Gericht | VG Potsdam 6. Kammer | Entscheidungsdatum | 10.05.2023 | |
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Aktenzeichen | 6 K 352/18.A | ECLI | ECLI:DE:VGPOTSD:2023:0510.6K352.18.A.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 3a Abs 2 Nr 5 AsylVfG 1992, § 3e Abs 1 AsylVfG 1992, § 4 Abs 3 AsylVfG 1992, § 60 Abs 5 AufenthG, § 60 Abs 7 AufenthG |
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheit in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Kläger ist russischer Staatsangehörigkeit und tschetschenischer Volkszugehörigkeit.
Der Kläger reiste gemeinsam mit seinen Eltern und weiteren Geschwistern (Kläger in dem Verfahren VG 6 K 55/18.A) – nach ihren Angaben - im September 2015 aus Tschetschenin zunächst nach S..., wo eine Schwester des Klägers wohnte. Von dort reisten sie über Polen im November 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie am 17. März 2016 bei der Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) in E...förmliche Asylanträge stellten.
Den Antrag lehnte das Bundesamt – unter Hinweis auf einen Eurodac-Treffer und der Zustimmung der polnischen Behörden – mit Bescheid vom 23. Mai 2016 zunächst als unzulässig ab. Auf den gerichtlichen Eilantrag ordnete der vormals zuständige Einzelrichter unter Hinweis auf die familiäre Bindung zu den ggf. transport- bzw. reiseunfähigen Eltern die aufschiebende Wirkung der entsprechenden Klage hinsichtlich der Abschiebungsandrohung an (VG 6 L 471/16.A). Das entsprechende Klageverfahren stellte die vormals zuständige Einzelrichterin ein (VG 6 K 1705/16.A). Den Überstellungsbescheid hob das Bundesamt – nach zwischenzeitlich weiterem erfolgreichem Eilverfahren vor dem erkennenden Gericht (VG 6 L 1333/17.A) – mit Bescheid vom 15. Dezember 2017 unter Hinweis auf den Ablauf der Überstellungsfrist auf.
Der Vater des Klägers (Kläger zu 1. in dem Verfahren VG 6 K 55.18.A, V...) gab zu seinen Asylgründen befragt am 14. Dezember 2017 im Wesentlichen an, er habe als Leiter der bezirklichen Wohnheimverwaltung gearbeitet, als es im Juni 2015 eine Havarie gab, bei dessen Beseitigung einer der beiden von ihm geschickten Arbeiter verstorben sei. Die Untersuchungen zur Todesursache habe Herzinfarkt ergeben, er sei bei der Gerichtsverhandlung am 29. Juni 2015 freigesprochen worden. Die Verwandten des Verstorbenen hätten dennoch auf Blutrache gesonnen. Nachdem auch der Ältestenrat nicht helfen konnte und er Drohbriefe erhalten habe und von den Verwandte, welche bei Kadyrow arbeiteten, aufgesucht worden sei, haben sie Reisepässe beantragt und seien sie zunächst nach S... gegangen. Dort seien zwei Söhne bei der dort bereits lebenden Tochter verblieben, er, seine Frau, eine Tochter (alle Kläger in dem Verfahren VG 6 K 55/18.A) und der Kläger dieses Verfahrens seien dann ausgereist.
Die Mutter des Klägers (Klägerin zu 2. in dem Verfahren VG 6 K 55.18.A, E...) gab zu ihren Asylgründen befragt am gleichen Tag an, wegen der Probleme bezüglich der Blutrache ihres Mannes ausgereist zu sein.
Der Kläger gab zu seinen Asylgründen befragt am 27. November 2017 an, wegen der Probleme seines Vaters ausgereist zu sein. Er selbst kenne die Details nicht, habe aber für die Anhörung einiges Sachen mitbekommen.
Mit Bescheid vom 4. Januar 2018 lehnte das Bundesamt die Anträge des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziff. 1), Asylanerkennung (Ziff. 2) und subsidiären Schutz (Ziff. 3) ab, stellte fest, das Abschiebungsverbote nicht vorlägen (Ziff. 4) und drohte die Abschiebung in die Russische Föderation an (Ziff. 5.) Ferner befristete das Bundesamt das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziff. 6). Zur Begründung führte das Bundesamt in der ablehnenden Entscheidung im Verfahren der Eltern und Schwester des Klägers vom 22. Dezember 2017 im Wesentlichen an, die geschilderte Blutrache stelle keine flüchtlingsrelevante Verfolgung dar. Es fehle zudem im Hinblick auf das Zeitmoment an einer Ausreise unter dem Druck der geschilderten Verfolgungshandlungen. Angesichts des Verbleibs der älteren Söhne in St. Petersburg ohne weitere Vorkommnisse bestünden Zweifel, ob überhaupt die Gefahr einer Blutrache bestehe. Schließlich seien sie auf internen und staatlichen Schutz zu verweisen. In der Begründung des Bescheides betreffend den Kläger des vorliegenden Verfahrens führte das Bundesamt aus, eine eigene Gefährdungslage werde bereits nur pauschal behauptet. Zudem sei auch er auf internen Schutz zu verweisen.
Der Kläger hat am 24. Januar 2018 Klage erhoben. Er tritt zur Begründung unter Vertiefung seines tatsächlichen Vorbringens der Einschätzung des Bundesamts, insbesondere zum internen und staatlichen Schutz entgegen. Zudem bestehe die Gefahr, dass er zum Militär bzw. Wehrdienst eingezogen und dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Hinblick auf das System der Dedowschtschina ausgesetzt sein werden. Zudem sei von staatlicher, politischer Verfolgung auszugehen, wenn man sein Land nicht militärisch beim Krieg in der Ukraine unterstütze. Zudem bestehe krankheitsbedingt ein Abschiebungsverbot sowie wegen der Sperrung des Luftraums als tatsächliche Unmöglichkeit und wegen des internationalen bewaffneten Konflikts, der wirtschaftlichen Lage und dem Austritt Russlands aus dem Europarat. Der Kläger beantragt,
die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. Januar 2018 (Gesch.-Z.: 6633875-160) verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen,
weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf den streitgegenständlichen Bescheid.
Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung informatorisch angehört worden. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte zu diesem Verfahren und zu den Verfahren VG 6 K 55/18.A, VG 6 L 506/16.A, VG 6 K 1867/16.A VG 6 L 470/16.A, VG 6 L 471/16.A, VG 6 K 1704/16.A, VG 6 K 1705/16.A und VG 6 L 1333/17.A sowie der jeweils beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamts Bezug genommen.
Das Gericht konnte trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, nachdem in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -).
Die Klage hat keinen Erfolg.
Die Klage ist zulässig aber unbegründet.
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. Januar 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 S. 1 bzw. Abs. 1 VwGO.
a) Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) i.V.m. § 3 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG). Es ist nach Ansicht des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters nicht davon auszugehen, dass dem Kläger flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG drohen.
aa) Hinsichtlich des Verfolgungsvortrags aus dem Verwaltungsverfahrens, welches im Rahmen der informatorischen Anhörung weiter vorgetragen wurde, wonach insbesondere dem Vater des Klägers Blutrache drohe, ist festzustellen, dass es insoweit bereits an einem flüchtlingsrelevanten Merkmal i.S.d. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 2 AsylG fehlt (vgl. Verwaltungsgericht Potsdam, Urteil vom 8. März 2017 – VG 6 K 4546/16.A –, juris Rn. 26). Die weiteren sich stellenden Fragen, insbesondere, inwieweit dem Kläger dadurch selbst etwas droht, bedürfen daher vorliegend keiner Entscheidung.
bb) Zum anderen ist den aktuellen Erkenntnismitteln auch nicht zu entnehmen, dass russische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr nach Russland allein deshalb staatlich verfolgt wurden, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hatten (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, generiert am 3. Februar 2023, S. 118; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand: 10. September 2022, S. 25; Informationsbericht des European Asylum Support Office (EASO) über das Herkunftsland Russische Föderation zur Situation der Tschetschenen in Russland vom August 2018, S. 56f.). Soweit Memorial von Einzelfällen berichtet, in denen durch die staatlichen Behörden gegenüber Rückkehrern Folter oder unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung bis hin zum Tode verübt worden sei, ist den geschilderten Fällen zu entnehmen, dass dies nicht pauschal und völlig anlassunabhängig von der jeweiligen Situation des Rückkehrers geschehen sein kann. Die geschilderten Einzelfälle heben sich im Wesentlichen erheblich von dem vorliegenden Fall ab, denn hierbei handelte es sich etwa um tschetschenische LGBT-Blogger, einen öffentlich aufgetretenen Aktivisten oder eine nach Tschetschenien zurückgekehrte Person.
cc) Es liegen auch keine Nachfluchtgründe mit Blick auf die (Teil-)Mobilmachung entsprechend des Dekrets des Präsidenten der Russischen Föderation über die Erklärung der (Teil-)Mobilmachung in der Russischen Föderation vom 21. September 2022 vor (abrufbar unter: http://kremlin.ru/events/president/news/69391, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023). Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für den Kläger nach § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG scheidet schon deshalb aus, weil nicht beachtlich wahrscheinlich ist, dass er als Reservist eingezogen wird.
Der Präsidentenerlass über die Verkündung der Teilmobilisierung soll unter der Berücksichtigung der Vorschriften aus dem o. g. Gesetz Nr. 31-FS vom 26. Februar 1997 angewendet werden. Somit unterliegen nach den Rechtsvorschriften ausschließlich Reservisten der Teilmobilmachung (vgl. Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen des BMI vom 30. November 2022 zur Aktualisierung der HKL-Leitsätze des BAMF, Teilmobilmachung/Wehrpflicht in der Russischen Föderation, 10. Februar 2023, S. 2). Nach Art. 51.2 des föderalen Gesetzes vom 28. März 1998 über die Wehrpflicht und den Militärdienst besteht die Reserve zu einem Teil aus den inaktiven Reservisten und zum anderen Teil aus der aktiven Reserve, deren Angehörige sich auf Grundlage eines Vertrages zu militärischem Training verpflichtet haben. Art. 52 Abs. 1 dieses Gesetzes zählt im Einzelnen auf, aus welchen Bürgern sich die Reserve der Streitkräfte der Russischen Föderation zusammensetzt.
Der Kläger unterfällt als Wehrdienstpflichtiger, der noch keinen Wehrdienst geleistet hat, nicht der Norm. Demgemäß ist er nicht von dem Dekret des Präsidenten der Russischen Föderation vom 21. September 2022 erfasst.
Nach Ansicht des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters ist auch davon auszugehen, dass diese rechtlichen Grenzen auch tatsächlich hinreichend Beachtung finden. Zwar lässt sich den eingeführten aktuellen Erkenntnismitteln entnehmen, dass es zu Fehlern im Rahmen der (Teil-)Mobilisierung gekommen ist. Das bestätigten sowohl aktuelle Medienberichte (Beitrag der Novoya Gazeta Europe vom 7. Oktober 2022 mit der Überschrift „Abominable Service“ abrufbar unter: https://novayagazeta.eu/articles/2022/10/07/abominable-service, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023; Briefing Notes des Bundesamts vom 10. Oktober 2022, S. 7) als auch offizielle Verlautbarungen der russischen Regierung (vgl. Beitrag auf der Internetseite des Kremls vom 29.09.2022, abrufbar unter http://kremlin.ru/events/president/news/69459; Beitrag des RND vom 10. Oktober 2022, abrufbar unter: https://www.rnd.de/politik/ukraine-krieg-putin-fordert-erneut-beseitigung-der-probleme-bei-teilmobilmachung-SZZPLFAKWV5V33KZ26OSDXTZ2A.html, alles zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023). Gleichwohl ist nach Ansicht des Gerichts davon auszugehen, dass diese Fehler in einem derartigen Umfang korrigiert werden, dass eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger entgegen der Rechtslage einberufen wird, derzeit nicht besteht. Nicht nur wird seitens der russischen Regierungsstellen, inklusive des Präsidenten mehrfach angekündigt, dass man sich schnell um jeden Fall kümmern und diejenigen, die versehentlich eingezogen wurden, nach Hause zurückschicken werde und dazu die Generalstaatsanwaltschaft aufgefordert sei, Verstöße gegen die Mobilmachung zu verfolgen. Verschiedene Medienberichte bestätigen, dass es auch tatsächlich und in beträchtlichem Umfang zur Rücksendung fälschlich eingezogener Personen gekommen ist (vgl. dazu Übersichten bei Kommersant, abrufbar unter https://www.kommersant.ru/doc/3383238; vgl. auch Beitrag bei Deutsche Welle mit der Überschrift: „Mobilmachung in Russland: Was Einberufene erzählen“, abrufbar unter: https://www.dw.com/de/mobilmachung-in-russland-was-einberufene-erz%C3%A4hlen/a-63283704; Beitrag bei NTV vom 3. Oktober 2022 mit der Überschrift: „Russische Region schickt Tausende Rekruten nach Hause“, abrufbar unter: https://www.n-tv.de/politik/Russische-Region-schickt-Tausende-Rekruten-nach-Hause-article23626608.html; Beitrag bei Al Jazeera vom 3. Oktober 2022 mit der Überschrift: „Thousands of mobilised Russians sent home, deemed unfit for duty“, abrufbar unter: https://www.aljazeera.com/news/2022/10/3/thousands-of-mobilised-russians-sent-home-deemed-unfit-for-duty; Beitrag bei Mosow Times vom 6. Oktober 2022 mit der Überschrift: „Russian Regions Walk Back Ad Hoc Mobilization After Putin Scolding“, abrufbar unter: https://www.themoscowtimes.com/2022/10/12/russias-military-mobilization-targets-the-homeless-poor-reports-a79065; Beitrag der Novoya Gazeta Europe von 7. Oktober 2022 mit der Überschrift „Abominable Service“, alles zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023).
dd) Unabhängig von der Frage der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Einziehung des Klägers zum Wehrdienst und daran anknüpfender Folgen ist nicht ersichtlich, dass eine begründete Furcht vor Verfolgung „wegen“ eines asylrelevanten Merkmals im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG vorliegt. Es fehlt an einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit dafür, dass die russischen Behörden mit einer Einziehung zum Wehrdienst oder einer Bestrafung bei Entziehung zumindest auch an ein asylrelevantes Merkmal anknüpfen. Insbesondere ist eine Verfolgung wegen einer zugeschriebenen politischen Überzeugung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5, § 3a Abs. 3 AsylG) hier nicht ersichtlich.
(1) Die Verpflichtung zum allgemeinen Wehrdienst in der Russischen Föderation trifft nach dem Föderalen Gesetz Nr. 53-FZ über die Wehrpflicht und den Militärdienst vom 28. März 1998 und der Verordnung über die Wehrerfassung vom 27. November 2006 (im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in der Fassung vom 20. Juli 2020) grundsätzlich unterschiedslos alle Männer im Alter von derzeit 18 bis 27 Jahren, die russische Staatsbürger sind und sich in der Russischen Föderation dauerhaft aufhalten bzw. dort gemeldet sind (Malek, Gutachten für das VG Berlin, 2. Februar 2015, S. 6 f.; Auswärtiges Amt, Lagebericht September 2022, S. 10). Eine Unterscheidung nach Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe erfolgt nicht. Auch im Hinblick auf die gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen von der Wehrpflicht oder die Dauer des Grundwehrdienstes lässt sich den Erkenntnismitteln nichts anderes entnehmen.
(2) Auch eine drohende Bestrafung bei Einreise in die Russische Föderation im Falle einer Wehrdienstentziehung führt nicht zu einem Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Denn auch insoweit knüpft der mit der Bestrafung verbundene Eingriff in ein nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 geschütztes Rechtsgut jedenfalls nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit an ein flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal, insbesondere nicht an eine zugeschriebene politische oppositionelle Überzeugung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG an. Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist unter dem Begriff der politischen Überzeugung insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Die politische Überzeugung wird in erheblicher Weise unterdrückt, wenn ein Staat mit Mitteln des Strafrechts oder in anderer Weise auf Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen schon deshalb zugreift, weil dieser seine mit der Staatsraison nicht übereinstimmende politische Meinung nach außen bekundet und damit notwendigerweise eine geistige Wirkung auf die Umwelt ausübt und meinungsbildend auf andere einwirkt. Eine solche Annahme kann insbesondere gerechtfertigt sein, wenn er eine Behandlung erleidet, die härter ist als sie sonst zur Verfolgung ähnlicher - nichtpolitischer - Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat üblich ist, sogenannter "Politmalus". Demgegenüber liegt keine Sanktionierung einer politischen Überzeugung vor, wenn die staatliche Maßnahme allein der Durchsetzung einer alle Staatsbürger gleichermaßen treffenden Pflicht dient. Dies gilt insbesondere auch für Sanktionen, die an eine Wehrdienstentziehung anknüpfen, und zwar auch dann, wenn sie von einem totalitären Staat verhängt werden. Es ist entscheidend, ob der Staat mit ihnen lediglich Angriffe auf seine Grundordnung abwehren, die Allgemeinheit vor Gefahren schützen, seinen Bestand wahren und die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten will oder ob er gleichzeitig auch die Absicht verfolgt, den Betroffenen wegen seiner abweichenden Überzeugung oder wegen sonstiger flüchtlingsschutzerheblicher persönlicher Merkmale zu treffen. Indizien hierfür können ein unverhältnismäßiges Ausmaß der Sanktionen oder deren diskriminierender Charakter sein (Bundesverwaltungsgericht, Urteile vom 19. April 2018 – 1 C 29.17 –, juris Rn. 22 und vom 19. Mai 1987 – 9 C 184.86 –, juris Rn. 16).
Nach diesen Maßstäben drohen russischen Wehrdienstpflichtigen Verfolgungsmaßnahmen wegen einer Entziehung vom Wehrdienst etwa durch bewusstes Ignorieren des Musterungsbescheids oder des Einberufungsbefehls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen der Zuschreibung einer politischen Überzeugung und somit auch nicht in Anknüpfung an dieses asylrelevante Merkmal. Bei einer Gesamtbetrachtung und Würdigung der vorliegenden Erkenntnismittel spricht Überwiegendes gegen eine Anknüpfung an eine zugeschriebene politische Überzeugung bei Sanktionierung der Entziehung vom Grundwehrdienst.
Nach Art. 31 Nr. 4 des russischen Wehrpflicht- und Wehrdienstgesetzes wird ein Bürger, der ohne triftigen Grund nicht zu einer Vorladung durch das Militärkommissariat erscheint, um an Maßnahmen im Zusammenhang mit der Wehrpflicht teilzunehmen, gemäß den Rechtsvorschriften der Russischen Föderation zur Verantwortung gezogen. Laut Senatsbeschluss des Obersten Gerichtes Nr. 3 vom 3. April 2008 gelten auch medizinische Untersuchung, Arbeitstagung der Musterungskommission und Transfer vom Sammelpunkt zum Dienstort als Musterungsmaßnahmen. Als Sich-Entziehen vor dem Wehrdienst kann neben der Nichtbefolgung eines Einberufungsbescheides auch ein eigenmächtiges Verlassen des Sammelpunktes, das Vortäuschen einer Erkrankung, Selbstverletzung, Urkundenfälschung, sonstige Täuschung mit daraus folgender Befreiung vom Militärdienst, die Verweigerung der Annahme des zuzustellenden Einberufungsbescheides, ein Wohnortwechsel zwecks Entziehung vor dem Wehrdienst im Inland sowie die Ausreise ins Ausland ohne Ab- und Anmeldung bei der Wehrüberwachungsbehörde gelten. Art. 328 Strafgesetzbuch sieht für das Sich-Entziehen von der Einberufung zum Militärdienst Geldstrafen vor in Höhe von bis zu 200.000 Rubel (derzeit ca. 2.300 Euro) oder in Höhe des Arbeitsentgelts oder eines sonstigen Einkommens des verurteilten für die Zeit von bis zu 18 Monaten oder Pflichtarbeit für die Dauer von bis zu zwei Jahren oder Arrest für die Dauer von bis zu sechs Monaten oder Freiheitsentzug für die Dauer von bis zu zwei Jahren. Das Sich-Entziehen eines Militärdienstleistenden vor der Erfüllung von Militärdienstpflichten durch Simulierung einer Krankheit oder Herbeiführung einer Selbstverletzung oder Fälschung von Dokumenten oder durch eine sonstige Täuschung wird gem. Art. 339 des Strafgesetzbuchs mit Militärdienstbeschränkung für die Dauer von bis zu einem Jahr, mit Arrest für die Dauer von bis zu sechs Monaten oder mit Haft in einer militärischen Disziplinareinheit für die Dauer von bis zu einem Jahr bestraft. Wurde die gleiche Tat in der Absicht der vollen Befreiung von der Erfüllung der Militärdienstpflichten begangen, so wird sie mit Freiheitsentzug für die Dauer von bis zu 7 Jahren bestraft. Hinzu kommen Strafen von bis zu 3.000 Rubel nach Art. 21.5 und Art. 21.7 des russischen Ordnungswidrigkeitsgesetz (vgl. Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen BMI zur Aktualisierung der HKL-Leitsätze des BAMF (hier_ Teilmobilmachung/ Wehrpflicht in der Russischen Föderation), vom 10. Februar 2023).
Zwar ist im Zuge des Ukrainekrieges ein Anstieg der Anzahl von Strafverfolgungsverfahren wegen Entziehung vom Grundwehrdienst zu verzeichnen. Allein vom 1. Mai 2022 bis zum 20. September 2022 erreichte die Zahl der an russischen Gerichten wegen Wehrdienstentziehung oder Entziehung vom alternativen Zivildienst geführten Strafverfahren mit 410 Strafverfahren ein Zehn-Jahres-Hoch. Im ersten Halbjahr des Jahres 2022 wurden 564 Personen wegen Wehrdienstentziehung verurteilt, auch dies stellt einen deutlichen Anstieg gegenüber den Vorjahren dar. Gleichwohl wurde in allen Fällen (nur) eine Geldstrafe verhängt (vgl. European Union Agency for asylum – euaa – „Major developments in the Russian Federation in relation to political opposition and military service“, 17. Februar 2023, S. 13). Erkenntnisse über Fälle, in denen Haftstrafen verhängt wurden, liegen nicht vor.
Damit ist zwar zu beobachten, dass die russischen Behörden die Wehrdienstentziehung nunmehr konsequenter verfolgen. Die verhängten Strafen befinden sich aber weiterhin auf eher niedrigem Niveau. Eine Zuschreibung politischer Überzeugungen seitens des russischen Staates gegenüber den Wehrdienstpflichtigen, die sich dem Wehrdienst entziehen, vermag der zur Entscheidung berufene Einzelrichter dem daher auch nicht entnehmen. Es mag zwar im Bereich des Vorstellbaren liegen, dass einer Entziehung vom Wehrdienst vor dem Hintergrund eines Krieges, wie hier des Krieges Russlands gegen die Ukraine, von Seiten des Staates eine politische Komponente beigemessen wird. Den vorliegenden Erkenntnissen lässt sich dies hinsichtlich der Sanktionierung der Grundwehrdienstentziehung jedoch nicht entnehmen. Vielmehr zeigen diese, dass die Wehrdienstentziehung zwar konsequenter verfolgt wird als in der Vergangenheit. In diesem Vorgehen spiegelt sich auch jedenfalls der deutliche Personalbedarf der russischen Streitkräfte – gerade auch aufgrund des Ukrainekrieges – wider. Dagegen lässt sich aber weder den verhängten Strafen, noch der Gesetzgebung oder der tatsächlichen Praxis der Strafverfolgung als solcher ein Anhaltspunkt für eine Anknüpfung an eine zugeschriebene politische Überzeugung entnehmen, die sich etwa in einer besonderen Strafschärfe niederschlagen würde (ebenso: Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 20. März 2023 – VG 33 K 143.19 A – juris, Rn. 67 ff. m.w.N.).
Auch hinsichtlich des Angriffskrieges gegen die Ukraine ergibt sich unter Berücksichtigung der besonderen Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG nichts Anderes. Insoweit ist schon der persönliche Anwendungsbereich nicht eröffnet. Denn der Kläger ist im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kein Militärangehöriger. Notwendige Voraussetzung für die Anwendung des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ist jedoch, dass der Schutzsuchende Militärangehöriger ist oder vor seiner Flucht war und sich dem Militärdienst durch die Flucht entzogen hat oder entzieht. Voraussetzung dafür ist aber jedenfalls, dass eine Einberufung des Schutzsuchenden zum Militärdienst bereits erfolgt ist (Verwaltungsgericht Köln, Urteil vom 13. September 2022 – 8 K 233/17.A – juris Rn. 192 f. m.w.N.)
b) Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 S. 1 AsylG.
Nach § 4 Abs. 1 S. 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Gemäß Satz 2 der Norm gilt als ernsthafter Schaden die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Der Begriff der Folter ist unter Rückgriff auf die inhaltlich übereinstimmende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und die UN-Anti-Folter-Konvention auszulegen. Im Übrigen ist der eng an Art 3. EMRK angelehnte Wortlaut der Vorschrift unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR zu interpretieren. Von einer unmenschlichen Behandlung geht der EGMR insbesondere dann aus, wenn ein bestimmtes Verhalten vorsätzlich für mehrere Stunden am Stück angewandt wurde und entweder eine körperliche Verletzung oder intensive physische oder psychische Leiden verursacht hat (vgl. EGMR, Urteil vom 15. Juli 2002 - 47095/99 - (Kalaschnikow/Russland), juris, Rn. 95f. m.w.N.). Erniedrigend ist eine Behandlung nach der Rechtsprechung des EGMR, wenn sie eine Person demütigt oder erniedrigt, es an Achtung für ihre Menschenwürde fehlen lässt oder sie herabsetzt oder in ihr Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit erweckt, die geeignet sind, den moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen (vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 (M.S.S./Belgien u. Griechenland) -, juris). Ein drohender ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 1 AsylG erfordert stets eine erhebliche individuelle Gefahrendichte. Diese kann nur angenommen werden, wenn dem Schutzsuchenden ein ernsthafter Schaden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dieser Prüfungsmaßstab folgt aus dem Tatbestandsmerkmal „...tatsächlich Gefahr liefe ...“ in Art. 2 lit. f der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU. Der darin enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung EGMR, der bei Prüfung von Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“), was im Wesentlichen dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 -, juris Rn. 18 ff., Urteil vom 17. November 2011 - 10 C 13/10 -, juris Rn. 20, jeweils unter Bezugnahme auf EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008 - 37201/06 - <Saadi/Italien> -, NVwZ 2008, 1330). Ein „real risk“ in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn bei zusammenfassender Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für die Gefahr eines ernsthaften Schadens sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Für den Wahrscheinlichkeitsmaßstab nicht entscheidend ist, ob bereits eine Vorverfolgung oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG tatsächlich eingetreten war oder ist (vgl. Art. 15 RL 2011/95/EU und EuGH, Urteil vom 02. März 2010, Rs. C-175/08 Rn. 84 <Salahadin Abdulla>).
aa) Ausgehend von diesen Grundsätzen hält es der zur Entscheidung berufenen Einzelrichter nicht für beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger ein ernsthafter Schaden wegen der vorgetragenen Vorverfolgung droht. Zur Begründung wird zunächst zur Meidung von Wiederholungen gemäß § 77 Abs. 3 AsylG auf die diesbezüglichen Ausführungen im angefochtenen Bescheid Bezug genommen. Es ist nichts dafür ersichtlich, das Anlass zu einer abweichenden Beurteilung der Sach- und Rechtslage geben könnte.
Ergänzend weist der zur Entscheidung berufenen Einzelrichters darauf hin, dass das Bestehen einer die inländische Fluchtalternative ausschließenden
Verfolgungssituation bei Tschetschenen auch nach den eingeführten aktuellen
Erkenntnismitteln nur dann anzunehmen ist, wenn entweder ein landesweites
Verfolgungsinteresse föderaler Sicherheitsbehörden glaubhaft gemacht werden kann oder konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass seitens der tschetschenischen Sicherheitsbehörden ein derart großes Interesse an der Ergreifung des Betroffenen besteht, dass diese mit beachtlicher Aussicht auf Erfolg eine Festnahme und offizielle Überstellung durch die föderalen oder lokalen Behörden in der übrigen Russischen Föderation bewirken können oder das die tschetschenischen Sicherheitsbehörden trotz der hierdurch bewirkten politischen Verwerfungen zu einem inoffiziellen
Tätigwerden außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs verleiten kann (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen
Föderation [Stand: 10. September 2022], S. 17; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Stand: 3. Februar 2023 S. 94 ff;; ausführlich hierzu Galeotti, Lizenz zum Töten? Das Risiko für Tschetschenen innerhalb Russlands, Juni 2019, S. 16 ff.; vgl. Verwaltungsgericht Potsdam, 6. Kammer, Urteile vom 10. Mai 2017 - 6 K 4904/16.A - juris Rn. 23 ff und vom 14. Januar 2020 – VG 6 K 246/16.A –; Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 28. Mai 2020 – 2 L 25/18 –, juris Rn. 47; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 16. Juli 2019 – 11 B 18.32129 –, juris Rn. 47 ff.; Verwaltungsgericht Cottbus, Urteil vom 15. November 2019 – 1 K 1579/18.A –, Rn. 36 ff., juris, m. w. N). Anhaltspunkte für das eine oder das andere liegen nicht vor. Es ist bereits nichts dafür ersichtlich, dass russische oder föderale Stellen den Kläger separatistischer oder sonst regimefeindlicher Einstellungen verdächtigt haben und daher oder aus anderem Grund ein gesteigertes Verfolgungsinteresse an ihm haben oder im Falle ihrer Rückkehr in die Russische Föderation heute haben könnten. Dagegen spricht zudem, dass er in St. Petersburg nicht behelligt wurde und die übrigen Familienangehörigen, d.h. zwei Brüder Söhne und eine Schwester des Klägers dort weiter verbleiben können. Ferner hat der Vater des Klägers in der informatorischen Anhörung auf die entsprechende Frage des Gerichts nach der Verfolgungssituation seiner Söhne angegeben: „Solange ich lebe, werde ich verfolgt, vollständig. Wenn ich sterbe, dann wird der älteste Sohn verfolgt, und so weiter.“ Daraus folgt bereits, dass eine Verfolgungssituation für den Kläger zum derzeitigen Zeitpunkt nicht besteht. Zudem spricht ohnehin der Zeitablauf von fast acht Jahren seit den vorgetragenen Vorgängen dafür, dass nunmehr ohnehin ein etwaiges Interesse an dem Kläger jedenfalls nicht mehr (fort-)besteht.
Auch sprechen weder die allgemeinen Gegebenheiten noch die persönlichen Umstände dafür, dass es dem Kläger unzumutbar wäre, seinen Aufenthalt in anderen Regionen der Russischen Föderation zu nehmen. Schließlich ist der Kläger auch hier in Deutschland im Sicherheitsgewerbe tätig und mithin arbeitsfähig. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation in der Lage sein wird, nach Überwindung von etwaigen Anfangsschwierigkeiten und unter Nutzung familiärer bzw. freundschaftlicher Netzwerk seinen Lebensunterhalt oberhalb des Existenzminimums zu sichern.
bb) Nach obigem Maßstab hält der zur Entscheidung berufenen Einzelrichter es überdies nicht für beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger ein ernsthafter Schaden in Form einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung bei Rückkehr im Rahmen einer Einziehung zum Wehrdienst und Einsatz in der Ukraine oder Weigerung in diesem Zusammenhang droht (in der Wertung abweichend: Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 20. März 2023 – VG 33 K 143.19 A – juris, Rn. 76 ff.).
(1) Es ist bereits nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger überhaupt zum Wehrdienst herangezogen wird.
Zu berücksichtigen ist insoweit, dass von den jährlich ca. 1,2 Millionen der Wehrpflicht unterfallenden Männern lediglich die Hälfte die Aufforderung erhält, sich bei den örtlichen Einberufungsämtern zum Zwecke der Musterung zu melden (vgl. Danish Immigration Service, Country of origin information - Russia - An update on military service since July 2022, 19. Dezember 2022, S. 17; European Union Agency for Asylum, The Russian Federation - Military service, 16. Dezember 2022, S. 15). Selbst wenn zu Gunsten des Klägers unterstellt wird, dass er zur Musterung geladen wird, ist zu berücksichtigen, dass von den Wehrpflichtigen nur jeder Vierte bis Fünfte tatsächlich eingezogen wird. So wurden im Jahr 2019 insgesamt 267.000 Personen, im Jahr 2020 insgesamt 263.000 Personen, im Jahr 2021 insgesamt 261.000 Personen und Jahr 2022 insgesamt 254.500 Personen einberufen (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zur Russische Föderation vom 16. Mai 2022, [a-11873-2], S. 4 ff.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 3. Februar 2023, S. 34).
Dabei verkennt das Gericht nicht, dass das russische Parlament am 11. April 2023 beschlossen hat, dass künftig Einberufungsbescheide für Wehrpflichtige und Reservisten nicht mehr (nur) persönlich überreicht, sondern auf elektronischem Weg zugestellt werden können, es ab dem Zeitpunkt der Zustellung online erfassten Wehrpflichtigen und Reservisten verboten ist, das Staatsgebiet zu verlassen, und den Vorgeladenen ein Zeitraum von 20 Tagen ab dem jeweiligen Zustellungsdatum zur Verfügung steht, sich zu stellen, andernfalls drastische Rechtsbeschränkungen, Bußgelder und Strafen verhängt werden können. Zudem führen diese gesetzlichen Änderungen dazu, dass ein gerichtliches Vorgehen nicht mehr dazu führt, dass die Wehrpflicht für die Dauer des Verfahrens automatisch ausgesetzt wird. Die Aussetzung der Entscheidung der Wehrdienstkommission ist vielmehr nur nach Ermessen des Gerichts möglich (vgl. Beitrag der Süddeutschen Zeitung mit dem Titel „Moskau erhöht Druck auf Wehrpflichtige“ vom 12. April 2023, abrufbar unter https://www.sueddeutsche.de/politik/enthauptung-einberufung-video-russland-1.5795147; Beitrag der BBC mit dem Titel „Ukraine war: Russian parliament approves online call-up“, vom 12. April 2023, abrufbar unter: https://www.bbc.com/news/world-europe-65239093, alle zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023).
Schließlich und entscheidend ist jedoch zu berücksichtigen, dass trotz der jüngsten Verschärfungen des Wehr- und Militärrechts die Möglichkeit, den Wehrdienst durch einen alternativen Zivildienst zu ersetzen, aufrechterhalten geblieben ist (vgl. Beitrag bei meduza mit dem Titel: „Drafting the defenseless A military lawyer discusses Russia’s newly amended conscription law and gives his best advice to draft-eligible men who don’t want to join the army“ vom 12. April 2023, abrufbar unter: https://meduza.io/en/feature/2023/04/12/drafting-the-defenseless; Beitrag auf dem Online-Medium zona.media mit dem Titel „Es ist unmöglich, keine Vorladung zu erhalten. Die Staatsduma verabschiedete neue Regeln für die Wehrpflicht, vom 11. April 2023, übersetzt mit google translate, abrufbar unter https://zona.media/article/2023/04/11/povestka, alles zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023; European Union Agency for asylum – euaa – „Major developments in the Russian Federation in relation to political opposition and military service“, 17. Februar 2023, S. 11). Das Recht auf einen zivilen Ersatzdienst (Zivildienst) aus Gewissens-, religiösen oder anderen Gründen wird durch Art. 59 der russischen Verfassung garantiert. Eine gesetzliche Grundlage stellt das Föderale Gesetz über den alternativen Zivildienst dar (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 3. Februar 2023, S. 40 f.). Eine Verweigerung des Wehrdienstes ist damit in der Russischen Föderation von Rechts wegen möglich; Verweigerungen werden auch tatsächlich jedenfalls bei der Hälfte der Fälle anerkannt (vgl. European Union Agency for Asylum, The Russian Federation - Military service, 16. Dezember 2022, S. 20 f.). Zudem werden im Fall des gerichtlichen Vorgehens gegen eine entsprechende Ablehnung die Wehrpflichtaktivitäten ausgesetzt (vgl. Beiträge bei meduza und zona.media a.a.O.). Es ist nichts dafür ersichtlich bzw. substantiiert vorgetragen, warum dem Kläger der Weg des alternativen Zivildienstes verwehrt sein sollte (ebenso: Verwaltungsgericht Potsdam, Urteile vom 17. April 2023 – VG 16 K 3778/17.A – S. 20 ff. d. Umdrucks und vom 21. April 2023 – 16 K 2790/17.A –, juris Rn. 84; Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder), Urteil vom 22. Februar 2023 – 10 K 2070/17.A –, juris Rn. 19; insoweit nicht ausdrücklich berücksichtigend: Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 20. März 2023 – VG 33 K 143.19 A – juris, Rn. 76 ff.).
(2) Darüber würde dem Kläger auch im Rahmen des Wehrdienstes kein ernsthafter Schaden in Form einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung drohen.
(aa) Soweit die Prozessbevollmächtigte des Klägers insoweit auf das System der sogenannten Dedowschtschina, d.h. der systematischen Misshandlungen und Erniedrigung von Soldaten durch Vorgesetzte aller Dienstgrade oder ältere Wehrpflichtige verweist, gereicht das der Klage nicht zum Erfolg. Nach der aktuellen Auskunftslage liegen keine stichhaltigen Gründe dafür vor, dass Wehrdienstleistenden in der Russischen Föderation eine Art. 3 EMRK verletzende Behandlung droht, indem sie dem ausgesetzt werden. Nach aktueller Auskunftslage ist dies zwar weiterhin nicht auszuschließen, aber nicht mehr beachtlich wahrscheinlich (vgl. dazu ausführlich: BVerwG, Urteil vom 27. März 2018 – 1 A 4/17 –, juris Rn. 126 ff.; Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 6. Juli 2020 – 2 A 859/19.A –, juris Rn. 9). Gegenteiliges trägt auch die Prozessbevollmächtigte des Klägers nicht substantiiert vor. Es mag zwar im Bereich des Vorstellbaren liegen, dass vor dem Hintergrund eines Krieges, wie hier des Krieges Russlands gegen die Ukraine, die Behandlung der militärisch Untergegeben stärker von Misshandlungen und Erniedrigung geprägt sein könnte. Den vorliegenden aktuellen Erkenntnismitteln lässt sich dies jedoch nicht entnehmen. Auch die seitens der Prozessbevollmächtigten vorgetragenen Erkenntnisse datieren bereits alle von vor 2016 und sind insoweit nicht ergiebig.
(bb) Es ist zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt auch nicht davon auszugehen, dass bei einer etwaigen Einziehung zur Wehrpflicht der Kläger damit zu rechnen hätte, zwangsweise an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und völkerrechts- und/oder menschenrechtswidrigen Handlungen teilnehmen zu müssen bzw. selbst schweren Schaden an Leib und Leben zu erleiden.
In rechtlicher Hinsicht ermöglicht zwar Art. 2 Abs. 3 des Präsidialdekretes Nr. 1237 vom 16. September 1999 über „Fragen des Militärdienstes", dass Grundwehrdienstleistende „zur Erfüllung von Aufgaben in bewaffneten Konflikten“ eingesetzt werden können, nachdem sie einen mindestens viermonatigen Wehrdienst und eine Ausbildung in ihrer militärischen Spezialisierung absolviert haben (vgl. Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen des BMI vom 30. November 2022 zur Aktualisierung der HKL-Leitsätze des BAMF, Teilmobilmachung/Wehrpflicht in der Russischen Föderation, 10. Februar 2023, Seite 2-3; European Union Agency for Asylum, The Russian Federation - Military service, 16. Dezember 2022, Seite 37). Grundwehrdienstleistende gehören rechtlich indes nicht zu den Reservisten (Art. 52, 53 des föderalen Gesetzes vom 28. März 1998 über die Wehrpflicht und den Militärdienst) und sind damit nicht für den Kriegsdienst vorgesehen (Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen des BMI vom 30. November 2022 zur Aktualisierung der HKL-Leitsätze des BAMF, Teilmobilmachung/Wehrpflicht in der Russischen Föderation, 10. Februar 2023, S. 2).
Zudem ist davon auszugehen, dass auch tatsächlich keine Wehrpflichtigen in einem über den Einzelfall hinausgehenden Maß im Ukrainekrieg eingesetzt werden. Es ist zwar festzustellen, dass direkt nach Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 über zahlreiche Grundwehrdienstleistende berichtet wurde, die nach Gruppierung der russischen Armee in Belarus in den Angriffskrieg gegen die Ukraine befehligt wurden und Wehrdienstleistende an Bord des am 14. April 2022 versenkten Flaggschiffs der russischen Schwarzmeerflotte „Moskva“ gewesen sein sollen. Auch im Juni 2022 sprach der Militärstaatsanwalt des Moskauer und St. Petersburger Militärbezirks von rund 600 ihm bekannten Fällen aus seinem Militärbezirk, in denen Wehrpflichtige gesetzeswidrig in der Ukraine zum Einsatz kamen (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zur Russische Föderation vom 16. Mai 2022, [a-11873-2], S. 4-9; Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen des BMI vom 30. November 2022 zur Aktualisierung der HKL-Leitsätze des BAMF, Teilmobilmachung/Wehrpflicht in der Russischen Föderation, 10. Februar 2023, S. 2 f.). Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass Grundwehrdienstleistende weiterhin im Rahmen ihrer Wehrpflicht in der Ukraine und somit für den russischen Angriffskrieg eingesetzt werden (vgl. Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen des BMI vom 30. November 2022 zur Aktualisierung der HKL-Leitsätze des BAMF, Teilmobilmachung/Wehrpflicht in der Russischen Föderation, 10. Februar 2023, S. 2). Dies allein genügt jedoch nicht für eine Prognoseentscheidung zu Gunsten des Klägers. Denn das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 4. Juli 2019 klargestellt, dass ein Gericht das geltende Beweismaß der vollen richterlichen Überzeugung der Prognose beachtlicher Wahrscheinlichkeit unterschreitet, wenn es genügen lässt, dass eine Verfolgungshandlung keineswegs ausgeschlossen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 31/18 - juris, Rn. 24). Seit der Erklärung der Teilmobilmachung am 21. September 2022 und der Annexion ukrainischer Gebiete am 30. September 2022, mithin seit über einem halben Jahr, gibt es indes nur noch vereinzelte Berichte, dass Wehrpflichtige an die Front gebracht werden. Hinweise, dass Wehrpflichtige in einem über Einzelfälle hinausgehenden Ausmaß an die Front oder in die besetzten Gebiete mit Ausnahme der Krim und der Grenzgebiete entsandt werden, gibt es hingegen gerade nicht (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation vom 3. Februar 2023, S. 35; Danish Immigration Service, Country of origin information - Russia - An update on military service since July 2022, 19. Dezember 2022, S. 17; European Union Agency for Asylum, The Russian Federation - Military service, 16. Dezember 2022, S. 38). In diesem Sinne haben sich auch Staatspräsident Putin und Verteidigungsminister Shoigu bei mehreren Gelegenheiten im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine geäußert. Das in den besetzten ukrainischen Gebieten eingesetzte russische militärische Personal soll sich vielmehr im Grundsatz aus drei Gruppen zusammensetzen: (1) „Vertragssoldaten" (sog. „kontraktniki"), (2) im Rahmen der Teilmobilmachung eingezogene Reservisten sowie (3) Freiwillige (vgl. Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen des BMI vom 30. November 2022 zur Aktualisierung der HKL-Leitsätze des BAMF, Teilmobilmachung/Wehrpflicht in der Russischen Föderation, 10. Februar 2023, S. 2).
(cc) Es ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger während eines etwaigen Dienstes als Wehrpflichtiger dazu gezwungen sein wird, sich als Vertragssoldat zu verpflichten.
Es existieren zwar Medienberichte über die Nötigung von Grundwehrdienstleistenden zum Abschluss eines Vertrags über die „freiwillige" Teilnahme an der sogenannten „Sonderoperation“. Zudem heißt es, dass die Vorgesetzten unter Druck stünden, neues Personal für die sog. „Sonderoperation" zu gewinnen (vgl. Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen des BMI vom 30. November 2022 zur Aktualisierung der HKL-Leitsätze des BAMF, Teilmobilmachung/Wehrpflicht in der Russischen Föderation, 10. Februar 2023, S. 3; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation vom 3. Februar 2023, S. 35; Danish Immigration Service, Country of origin information - Russia - An update on military service since July 2022, 19. Dezember 2022, S. 17 f.). Außerdem wurde im Rahmen der zuvor ausgeführten jüngsten Gesetzessänderung vom 11. April 2023 auch beschlossen, dass es in Zukunft möglich ist, sofort einen Vertrag über den Militärdienst zu unterzeichnen, ohne zuvor einen mindestens dreimonatigen Wehrdienst absolvieren zu müssen (vgl. die vorbezeichneten Artikel auf zona.media und Meduza vom 11. April 2023).
In den einschlägigen Erkenntnismitteln liegen jedoch keine belastbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass Wehrdienstleistende in einem über Einzelfälle hinausgehenden Ausmaß zum Abschluss eines Vertrags über die „freiwillige" Teilnahme an der sogenannten „Sonderoperation" genötigt werden, sodass nicht beachtlich wahrscheinlich ist, dass der Kläger – abgesehen davon, dass nicht jeder Vertragssoldat in der Ukraine eingesetzt werden dürfte – zu dem Personenkreis gehören wird, der gegen seinen Willen zu einem Vertragssoldat wird. Ein auf dem Gebiet der Wehrpflicht kenntnisreicher Menschenrechtsaktivist berichtete, dass Fälle der Täuschung und/oder des Zwanges bei Vertragsschluss seiner Erfahrung nach im niedrigen zweistelligen Bereich liegen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 3. Februar 2023, S. 35 f.; Danish Immigration Service, Country of origin information - Russia - An update on military service since July 2022, 19. Dezember 2022, S. 17 f.; European Union Agency for Asylum, The Russian Federation - Military service, 16. Dezember 2022, S. 37 f.; Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen des BMI vom 30. November 2022 zur Aktualisierung der HKL-Leitsätze des BAMF, Teilmobilmachung/Wehrpflicht in der Russischen Föderation, 10. Februar 2023, S. 3).
(dd) Nach den vorliegenden Erkenntnissen droht dem Kläger schließlich auch nicht gegen seinen Willen für eine tschetschenische Kampfeinheit eingezogen und in die Ukraine entsandt zu werden. Davon ist nach Ansicht des Gerichts und angesichts der vorliegenden Erkenntnisse nämlich bereits nicht auszugehen. Der tschetschenische Machthaber Kadyrow hat zwar – mutmaßlich zum Beweis seiner Loyalität zu Putin und zum Ausbau seiner Macht – die Entsendung nicht nur seiner Spezialeinheit „Kadyrowzy", sondern auch immer weiterer Truppen in die Ukraine versprochen; tausende Truppen wurden bereits entsandt (ACCORD, Anfragebeantwortung zur Russische Föderation: 1) Allgemeine Informationen zur russischen Armee und zur Wehrpflicht, Generalmobilmachung, Einberufung von Reservisten; 2) Einsatz von Wehrpflichtigen in der Ukraine; 3) Möglichkeiten von Zivildienst; 4) Weigerung an Kampfhandlungen teilzunehmen, Wehrdienstverweigerung, Desertion; 5) Einsatz von Männern aus Tschetschenien; 6) Sind die Soldatenmütter aktiv? vom 16. Mai 2022, S. 17 f.; Memorial, Auskunft vom 29. August 2022). Keiner Entscheidung bedarf, ob es sich insoweit – wie von Kadyrow öffentlich dargestellt – tatsächlich ausschließlich um „Freiwillige" handelt, die in das umkämpfte Gebiet in der Ukraine geschickt werden oder ob – wofür den Erkenntnismitteln einiges entnommen werden kann – jedenfalls ein Großteil der in der Ukraine eingesetzten Kämpfer zu dem Einsatz gezwungen wurden und ihnen mit Gefängnis oder mit Vergeltungsmaßnahmen gegen ihre Verwandten gedroht wird, sollten sie sich widersetzen (ACCORD vom 16. Mai 2022, S. 17 f. S. 18 ff., vgl. Verwaltungsgericht Berlin, Beschluss vom 30. Juni 2022 – VG 33 L 158/22.A).
Es ist nämlich davon auszugehen, dass für den Kläger jedenfalls die Möglichkeit des internen Schutzes gemäß § 3e AsylG, der auch für den subsidiären Schutz gilt (vgl. § 4 Abs. 3 AsylG), besteht. Es ist überdies nichts dafür ersichtlich, dass Kadyrow derartige Kämpfer landesweit – unabhängig von einer etwaigen Wehrpflicht – rekrutiert und daher auch auf Personen zugreifen würde, die außerhalb Tschetscheniens aufhältig sind (vgl. Verwaltungsgericht Potsdam, Gerichtsbescheid vom 8. September 2022 – 6 K 2244/18.A –, juris Rn. 31, Urteil vom 15. November 2022 – 6 K 650/16.A –, juris Rn. 32; Frankfurt (Oder), Urteil vom 22. März 2022 – 6 K 1110/17.A –, juris Rn. 30).
cc)Entgegen der Ansicht der Prozessbevollmächtigten des Klägers ist ferner nicht davon auszugehen, dass eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts i.S.d. § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG besteht. Militärische Aktivitäten im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine betreffen das Gebiet der Russischen Föderation nicht in einem Maß, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. zum Maßstab: BeckOK AuslR/Kluth, 36. Ed. 1.1.2023, AsylG § 4 Rn. 23 m.w.N.; zum Tatsächlichen: BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, generiert am 3. Februar 2023, S. 13 f.). Das trägt auch der Kläger nicht substantiiert vor.
c) Der weiter hilfsweise geltend gemachte Anspruch des Klägers auf Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG besteht ebenfalls nicht.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich dies aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, insbesondere der Bestimmung des Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf. Nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, kurz: bei existentiellen Gesundheitsgefahren.
Nach diesen Maßstäben ist die entsprechende Entscheidung des Bundesamts rechtlich nicht zu beanstanden. Das Gericht schließt sich insoweit der Begründung durch das Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid an, auf den zur Vermeidung von Wiederholungen ebenfalls gemäß § 77 Abs. 3 AsylG verwiesen wird.
aa) Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass nach Ansicht des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters ein Abschiebungsverbot auch nicht mit den aktuellen Lebensbedingungen in der Russischen Föderation begründet werden kann (vgl. Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder), Urteil vom 22. März 2022 – 6 K 1110/17.A –, juris Rn. 37 ff.). Tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass es dem Kläger unter Nutzung familiärer bzw. freundschaftlicher Netzwerke nicht möglich wäre, seine Existenzgrundlage zu sichern, bestehen nicht. Dabei ist auch einzustellen, dass es ihm auch zumutbar und deshalb bei der Rückkehrprognose entsprechend zu berücksichtigen ist, dass er im Falle einer rechtskräftig festgestellten Ausreisepflicht freiwillig ausreist, um alle Rückkehrhilfen in Anspruch nehmen zu können und auch im Übrigen alles in seiner Macht Stehende unternimmt, um bei einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht selbst verschuldet, d. h. abhängig von seinem Willen und seiner persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer Not zu geraten (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteile vom 3. November 1992, Az. 9 C 21/92 und vom 15. April 1997, Az. 9 C 38/96 und vom 21. April 2022 – 1 C 10/21 –, jeweils juris). Inwieweit die – in dem klägerseitig zitierten Bericht von Amnesty International vom 28. März 2023 zur allgemeinen Menschenrechtslage in der Russischen Föderation dargestellte – Verschlechterung der Menschenrechtssituation für den Kläger konkret sich auswirken sollte, hat der Kläger nicht substantiiert vorgetragen. Es ist im Asylverfahren aufgrund der Mitwirkungspflicht der Asylsuchenden nach § 15 Abs. 1 S. 1 AsylG auch nicht Aufgabe des Gerichts nach § 86 VwGO ohne tatsächlichen Anlass durch entsprechendes Klagevorbringen eine weitergehende Sachaufklärung vorzunehmen, welche Menschenrechtsverletzung dem Kläger wie und warum drohen würde.
bb) Darüber hinaus weist der zur Entscheidung berufenen Einzelrichters darauf hin, dass auch nach den eingeführten aktuellen Erkenntnismitteln ein krankheitsbedingtes, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot für den Kläger nicht begründet werden kann.
Es ist bereits nicht ersichtlich, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers aufgrund eines rückführungsbedingten Abbruchs einer notwendigen medizinischen Behandlung wegen einer unzureichenden oder nicht zugänglichen Behandlungsmöglichkeit im Heimatland wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde.
Eine entsprechende Gefahr ist bereits nicht in der nach § 60a Abs. 2c AufenthG erforderlichen Qualität dargelegt. Das in der mündlichen Verhandlung vorgelegte „ärztlichen Attest“ des Facharztes für Psychiatrie, D... vom 8. Mai 2023 ist bereits ohne Entschuldigung der Verspätung nach Ablauf der in der Ladung bis zum 21. April 2023 gesetzten Ausschlussfrist nach § 87b VwGO vorgelegt und daher zurückzuweisen, da weitere Ermittlungen dazu die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würden, § 87b Abs. 3 S. 1 VwGO. Überdies erfüllt das Atteste nicht die Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung, insbesondere mangelt es an der Darlegung der tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist und an der Darlegung der Methode der Tatsachenerhebung.
Im Übrigen ist nach den vorliegen Erkenntnissen auch davon auszugehen, dass eine erhebliche konkrete Gefahr für das Leib und/oder Leben des Klägers auf Grund einer alsbaldigen schwerwiegenden und wesentlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustands im Falle ihrer Rückkehr auch deshalb nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, da ein etwaige Behandlungsbedarf wegen psychischer und physischer Erkrankungen auch in der Russischen Föderation in dem nach § 60 Abs. 7 S. 4 und 5 AufenthG hinreichenden Maße zu befriedigen wäre (ebenso: Verwaltungsgericht Potsdam, Beschluss vom 30. August 2021 – VG 6 L 396/20.A; Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 17. Mai 2021 – 6 A 536/18.A – juris, Rn. 5 ff. und Urteil vom 20. April 2018 – 2 A 811/13.A –, juris Rn. 25 ff; Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 24. März 2015 – 33 K 229.13 –, juris Rn. 28, Verwaltungsgericht München, Urteil vom 10. September 2013 – M 16 K 13.30248 –, juris Rn. 25).
cc) Soweit ergänzend die Prozessbevollmächtigte des Klägers ein Abschiebungsverbot mit dem Austritt Russlands aus dem Europarat zu begründen versucht, gereicht das der Klage auch insoweit nicht zum Erfolg. Die rechtliche Bindung eines Herkunftslandes an die Europäische Menschenrechtskonvention bzw. die Möglichkeit seiner Bürger dessen Einhaltung über den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu überprüfen, ist für sich keine maßgebliche Entscheidungsdeterminante für die Gewährung eines Abschiebungsverbots. Andernfalls bestünde für Länder, die nicht Mitglied im Europarat sind, stets ein Abschiebungsverbot. Das ist genauso wenig der Fall, wie die Verneinung eines Abschiebungsverbots mit der einzigen Begründung, dass ein Herkunftsland Mitglied im Europarat ist.
d) Schließlich ist nicht erkennbar, dass die Abschiebungsandrohung und die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots rechtlich zu beanstanden sind.
Soweit der Vortrag der Prozessbevollmächtigten des Klägers dahingehend verstanden werden sollte, dass die derzeitige Aussetzung von Rückführungen in die Russische Föderation (vgl. https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-04/abschiebung-asylpolitik-eu-moldawien-belarus, zuletzt abgerufen am 7. Juni 2023) eine tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung begründet und die Abschiebungsandrohung damit rechtswidrig werden lässt, dringt sie damit nicht durch. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – dem sich der zur Entscheidung berufene Einzelrichter anschließt – ist vielmehr geklärt, dass das Bundesamt auch in Fällen, in denen aus tatsächlichen Gründen wenig oder keine Aussicht besteht, den Ausländer in absehbarer Zeit abschieben zu können, ermächtigt und regelmäßig gehalten ist, eine „Vorratsentscheidung“ zum Vorliegen von Abschiebungsverboten in Bezug auf bestimmte Zielstaaten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zu treffen und diese auch in der Abschiebungsandrohung zu bezeichnen. Damit wird dem Asylsuchenden die gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidung eröffnet und insoweit eine frühzeitige Klärung herbeigeführt. Mithin darf das Bundesamt in der Abschiebungsandrohung auch einen Zielstaat bezeichnen, für den aus tatsächlichen Gründen wenig oder keine Aussicht besteht, den Ausländer in absehbarer Zeit abschieben zu können, wenn für ihn – wie hier – keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote bestehen (Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 10. Oktober 2012 – 10 B 39/12 –, juris Rn. 4; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 22. April 2021 – 15 ZB 21.30491 –, juris Rn. 12 m.w.N.).
2. Die Nebenentscheidungen folgen aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG und §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.