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Entscheidung 12 U 153/22


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 12. Zivilsenat Entscheidungsdatum 27.04.2023
Aktenzeichen 12 U 153/22 ECLI ECLI:DE:OLGBB:2023:0427.12U153.22.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das am 08.07.2022 verkündete Teil- und Schlussurteil der 4. Zivilkammer - Einzelrichter - des Landgerichts Potsdam, Az. 4 O 331/19, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst: Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von den Kosten der vorgerichtlichen Rechtsverfolgung (Rechtsanwaltsgebühren und Auslagen) ihrer Rechtsanwälte ... & Kollegen Rechtsanwälte in Höhe von 524,79 € freizustellen.

Die Klage wird im Übrigen abgewiesen. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits in erster Instanz tragen die Klägerin zu 33 % und die Beklagte zu 67 %. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

5. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf bis zu 20.000 € festgesetzt.

Gründe

I.

Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall vom XX.03.2016 in ... in Anspruch. Gegenstand des Berufungsverfahrens sind lediglich die im Zusammenhang mit dem Erwerb eines Fahrzeugs PKW 1 stehenden Kosten.

Das Landgericht hat die Beklagte nach inzwischen rechtskräftigem Grund- und Teilurteil mit Teil- und Schlussurteil zur Zahlung von weiteren 18.990 € nebst Zinsen sowie Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten i.H.v. 888,93 € verurteilt und zur Begründung ausgeführt, wie der Zeuge bestätigt habe, habe sich nach einer ersten akuten Krankheitsphase schnell herausgestellt, dass der kleine PKW 2 infolge der unfallbedingten Versteifung der Wirbelsäule sowie der Einschränkungen am Knie nicht mehr benutzt werden könne. Die Nutzung eines Fahrzeuges seines Bruders, ein PKW 3 ...-Klasse, sei jedoch möglich gewesen, sodass man sich für den Erwerb des PKW 1 entschieden habe. Eine Kostenerstattung von dritter Seite habe es nicht gegeben. Wegen der tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Ausführungen wird auf das Urteil verwiesen.

Die Beklagte hat gegen das ihren Prozessbevollmächtigten am 19.07.2022 zugestellte Urteil mit einem am 16.08.2022 beim Brandenburgischen Oberlandesgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese innerhalb der bis zum 19.10.2022 verlängerten Berufungsbegründungsfrist am 18.10.2022 begründet. Sie führt aus, mit den zeugenschaftlichen Angaben des Ehemannes der Klägerin sei der Nachweis einer unfallbedingt notwendigen Anschaffung des Pkw 1 nicht zu führen. Vielmehr habe es eines medizinischen Sachverständigengutachtens bedurft, das von der Klägerin noch nicht einmal angeboten worden sei. Zudem habe sie gegen die Schadensminderungspflicht verstoßen, es sei nicht ersichtlich, dass es sich bei dem Pkw 1 um das kostengünstigste gleichwertige Fahrzeug handele. Das Landgericht setze sich auch nicht mit der Frage der Aktivlegitimation auseinander. Auch insoweit helfe die Zeugenaussage nicht, da der Anspruchsübergang automatisch erfolge, unabhängig davon, ob die Pflegeversicherung leiste. Ohne gutachterliche Unterstützung lege das Landgericht einen Ankaufspreis von lediglich 4.500 € zugrunde, ohne sich zum tatsächlichen Fahrzeugwert zu äußern. Schließlich seien die Rechtsanwaltskosten zu hoch. Dies betreffe zunächst den Ansatz der Kosten für den Pkw 1 aber auch die Höhe der Geschäftsgebühr, die allenfalls mit 1,5 anzusetzen sei.

Die Beklagte beantragt,

das Teil- und Schlussurteil des Landgerichts Potsdam vom 08.07.2022 zum Geschäftszeichen 4 O 331/19 abzuändern und die Klage insoweit insgesamt abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung. Die medizinischen Fragen seien durch das Sachverständigengutachten bereits geklärt. Auch die Beweiswürdigung des Landgerichtes sei durch den Senat nicht überprüfbar, der Schaden hinreichend belegt und durch das Landgericht am Beweismaßstab des § 287 ZPO zutreffend bemessen. Es handele sich hier um einen typischen Fall eines vermehrten Bedürfnisses. Der vorhandene Pkw sei schlicht zu klein und zu eng gewesen, wie sich aus der Zeugenaussage ergebe. Mit ihren Einwendungen gegen den Zeugen sei die Beklagte präkludiert. Sie und ihr Ehemann hätten seinerzeit nach diversen passenden Fahrzeugen gesucht.

II.

Die zulässige Berufung der Beklagten ist hinsichtlich der geltend gemachten Kosten für die Beschaffung eines neuen Fahrzeugs begründet und die Entscheidung des Landgerichts insoweit abzuändern. Die weitergehende Berufung bzgl. der Rechtsverfolgungskosten ist - soweit sie im Zusammenhang mit den bereits rechtskräftig zugesprochenen bzw. erstatteten Schadenspositionen stehen - unbegründet.

1. Die Haftung der Beklagten dem Grunde nach steht nach dem rechtskräftigen Grund- und Teilurteil des Landgerichts fest. Soweit im Berufungsverfahren noch ein Anspruch auf Zahlung von 18.990 € für die Beschaffung eines Ersatzfahrzeuges aus §§ 7 Abs. 1, 17 StVG, § 823 BGB i.V.m. § 115 VVG, § 1 PflVersG im Streit steht, besteht dieser nicht.

Nach § 843 Abs. 1 BGB sind vermehrte Bedürfnisse eines Unfallgeschädigten, die auf Dauer, d.h. auch noch über die Beendigung medizinisch möglicher Heilbehandlung hinaus bestehen, grundsätzlich durch Zahlung einer Rente abzugelten. Unter den Begriff "Vermehrung der Bedürfnisse" werden alle unfallbedingten ständigen, demnach immer wiederkehrenden Aufwendungen gefasst, die den Zweck haben, diejenigen Nachteile auszugleichen, die dem Verletzten infolge dauernder Beeinträchtigung seines körperlichen Wohlbefindens entstehen (BGH, Urteil vom 19. Mai 1981 – VI ZR 108/79 –, Rn. 8, juris). Der Anspruch ist in der Regel auf die Rentenzahlung ausgerichtet und verlangt für die Möglichkeit, eine Kapitalabfindung zu fordern, einen wichtigen Grund. Zur Abgeltung vermehrter Bedürfnisse in besonders gelagerten Fällen kommt ferner ein nach §§ 249, 251 BGB durchzuführender Schadensausgleich in Betracht, wenn durch die einmalige Anschaffung eines Hilfsmittels für den Behinderten dessen erhöhtes Bedürfnis für die Zukunft in ausreichendem Maße befriedigt werden kann (BGH, a.a.O., Rn. 9, juris). Insoweit kommt auch ein Anspruch auf Beschaffung eines Ersatzfahrzeugs in Betracht, wenn es erforderlich und geeignet ist, unfallbedingt entstandene vermehrte Bedürfnisse des Geschädigten zu befriedigen (BGH, Urteil vom 20. Januar 2004 – VI ZR 46/03 –, Rn. 5; BGH, Urteil vom 30. Juni 1970 – VI ZR 5/69 –, Rn. 14; OLG Nürnberg, Urteil vom 23. Dezember 2015 – 12 U 1263/14 –, Rn. 95, juris).

Der gemeinsame Ausgangspunkt der Beurteilung ist damit, dass es sich grundsätzlich um Mehraufwendungen handeln muss, die dauernd und regelmäßig erforderlich sind, die zudem nicht - wie etwa Heilungskosten - der Wiederherstellung der Gesundheit dienen und die im Vergleich zu einem gesunden Menschen erwachsen und sich daher von den allgemeinen Lebenshaltungskosten unterscheiden, welche in gleicher Weise vor und nach einem Unfall anfallen (BGH, a.a.O., Rn. 4, juris). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.

Zunächst hat zwar der Ehemann der Klägerin zeugenschaftlich glaubhaft bekundet, dass das vorhandene Fahrzeug PKW 2 wegen der Sitzhöhe einerseits und den unfallbedingten gesundheitlichen Problemen der Klägerin mit dem Einstieg andererseits nicht mehr als Transportmittel geeignet gewesen sei. Dies hat auch die Klägerin persönlich noch einmal vor dem Senat dargestellt. Allerdings beziehen sich die Schilderungen - der Fahrzeugerwerb hat bereits am 04.05.2016, die Veräußerung des PKW 2 am 03.05.2016 stattgefunden - auf einen Zeitpunkt der akuten Phase der gesundheitlichen Beeinträchtigungen und frühen Heilungsphase. So war die Klägerin aufgrund der Operationen im Anschluss an die bis zum 18.04.2016 dauernde stationäre Behandlung vollständig pflegebedürftig und sogar auf ein Pflegebett angewiesen. Eine spürbare Besserung des Zustandes stellte sich nach ihrem Vortrag erst nach Monaten ein; den Haushalt hat allein der Ehemann übernommen. Sie kann daher zum Zeitpunkt des Fahrzeugerwerbs nicht in der Lage gewesen sein, selbst ein Fahrzeug zu führen. Die von der Klägerin und vom Zeugen geschilderten Beeinträchtigungen wie schmerzbedingte Schwierigkeiten beim Schalten und Kuppeln können daher kein Anlass für den Fahrzeugerwerb gewesen sein. Allenfalls der schwierige Einstieg in das Kleinfahrzeug kann eine Rolle gespielt haben. Da der Klägerin zu diesem Zeitpunkt für die erforderlichen Fahrten zu den Behandlungen sowohl der Krankentransport als auch der PKW 3 des Schwagers und der Firmenwagen des Ehemannes zur Verfügung standen, besteht hier bereits kein Anhalt für „vermehrte Bedürfnisse“, jedenfalls nicht für die Annahme von dauerhaft erforderlichen Maßnahmen.

Dem schloss sich vom XX.06.2016 bis zum XX.07.2016 eine stationäre Rehabilitation an. Dort konnte bereits trotz fortbestehender Schmerzen eine Verbesserung des Gesundheitszustandes und eine Verbesserung der Fähigkeiten hinsichtlich alltagsrelevanter Aktivitäten und der Teilhabe erreicht werden. Insbesondere das Bein links wies keine erheblichen Einschränkungen auf. Die Arbeitsunfähigkeit bestand fort. Mithin erforderte auch hier der Gesundheitszustand der Klägerin keine Fahrten zur Teilhabe insbesondere am Arbeitsleben. Diese erfolgte erst im Juni 2017 im Anschluss an eine Tätigkeit ab Mai 2017 im Hamburger Modell. Bereits im Gutachten der Dr. med. I... vom 28.11.2017 wird ausgeführt, dass sie nach eigenen Angaben selbständig zur Arbeit fährt und 20 Stunden wöchentlich mit Positionswechsel und laufen bewältigt. Die Spontanmotorik beim An- und Ausziehen erfolgt uneingeschränkt. Der Schwerpunkt der fortbestehenden Beeinträchtigungen liegt in der LWS und beim rechten Bein. Nach dem fachchirurgischen Gutachten des Dr. K... vom 27.08.2017 können die Hals- und Lendenwirbelsäule frei gedreht werden. Die Nackenmuskulatur sowie die Kapuzenmuskulatur sind nicht verspannt. Lediglich die Wirbelsäule und das rechte Bein weisen Beeinträchtigungen auf. Nachdem die Klägerin zur Entwicklung der Beeinträchtigungen in Bezug auf die Fähigkeit, ein Fahrzeug zu führen, nicht weiter vorträgt und unter Berücksichtigung ihrer Ausführungen im Senatstermin muss davon ausgegangen werden, dass der Fahrzeugerwerb allein aufgrund der Gesundheitssituation im April / Mai 2016 erfolgte und sich dieser nicht derart verstetigt hat, dass die Klägerin ein anderes Fahrzeug (tieferer Einstieg, Automatikschaltung, Assistenzsysteme wegen erschwerter Kopfdrehung) dauerhaft benötigt hätte. Insoweit überwiegt bei der Entscheidung für die Beschaffung eines anderen Fahrzeugs für den zu diesem Zeitpunkt bereits 7 Jahre alten PKW 2 das für die Familie allgemein bestehende Bedürfnis nach Mobilität, dessen Befriedigung zu den gewöhnlichen Lebenshaltungskosten gehört und die zu erstatten nicht Pflicht des Schädigers ist (vgl. für den Fall des Anbaus eines Hauses BGH, Urteil vom 19. Mai 1981 – VI ZR 108/79 –, Rn. 11, juris). Die Kosten für die mit dem Fahrzeug erfolgten Fahrten zu Behandlungen etc. sind von der Beklagten erstattet worden.

Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner Entscheidung über die Aktivlegitimation der Klägerin.

2. Hinsichtlich der Rechtsverfolgungskosten begehrt die Klägerin lediglich Freistellung von den Kosten. Dieser Anspruch besteht dem Grunde nach und wird auch von der Berufung nicht in Frage gestellt. Der Ansatz einer Geschäftsgebühr von 1,8 begegnet ebenfalls keinen Bedenken. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers stellt in durchschnittlichen Fällen die Schwellengebühr von 1,3 eine Regelgebühr dar (amtliche Begründung, BT-Drucks. 15/1971 S. 206 f.). Bei der Beurteilung der Angemessenheit sind alle Umstände im Einzelfall zu berücksichtigen, vor allem der Umfang und die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, die Bedeutung der Angelegenheit sowie die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers. Eine Gebühr von mehr als 1,3 kann nach Nr. 2300 VV RVG gefordert werden, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig, mithin überdurchschnittlich war (BGH, Urteil vom 31. Oktober 2006 – VI ZR 261/05 –, Rn. 8; OLG Düsseldorf, Urteil vom 27. März 2012 – I-1 U 139/11 –, Rn. 78, juris; Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Urteil vom 08. Mai 2014 – 4 U 61/13 –, Rn. 145 - 149, juris). Unter Berücksichtigung der Toleranzschwelle von 20 % (vgl. BGH, Urteil vom 08. Mai 2012 - VI ZR 273/11 –, Rn. 5, juris) ist danach der erhöhte Ansatz hier nicht zu beanstanden, weil der Rechtsstreit wegen des Umfangs der erlittenen Verletzungen und die Dauer der

Beeinträchtigungen für die Klägerin von erheblicher Bedeutung ist und Art und Umfang der Schadensabwicklung über den Regelfall hinausgeht.

Der für die Berechnung zugrundezulegende Streitwert bemisst sich wie folgt:

Vorprozessual erfolgter Ausgleich

40.008,42 €

Grund- und Teilurteil

35.000,00 €

        

3.648,87 €

abzgl. erst im Prozess geltend gemachter Kosten

- 1.227,98 €

Summe 

77.429,31 €

Daraus folgt ein ersatzfähiger Gebührenanspruch von weiteren 524,79 € (1.333 € * 1,8 + 20 € + MWSt.= 2.879,09 € abzgl. vorgerichtlich gezahlter 2.354,30 €).

3. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 1, 2 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 48 Abs. 1 GKG.