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Entscheidung 9 UF 41/23


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 1. Senat für Familiensachen Entscheidungsdatum 11.05.2023
Aktenzeichen 9 UF 41/23 ECLI ECLI:DE:OLGBB:2023:0511.9UF41.23.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Amtsgerichts Oranienburg - Familiengericht - vom 30.01.2023 (Az.: 35 F 57/22) wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Der Beschwerdewert wird auf 4.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die verheirateten Antragsteller (von Beruf Pflegefachkraft und Pflegehelfer) sind Adoptiveltern des am ... 2018 geborenen Kindes ("Name01") ("Nachname01"), die seit ihrer Geburt im Haushalt der Antragsteller lebt. Das Kind ("Name02") ("Nachname02") ist ein leibliches Geschwisterkind von ("Name01"). Auch ("Name02") sollte durch die Antragsteller adoptiert werden. Der Antragsteller zu 2. hielt sich seit der Geburt von ("Name02") am ...2021 mit dem Kind in der Entbindungsklinik auf. Der Junge wurde am 20.12.2021 den Antragstellern als Pflegevätern übergeben und lebte gemeinsam mit ("Name01") in deren Familie. Am 02.02.2022 berichteten die Antragsteller der Pflegestelle, dass ("Name02") sein linkes Bein nicht richtig bewegen könne. Am 08.02.2022 wurde ("Name02") durch den Hausarzt ins Krankenhaus überwiesen, wo u.a. aufgrund einer Röntgenuntersuchung vom 10.02.2022 mehrere Knochenbrüche des Kindes festgestellt wurden. Die Kinderschutzambulanz des Klinikums Berlin-Buch teilte dem Jugendamt unter dem 15.02.2022 mit, bei dem Säugling seien eine frische Fraktur sowie mehrere ältere Frakturen an Ober- und Unterschenkel rechts, Unterarm links sowie an seitlichen und hinteren Rippen festgestellt worden, die auf Misshandlung hindeuten könnten. Dies wurde auch den Pflegevätern am 21.02.2022 mitgeteilt. Das Kind verblieb zunächst im Krankenhaus.

Das Jugendamt eröffnete daraufhin ein Kinderschutzverfahren und erteilte den Antragstellern Auflagen im Hinblick auf beide Kinder, die sie erfüllten. Untersuchungen von ("Name01") ergaben keine Auffälligkeiten. Bei ("Name02") wurde eine Genetikuntersuchung vorgenommen, die zum Ausschluss einer möglichen Glasknochenerkrankung führte. Am 24.03.2022 wurde durch die Klinik im Beisein einer Helferrunde und der Pflegeväter erläutert, dass die Frakturen 21 bis 42 Tage alt seien. Das Jugendamt äußerte den Verdacht, dass ("Name02") die Knochenbrüche durch unsachgemäße Behandlung durch die Pflegeväter erlitten habe, was diese vehement bestritten. Diese vermuteten, die Brüche könnten vorgeburtlich oder unter der Geburt entstanden sein.

Das Jugendamt hat am 24.03.2022 die Inobhutnahme des Kindes ("Name02") ausgesprochen und ("Name02") in einer Bereitschaftspflegestelle untergebracht.

Nachdem die leiblichen Eltern von ("Name02") am 28.03.2022 gegenüber dem Jugendamt ihre Zustimmung zur Adoption durch die Antragsteller zurückgenommen hatten, hat das Jugendamt eine neue Adoptionspflegefamilie für ("Name02") organisiert und dies den Pflegevätern am 05.04.2022 mitgeteilt. Die Adoptionspflege der Antragsteller wurde zum 08.04.2022 förmlich beendet. Seit 09.04.2022 befindet sich ("Name02") bei der neuen Pflegefamilie; inzwischen steht die Adoption unmittelbar bevor.

In einer schriftlichen Stellungnahme des Klinikums Berlin-Buch vom 19.04.2022 (Bl. 89 ff GA) ist ausgeführt, dass am 23.03.2022 davon ausgegangen wurde, dass die Rippenfrakturen ab der 2. Lebenswoche entstanden seien; eine peripartale bzw. pränatale Entstehung erscheine ausgeschlossen. Nach Zusatzbefund vom 01.06.2022 sei davon auszugehen, dass die Frakturen an Oberschenkel und Schienbein (Femurschaft und Tibiaschaft) am 08.02.2022 frisch gewesen seien. Die Fraktur des Unterarmes (Radiusschaft) sei am 10.02.2022 9 bis 21 Tage alt gewesen. Das genaue Alter der Rippenfrakturen könne nicht ermittelt werden. Insgesamt sei von einer Kindesmisshandlung auszugehen.

Eingehend am 11.05.2022 haben die Antragsteller die Rückführung des Kindes ("Name02") ("Nachname02") in ihren Haushalt gemäß § 1632 Abs. 4 BGB beantragt. Sie machen geltend, dass sie die Fürsorge für ("Name02") wie auch für ("Name01") in vollem Umfang sorgfältig wahrgenommen und insbesondere keine Misshandlungen des Kindes ("Name02") verschuldet hätten. Sie verweisen auf umfängliche Betreuung durch eine Hebamme und Wahrnehmung von U-Untersuchungen, die sämtlich unauffällig gewesen seien. Sie berufen sich auf Art. 6 GG und verweisen auch auf den notwendigen Schutz der Geschwisterbeziehung zwischen ("Name01") und ("Name02"), die bei anderweitig anonymer Adoption völlig unterbunden würde.

Das Amtsgericht hat nach Anhörung der Beteiligten in Übereinstimmung mit dem Jugendamt und den Ausführungen der Verfahrensbeiständin mit Beschluss vom 30.01.2023 den Antrag zurückgewiesen. Wegen der Begründung wird auf den Inhalt des Beschlusses verwiesen. Gegen die am 02.02.2023 zugestellte Entscheidung haben die Antragsteller mit am 21.02.2023 eingegangenen Schriftsatz Beschwerde eingelegt, mit der sie ihren Antrag unter Aufrechterhaltung und Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens weiter verfolgen.

Das Jugendamt und die Verfahrensbeiständin verteidigen die angefochtene Entscheidung als zutreffend. Sie weisen zusätzlich darauf hin, dass sich das Kind nunmehr schon seit längerer Zeit in der neuen Pflegefamilie befindet und dort Bindungen aufgebaut habe. Angesichts des fortbestehenden Verdachts der Misshandlung der bereits erlittenen Bindungsabbrüche sei eine Rückführung nicht zu verantworten.

Der Senat hat mit Hinweis vom 31.03.2023 dargelegt, dass das Rückführungsbegehren bereits aus formalen Gründen (und auch im Übrigen) keine Aussicht auf Erfolg haben wird und eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren angekündigt. Darauf ist nicht mehr Stellung genommen worden.

II.

Die gemäß §§ 59 Abs. 1; 63 Abs. 1, 3; 64 Abs. 1 FamFG zulässige Beschwerde ist unbegründet. Die Voraussetzungen für eine Rückführungsanordnung als Unterfall der Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB liegen nicht vor, wie das Amtsgericht, auf dessen Ausführungen Bezug genommen wird, mit im Wesentlichen zutreffender Begründung festgestellt hat.

Abweichend von der angefochtenen Entscheidung ist allerdings davon auszugehen, dass ("Name02") „längere Zeit“ in Familienpflege der Antragsteller gelebt hat. Der Begriff ist nicht absolut zu verstehen, sondern nach dem Zweck der Regelung unter Berücksichtigung des kindlichen Zeitempfindens (allg. Ansicht; vgl.: juris PK/Viefhues, BGB, 10. A., § 1632 Rz. 39; Staudinger/Salgo, Stand 2020; § 1632 Rz.66). Bei einem Säugling, der unmittelbar nach seiner Geburt bis zur Inobhutnahme in der Familie gelebt hat, ist auch bei einer Dauer von - absolut nur - gut 3 Monaten dieses Merkmal erfüllt, denn es umfasst die bisherige gesamte Lebenszeit.

Es fehlt jedoch an dem notwendigen unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zwischen der Beendigung des Aufenthalts bei den Antragstellern und der Antragstellung auf Rückführung (vgl.: BGH, Beschluss vom 16.11.2016, XII ZB 328/15, bei juris Rz. 19 mit ausführlicher Anmerkung Salgo, FamRZ 2017, 210; Heilmann/Fink, Praxiskomm. Kindschaftsrecht, 2. A.; § 1632 BGB Rz. 41; Erman/Döll, BGB, 16. A., § 1632 Rz. 26), und zwar selbst dann, wenn man es nicht für erforderlich hält, dass dieser zeitliche Zusammenhang auch im Zeitpunkt der Entscheidung noch bestehen muss (so: Heilmann, Erman, a.a.O.; OLG Koblenz, Beschluss vom 20.08.2018, 9 UF 247/18; OLG Frankfurt, Beschluss vom 29.03.2019; 5 UF 15/19; offen gelassen vom BGH, a.a.O.). Denn auch das Merkmal des engen zeitlichen Zusammenhangs muss in Bezug auf das kindliche Zeitempfinden hin ausgelegt werden. Der Schutz des Kindeswohls, den § 1632 Abs. 4 BGB (auch unter Berücksichtigung von Art. 20 UN Kinderrechtekonvention: Schutz der Kontinuität der Lebensverhältnisse) gewährleisten will, ist nicht mehr geboten, bei einer „abgeschlossenen“ Herausnahme aus der bisherigen Pflegefamilie, bei der ein Lebensmittelpunkt des Kindes nunmehr an anderer Stelle eingerichtet ist (BGH, a.a.O.; Rz. 19). Insoweit hat der Schutz des Kindeswohls Priorität gegenüber dem auch der Pflegefamilie zustehenden Schutz aus Art. 6 GG.

("Name02") ist im Alter von 3 Monaten und 8 Tagen, zu einem Zeitpunkt, an dem er bereits nicht mehr in der Familie, sondern im Krankenhaus betreut wurde, am 24.03.2022 in Obhut genommen worden. Den Antragstellern war bekannt, dass gegen sie der Vorwurf erhoben wurde, das Kind sei in ihrem Haushalt massiv körperlich geschädigt worden. Spätestens am 05.04.2022 war ihnen mitgeteilt worden, dass das Jugendamt nicht nur eine Rückkehr in ihren Haushalt für ausgeschlossen hielt, sondern ("Name02") bereits in eine andere Adoptionspflege vermittelt hatte. Der Antrag auf Rückführung ist bei Amtsgericht am 11.05.2022 eingegangen, mithin fast 7 Wochen nach der Inobhutnahme und immerhin mehr als 5 Wochen nach Kenntnis von der Entscheidung über eine neue Pflegefamilie mit dem Ziel der Adoption. Angesichts des sehr jungen Alters des Kindes stellt dieser Zeitraum einen ganz erheblichen Teil der Lebenszeit des Kindes dar und kann nicht mehr als unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang angesehen werden.

Dafür sprechen auch die vom Amtsgericht zutreffend angeführten Erwägungen zur Entwicklung von Bindungen nach den psychologischen Bindungstheorien. Während in der Phase des Zusammenlebens in der Familie der Antragsteller im Wesentlichen von einer (Personen-) unspezifischen Vorbindungsphase auszugehen ist, entwickelt ein Kind im Alter von etwa dem 3. bis zum 8. Lebensmonat ein spezifisches Bindungsverhalten und etwa ab Beginn der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres spezifische (primäre) Bindungen zu bestimmten Betreuungspersonen (nach Bowlby: „Attachment in the making“; vgl. Dettenborn/Walter, Familienrechtspsychologie, 4. A., Ziffer 2.3.2.3.). Da ("Name02") sich nunmehr bereits seit einem Jahr in der neuen Pflegefamilie befindet, ist davon auszugehen, dass er in der neuen Familie bedeutsame Bindungen bereits entwickelt hat, während er solche zu den Antragstellern noch nicht entwickeln konnte. Angesichts des Zeitablaufs ist - zumal ohne Kontakt - von einer völligen Entfremdung zur Familie der Antragsteller auszugehen, so dass für sein Empfinden die beantragte Rückführung keine Heimkehr, sondern eine Trennung bedeuten würde, die mit erheblichen Entwicklungsrisiken einherginge (vgl. Dettenborn, a.a.O., 2.3.2.6.). Dem Anliegen der UN Kinderrechtekonvention, die Kontinuität der Erziehung des Kindes sicherzustellen, kann durch eine Rückführung in einem Fall, in dem bereits bis zur Antragstellung in Bezug auf das kindliche Erleben (zu) viel Zeit verstrichen ist, nicht mehr genügt werden.

Da somit eine inhaltliche Prüfung der Gründe für eine Rückführung in Bezug auf etwaiges gefährdendes Verhalten durch die Antragsteller oder Geschwisterbindung oder Geeignetheit der neuen Adoptionsbewerber nicht zu erfolgen hat, ist der Senat ausnahmsweise durch § 68 Abs. 5 Nr. 3 FamFG nicht gehindert, ohne erneute Anhörung der Beteiligten zu entscheiden. Es handelt sich um eher formale Erwägungen unter Heranziehung allgemeiner entwicklungspsychologischer Gesichtspunkte bei einem sehr jungen Kind, bei der individuelle Entwicklungen (noch) keine Rolle spielen. Etwas anderes ist auch durch die Beteiligten nicht dargelegt worden, die der angekündigten Verfahrensweise nicht entgegen getreten sind und auch zu dem Hinweis inhaltlich nichts weiter vorgetragen haben.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG; die Festsetzung des Beschwerdewerts auf §§ 40; 45 Abs. 1 Nr. 4 FamGKG.

Gründe für die Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 70 Abs. 2 FamFG bestehen nicht; es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf der Grundlage gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung.