der Kläger schweigt zu dem Zeitpunkt des Bekanntwerdens, soweit er – anders als im Schriftsatz vom 31. März 2023 angegeben - erstmals im gerichtlichen Verfahren unter dem 5. März 2021 behauptet, dass der Kontakt zu seinen Angehörigen abgebrochen sei. Unabhängig davon – zur Unglaubhaftigkeit weiter unten - greift dieser Wiederaufgreifensgrund mangels Substantiierung nicht durch, weil der Kläger in diesem Zusammenhang nicht etwa vorträgt, dass er nach Rückkehr nicht mehr auf den Beistand seiner Familie zählen dürfe, etwa weil seine Angehörigen nicht mehr in seinem Heimatort lebten. Ein Abschiebungsverbot besteht jedoch nicht bereits dann, wenn nicht sicher festzustellen ist, ob im Falle einer Rücküberstellung die Befriedigung der bezeichneten Grundbedürfnisse sichergestellt ist, sondern erst, wenn die Befriedigung eines der bezeichneten Grundbedürfnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten ist (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 – 1 B 66.21 – Juris Rn. 18), |
Auch der vom Kläger am 11. April 2023 ins gerichtliche Verfahren eingeführte Bericht der Deutschen Welle vom 1. Februar 2023 „Äthiopien: Norden befriedet, Zentrum umkämpft“ verhilft ihm nicht zum Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens. Dieser Bericht eröffnet schon deshalb nicht die Möglichkeit einer positiven Einschätzung des Begehrens (vgl. zu diesem Maßstab BVerwG, Urteil vom 23. Juni 1987 – 9 C 251.86 –, BVerwGE 77, 323-331 = Juris Rn. 8), weil er sich auf begrenzte, nördlich der Hauptstadt Adis Abeba liegende Landstriche im Bundesstaat Amhara bezieht. Die Gefahren nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG müssen indes landesweit drohen. Zudem liegend die dort genannten Schauplätze heftiger Gefechte, nämlich die Orte Shewa Robit und Senbete, jeweils 600 bis 700 km (rund 12 Autostunden) von dem Heimatort des Klägers Bale Robe entfernt.
Schließlich verdichtet sich das dem Bundesamt eingeräumte (a. A. Beck OK/Heusch AsylG § 31 Rn. 21) Ermessen nicht dahin, dass der Kläger eine erneute Prüfung oder gar Feststellung eines Abschiebungsverbotes beanspruchen kann. Auf das in § 31 Abs. 3 Satz 3 AsylG eingeräumte Ermessen sind jene Grundsätze zu übertragen, die von der bisherigen Rechtsprechung für das Wiederaufgreifen im weiteren Sinne gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG entwickelt wurden. Dafür sprechen nicht nur der Wortlaut („kann absehen“), sondern auch die historische Auslegung. Den Gesetzgebungsmaterialien ist nämlich zu entnehmen, dass die „Änderung … der Klarstellung (dient)“ (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Inneres und Heimat BT-Drs 20/4703 vom 30.11.2022, Seite 11).
Vor Inkrafttreten der seit dem 6. August 2016 bis zum 1. Januar 2023 geltenden Fassung durch Gesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl I, S. 1939) entsprach es höchstrichterlicher Rechtsprechung, dass das Bundesamt bei Fehlen der Voraussetzungen von § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nach pflichtgemäßem Ermessen gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG zu entscheiden hat (BVerwG, Urteil vom 13. August 2020 – 1 C 23.19 – Juris Rn. 19 – 21: sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne), ob die bestandskräftige frühere Entscheidung zurückgenommen oder widerrufen wird. Insoweit besteht ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung. (BVerwG, Urteil vom 21. März 2000 – 9 C 41.99 –, BVerwGE 111, 77/82; BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 2004 – 1 C 15.03 –, BVerwGE 122, 103-109, Rn. 13). Fehlt es an einer behördlichen Ermessensentscheidung, etwa weil der Wiederaufgreifensgrund erst im gerichtlichen Verfahren vorgebracht wurde, ist das Gericht gehalten, die Sache nach Möglichkeit spruchreif zu machen und abschließend zu entscheiden (§ 113 Abs. 5 Satz 1, § 86 Abs. 1 VwGO, § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG; vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 2004 – 1 C 15.03 –, BVerwGE 122, 103-109, Rn. 14 - 15). Eine abschließende gerichtliche Entscheidung zugunsten des Ausländers ist nur dann geboten, wenn ein Festhalten an der bestandskräftigen negativen Entscheidung zu den Abschiebungsverboten zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde und das Ermessen der Behörde deshalb auf Null reduziert ist (BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 2004 – 1 C 15.03 –, BVerwGE 122, 103-109, Rn. 16).
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Aufrechterhaltung der Entscheidung ist nicht „schlechthin unerträglich“. Ob ein solcher Ausnahmefall angenommen werden kann, hängt von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte ab (BVerwG, Urteil vom 7. Oktober 2020 – 2 C 18.19 –, BVerwGE 169, 318-335, Rn. 42). Dies kommt in Betracht, wenn der Ausländer bei einer Abschiebung einer extremen individuellen Gefahrensituation - der Schwere nach vergleichbar einer extremen allgemeinen Gefahrensituation im Sinne der Rechtsprechung zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bzw. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG - ausgesetzt würde und das Absehen von einer Abschiebung daher verfassungsrechtlich zwingend geboten ist. Von einer solchen Ermessensreduzierung kann grundsätzlich nur bei einer Gefährdung mit dieser besonderen Intensität ausgegangen werden (BVerwG, Urteile vom 20. Oktober 2004 - 1 C 15.03 -, BVerwGE 122, 103 = Juris, Rn. 12 f., 16, m. w. N., und vom 7. September 1999 - 1 C 6.99 -, NVwZ 2000, 204 = Juris, Rn. 17).
Gemessen daran kann der Kläger Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm unabhängig von der versäumten Wiederaufgreifensfrist Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde". Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 2. August 2018 – 4 A 2385/14.A – Juris Rn. 12 – 15 unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteile vom 8. September 2011 - 10 C 14.10 -, BVerwGE 140, 319 = Juris, Rn. 22 f., und vom 17. Oktober 2006 - 1 C 18.05 -, BVerwGE 127, 33 = Juris, Rn. 16, jeweils zur verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei Fehlen einer ausländerpolitischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 AufenthG).
Eine solche Extremgefahr macht der Kläger schon selbst nicht geltend. Sie ist auch sonst nicht erkennbar. Mangels glaubhafter Vorverfolgung droht sie schon nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit seitens des Staates. Die bewaffneten Auseinandersetzungen, von denen die Deutsche Welle am 1. Februar 2023 berichtet hat („Äthiopien: Norden befriedet, Zentrum umkämpft“) bedrohen nicht den Kläger, solange er sich in seinem Heimatort aufhält, was ihm auch zumutbar ist. Insoweit wird auf die Ausführungen zu § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG verwiesen. Mangels einer tragfähigen Bescheinigung i.S.d. § 60a Abs. 2c AufenthG stehen keine gesundheitsbedingten Gefahren entgegen. Ebenso wenig begründen die sozio-ökonomischen Bedingungen in Äthiopien eine solche Extremgefahr im individuellen Fall des Klägers. Diesbezüglich wird auf die untenstehenden Ausführungen zu Art. 3 EMRK Bezug genommen.
Das Ergebnis erweist sich auch mit Blick auf § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK bzw. Art 4 EU-GR-Charta nicht als „schlechthin unerträglich“. Anders als der Kläger vermeint, verlangt der absolute Charakter dieser Vorschrift nicht, dass sie ungeachtet der Rechtskraft oder der Bestandskraft jederzeit umfassend neu geprüft werden muss. Ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht gebietet nicht in jedem Fall eine Überprüfung durch die nationalen Behörden (BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2009 – 1 C 26.08 –, BVerwGE 135, 137-150, Rn. 20). Denn auch die Rechtssicherheit gehört zu den im Unionsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen. So hat der Gerichtshof insbesondere festgestellt, dass die Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung, die nach Ablauf angemessener Klagefristen oder Erschöpfung des Rechtswegs eingetreten ist, zur Rechtssicherheit beiträgt und das Unionsrecht nicht verlangt, dass eine Behörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen (st. Rspr. seit EuGH, Urteil vom 13. Januar 20004 – C-435/00 – Rn. 24 und 28: zum Wiederaufgreifen im Anschluss an Feststellung unionsrechtswidriger Praxis nationaler Stellen; zuletzt EuGH, Urteil vom 16. Oktober 2019 – C-189/18 – Juris Rn. 45).
Dass diese Grundsätze auch für Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-GR-Charta gelten, zeigt das Unionsrecht selbst. Der Einwand der res iudicata kann für den gesamten internationalen Schutz Geltung beanspruchen (vgl. Richtlinie 2013/32/EU Erwägungsgrund Nr. 36). Dies gilt also auch für den subsidiären Schutz gemäß Art. 15 lit b) Richtlinie 2011/93/EU wegen Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung. Ist eine behördliche Entscheidung, die den subsidiären Schutz mit Blick auf drohende Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung versagt, in Bestandskraft erwachsen, kann der Antragsteller eine erneute Prüfung nicht mit dem bloßen Hinweis erreichen, dass ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK oder Art. 4 EU-GR-Charta droht. Vielmehr müssen zusätzlich die einschränkenden Voraussetzungen für einen Folgeantrag gemäß Art. 40 Richtlinie 2013/32/EU erfüllt sein. Damit nimmt das Unionsrecht zu Gunsten der Rechtskraft in den Fällen einen möglichen Verstoß gegen Art. 3 EMRK oder Art. 4 EU-GR-Charta hin, in denen die bestandskräftige Entscheidung fehlerhaft ist, oder etwa dann, wenn neue Elemente im früheren Verfahren schuldhaft nicht vorgebracht wurden. Eine Öffnungsklausel für Fälle des offensichtlichen Verstoßes gegen Art. 3 EMRK oder Art. 4 EU-GR-Charta kennt das Unionsrecht an dieser Stelle nicht.
Durchbricht die Berufung auf Art. 3 EMRK oder Art. 4 EU-GR-Charta nach alledem nicht ohne Weiteres die Bestandskraft, kommt ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiteren Sinne nur nach den vom EuGH entwickelten Grundsätzen für die Durchbrechung der Rechtskraft in Betracht, nämlich nur im Falle eines offensichtlichen Verstoßes gegen Unionsrecht (EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2012 – C-249/11 – Rn. 81f. zur Freizügigkeit für Unionsbürger). Dieser Maßstab dürfte jenem Prognosegrad der Extremgefahr entsprechen, der mit der Formulierung "gleichsam sehenden Auges“ umschrieben wird und zu den Grundrechten aus Art. 1 Abs. 1 („Die Würde des Menschen ist unantastbar.“) und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 („Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“) GG entwickeltet wurde.
Im konkreten Falle des Klägers kann von einer Extremgefahr im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK keine Rede sein. Vielmehr ist davon auszugehen, dass schon die beachtliche Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK fehlt.
Dies gilt auch mit Blick auf die sozio-ökonomischen Bedingungen, die den Kläger in Äthiopien nach seiner Rückkehr erwarten.
Für die Rückkehrprognose ist davon auszugehen, dass der Kläger in seinem Heimatort familiären Rückhalt vorfinden wird. Soweit der Kläger erstmals im gerichtlichen Verfahren behauptet, „(d)urch die Flucht als Minderjähriger aus Äthiopien (…) den Kontakt zu seiner Familie verloren (zu haben), sodass ihm unbekannt ist, ob diese noch leben und wenn ja, ob sich die Familienangehörigen weiterhin in Äthiopien aufhalten“, ist ihm dies schon nicht zu glauben, weil es im eklatanten Widerspruch zu seinen eigenen Angaben in der Anhörung vor dem Bundesamt am 18. Juli 2017 steht. Auf die Frage „Haben Sie noch Kontakt zu ihrer Familie in Äthiopien?“ gab der Kläger ausdrücklich an: „Manchmal telefoniere ich mit meiner Familie“. Zu dieser Einschätzung konnte das Gericht auch ohne erneute Befragung des Klägers gelangen. Es ist nämlich nicht ausgeschlossen, dass dem schriftlich festgehaltenen Vorbringen des Asylbewerbers bereits wegen gravierender Widersprüche, erheblicher Ungereimtheiten oder dem völligen Fehlen der erforderlichen Substantiierung jede Glaubhaftigkeit abzusprechen ist. In einem solchen Fall darf sich das Tatsachengericht auch ohne eigene persönliche Anhörung des Ausländers, allein aufgrund dieser Aussage die Überzeugung bilden, dass das behauptete Geschehen nicht der Wahrheit entspricht (BVerwG, Beschluss vom 10. Mai 2002 – 1 B 392.01 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr 259 = Juris Rn. 5). Soweit der Prozessbevollmächtigte geltend macht, bei seiner Befragung vor dem Bundesamt sei der Kläger noch minderjährig gewesen und sein Vormund die erforderliche Sorgfalt habe vermissen lassen, ist nicht erkennbar, wie sich diese – im Übrigen rein spekulativen Annahmen – auf die Richtigkeit des vor dem Bundesamt aufgenommenen Protokolls ausgewirkt haben sollen. Dies gilt umso mehr als der damals 17jährige Kläger seinerzeit bestätigte, dass keine Verständigungsschwierigkeiten aufgetreten waren. Zudem ist ihm das Protokoll rückübersetzt worden. Dabei hat der Kläger auch eine Korrektur hinsichtlich des Geldbetrages, den seine „Eltern“ (sic.) für die Ausreise bezahlt haben, angebracht. Sonstige Korrekturen oder Ergänzungen hat er ausdrücklich nicht gewünscht. Unabhängig davon trägt er in diesem Zusammenhang keine Tatsachen vor, die es zumindest beachtlich wahrscheinlich erscheinen ließen, dass seine Angehörigen nicht mehr in seinem Heimatort lebten und er deshalb er nach Rückkehr nicht mehr auf den Beistand seiner Familie zählen dürfe.
Vor diesem Hintergrund ist eine Extremgefahr auszuschließen. Vielmehr verneint die neuere verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, soweit ersichtlich, einhellig die zur Annahme von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK hinsichtlich sozio-ökonomischer Bedingungen in Äthiopien erforderliche beachtliche Wahrscheinlichkeit (VG Bayreuth, Urteil vom 13. Dezember 2022 – B 7 K 22.30087 – Juris: ein Kleinstkind, das zusammen mit Eltern zurückkehrt, die ihrerseits keine Familie in Äthiopien haben; VG Giessen, Urteil vom 27. Januar 2023 – 6 K 2160/19.GI.A – Juris: ein Mann ohne Familie in Äthiopien; VG Frankfurt a. Main, Urteil vom 1. Februar 2023 – 5 K 2649/17.F.A. – Juris: Eltern mit zwei Kindern und familiären Hintergrund in Äthiopien; VG Giessen, Urteil vom 1. Februar 2023 – 6 K 2222/19.GI.A – Juris: alleinstehende Frau ohne familiären Rückhalt in Äthiopien unter Verweis auf Nachbarschaftshilfe; VG Ansbach, Urteil vom 9. Februar 2023 – AN 9 K 19.30681 – Juris: Mann ohne familiären Hintergrund in Äthiopien; VG Trier, Urteil vom 14. Februar 2023 – 6 K 2236/22.TR – Juris: Frau, die zusammen mit Lebensgefährten und beiden Töchtern zurückkehrt).
Dem hilfsweise gestellten Anfechtungsantrag ist nicht zu entsprechen. Dem Kläger steht nämlich kein Anspruch auf erneute ermessensfehlerfreie Entscheidung zu. Die Beklagte hat ihr Ermessen über das Wiederaufgreifen des Verfahrens fehlerfrei zulasten des Klägers ausgeübt. Ist die Aufrechterhaltung eines bestandskräftigen Verwaltungsakts nicht "schlechthin unerträglich" und das Wiederaufgreifensermessen damit nicht auf Null reduziert, ist es in aller Regel und so auch hier ermessensfehlerfrei, wenn die Behörde dem Aspekt der Rechtssicherheit den Vorzug gibt. Ins Einzelne gehender Ermessenserwägungen bedarf es insoweit nicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. August 2020 – 1 C 23.19 – Juris Rn. 19 - 21). Diesen Anforderungen genügt der angefochtene Bescheid. Des nunmehr im Rahmen des § 31 Abs. 3 Satz 3 AsylG eingeräumten Ermessens war sich das Bundesamt ausweislich der Begründung des angefochtenen Bescheides bewusst und hat es auch fehlerfrei mit dem Ergebnis betätigt, dass es eine erneute Entscheidung ablehnte. So heißt es im angefochtenen Bescheid ausdrücklich: „Das Verfahren kann jedoch. Im Interesse der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns, durch das Bundesamt wiedereröffnet und die bestandskräftige frühere Entscheidung zurückgenommen oder widerrufen werden (§§ 51 Abs. 5, 48 oder 49 VwVfG, Wideraufgreifen im weiteren Sinn). Insoweit besteht ein Anspruch des Antragstellers auf fehlerfreie Ermessensausübung (…).“
Den vom Kläger in der mündlichen Verhandlung schriftlich eingereichten Beweisanregungen war nicht nachzugehen. Sie sind schon verspätet, weil erst in der mündlichen Verhandlung am 25. April 2023 und damit nach der bis zum 13. April 2023 nach § 87b Abs. 3 VwGO gesetzten Frist vorgelegt.
Der auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage, ob der Kläger seine grundlegenden Bedürfnisse sichern kann, gerichtete Beweisantrag ist darüber hinaus unzulässig, weil nicht auf eine Tatsache, sondern auf eine Wertung gerichtet. Im Übrigen ist der Beweisantrag nicht entscheidungserheblich, weil unter der Annahme einer behandlungsbedürftigen PTBS gestellt.
Die auf Einholung eines psychologisch-medizinischen Sachverständigengutachtens gerichtete Beweisregung ist mangels eines glaubhaften Traumas als Ausforschungsbeweisantrag abzulehnen. Fehlt – wie hier - eine den Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG genügende Bescheinigung, besteht für das Gericht auch kein Anlass, einer Erkrankung durch eigene Ermittlungen bzw. Beweiserhebungen weiter nachzugehen (vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. März 2020 – OVG 10 N 4/20 -, Juris; Bayerischer VGH, Beschluss vom 26. August 2020 – 10 ZB 20.31148 -, Juris Rn. 8; Oberverwaltungsgericht Koblenz, Beschluss vom 30. Oktober 2019 – 6 A 11330/18 – Juris; Oberverwaltungsgericht Bremen, Beschluss vom 12. November 2018 – 2 LA 60/18 – Juris).
Die Nebenentscheidungen ergeben sich aus § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 2 VwGO sowie § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.