Gericht | OLG Brandenburg 12. Zivilsenat | Entscheidungsdatum | 06.02.2023 | |
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Aktenzeichen | 12 U 177/22 | ECLI | ECLI:DE:OLGBB:2023:0206.12U177.22.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen |
1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung des Klägers gegen das am 06.09.2022 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer - Einzelrichter - des Landgerichts Cottbus, Az. 2 O 272/21, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO durch Beschluss zurückzuweisen.
2. Der Kläger erhält Gelegenheit zur Stellungnahme binnen vier Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.
I.
Der Kläger macht Ersatz des materiellen Schadens nach einem Verkehrsunfall am 29.06.2021 gegen 11:05 Uhr in M…, Ortsteil T…, geltend.
Der Beklagte zu 1 fuhr mit dem von ihm geführten bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Lkw mit dem amtlichen Kennzeichen „X“ auf der Straße „A…“. Vor der Unfallstelle hat diese Straße im Verlauf eine leichte Rechtskurve. Aus seiner Sicht von rechts kommend, ebenfalls auf der Straße „A…“, bog der Kläger mit dem in seinem Eigentum stehenden Pkw M… mit dem amtlichen Kennzeichen „Y“ auf die Fahrbahn des Beklagten zu 1 ein. Dabei kam es zur Kollision der Fahrzeuge. In dem Bereich der Auffahrt befand sich eine (alte) Buswendeschleife. Die vom Kläger benutzte Verkehrsfläche bildet die Zufahrt zu mehreren Häusern, unter anderem eine Werkhalle, sowie zu einem Sechsfamilienhaus.
Der Kläger hat vorgetragen, es handele sich um gleichrangige Straßen. Da es – unstreitig – eine Beschilderung nicht gebe, gelte die Verkehrsregelung „rechts vor links“. Es handele sich entgegen der Auffassung der Polizei hier nicht um eine Grundstücksein- oder -ausfahrt, sondern um einen öffentlichen Weg, der auch von der Öffentlichkeit genutzt werde. Insoweit habe der Beklagte zu 1 das Vorfahrtsrecht verletzt und hafte allein für die entstandenen Schäden. Zudem habe der Beklagte zu 1 sein Fahrzeug mit unangemessen hoher Geschwindigkeit und sehr weit rechts geführt. Der Kläger habe bereits gestanden, als der Beklagte zu 1 in sein Fahrzeug hinein gefahren sei. Die Ersatzpflicht bestehe in Höhe der Nettoreparaturkosten von 19.379,95 €, einer Wertminderung von 1.055 €, der Unkostenpauschale von 25 € und für die Gutachterkosten von 1.895,79 €.
Die Beklagten haben vorgetragen, der Kläger sei ohne Rücksicht auf den fließenden und bevorrechtigten Verkehr aus einer Grundstückseinfahrt aufgefahren. Es handele sich hier nicht um zwei gleichrangige Straßen. Auf die Öffentlichkeit der Straße käme es nicht an. Denn auch die Ausfahrt von einer Tankstelle führe nicht zu einer gleichrangigen Verkehrssituation. Der Kläger sei deshalb nicht den aus § 10 StVO folgenden Sorgfaltspflichten gerecht geworden. Hinsichtlich der Schadenshöhe würden die sachverständig festgelegten Ansätze nicht bestritten. Allerdings handele es sich danach um einen wirtschaftlichen Totalschaden, sodass allenfalls der Wiederbeschaffungsaufwand abzüglich Restwert, mithin 14.779,83 € ersatzfähig wären. Ein Anspruch auf Wertminderung bestünde danach ebenfalls nicht.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Kläger habe gegen § 10 S. 1 StVO verstoßen. Bei der von ihm benutzten Einfahrt handele es sich um einen „anderen Straßenteil“ im Sinne der Vorschrift. Dies ergebe sich aus dem äußerlich erkennbaren Gesamtbild der nur zur Anschließung einiger Grundstücke bestimmten Zufahrt, die offenbar nicht für den Durchgangsverkehr bestimmt sei. Daher habe dem Beklagten zu 1 die Vorfahrt zugestanden. Eine Mithaftung käme nur dann in Betracht, wenn der Zusammenstoß auch für ihn zu verhindern gewesen wäre. Dazu habe der Kläger jedoch nicht vorgetragen und sei auch nicht zur persönlichen Anhörung trotz Ladung erschienen. Wegen der tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Ausführungen wird auf das Urteil Bezug genommen.
Der Kläger hat gegen das seinem Prozessbevollmächtigten am 15.09.2022 zugestellte Urteil mit einem am 04.10.2022 beim Brandenburgischen Oberlandesgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und innerhalb der bis zum 15.12.2022 verlängerten Berufungsbegründungsfrist am 10.12.2022 begründet. Er wiederholt seinen erstinstanzlichen Vortrag dahin, dass er vorfahrtsberechtigt gewesen sei. § 10 Abs. 1 StVO gewähre dem fließenden Verkehr Vorrang. Dazu gehöre auch die von ihm benutzte Straße. Für die Einordnung des Charakters der Straße käme es auf das Gesamtbild der nach außen, jedem erkennbaren Merkmale an. So spreche für eine Einfahrt das Vorhandensein eines abgesenkten Bordsteins. Wenn wie hier ein solcher nicht vorhanden sei, liege eher keine Einfahrt vor. Nach dem maßgebenden Zweck der Straße diene sie auch nicht nur dem Zugang zu einem Grundstück, sondern dem fließenden Verkehr. Auf die Verkehrsfrequenz käme es nicht an. Da es für die Einordnung auf die objektive Erkennbarkeit ankomme, seien Schwierigkeiten der Bestimmung allein im Rahmen der subjektiven Haftungsvoraussetzungen zu berücksichtigen. Das Landgericht habe insoweit nicht berücksichtigt, dass die Straße ebenfalls asphaltiert und ersichtlich gut ausgebaut sei und sich dort eine Buswendeschleife befunden habe. Wie viele Grundstücke erschlossen werden, sei irrelevant.
Er hat angekündigt zu beantragen,
unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Cottbus vom 23.08.2022, 2 O 272/21, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen,
1. an ihn 20.459,95 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen und
2. ihn von Forderungen des Sachverständigen R… M…, …straße .., B… gemäß Rechnung vom 02.07.2021 i.H.v. 1.895,79 € freizustellen.
Die Beklagten haben angekündigt zu beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen die angefochtene Entscheidung.
II.
Die zulässige Berufung des Klägers hat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Es geht weder um eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung, noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil. Das angefochtene Urteil beruht weder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von § 546 ZPO, noch rechtfertigen die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten und nach § 529 ZPO vom Senat seiner Entscheidung zu Grunde zu legenden Tatsachen eine abweichende Beurteilung (§ 513 Abs. 1 ZPO). Ebenso wenig ist eine mündliche Verhandlung über die Sache gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 ZPO geboten.
Die Klage ist unbegründet. Ein Anspruch des Klägers auf Ersatz der ihm aus dem Verkehrsunfall am 29.06.2021 gegen 11:05 Uhr im Kreuzungsbereich „A…“ in Höhe des Hauses Nr. 1 in M… Ortsteil T… entstandenen Schäden aus §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 18 StVG, 823 BGB i.V.m. §§ 115 VVG, 1 PflVG besteht nicht.
Nachdem für keinen der Unfallbeteiligten der Nachweis für ein unabwendbares Ereignis geführt ist, sind die Verursachungsbeiträge nach § 17 Abs. 1 StVG unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles abzuwägen, insbesondere danach, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige bzw. zugestandene und bewiesene Umstände einzustellen (vgl. BGH NJW 2007, S. 506; KG NZV 1999, S. 512; NZV 2003, S. 291; Hentschel/König/Dauer, a. a. O., § 17 StVG, Rn. 5 m. w. N.).
Ein Verstoß des Beklagten zu 1 gegen § 8 Abs. 1 S. 1 StVO liegt nicht vor. Zwar gab es ein Verkehrszeichen, nach dem einem Unfallbeteiligten der Vorrang gegenüber dem anderen eingeräumt wird, unstreitig nicht. Bei der vom Kläger benutzten Verkehrsfläche handelt es sich aber nicht um eine Einmündung im Sinne des § 8 StVO, sondern um eine Ausfahrt und damit einen „anderen Straßenteil“ im Sinne der Vorschrift des § 10 StVO. Der Kläger war somit wartepflichtig, weshalb der Grundsatz „rechts vor links“ hier nicht zum Tragen kommt.
a) Andere Straßenteile sind die Flächen, die einerseits nicht der Fahrbahn zugeordnet werden können, andererseits noch als Bestandteil der Straße gelten müssen. Auf ihnen findet zwar rechtlich und tatsächlich öffentlicher Verkehr statt. Sie sind aber nicht für den Durchgangsverkehr bestimmt. Ob die Zufahrt zu mehreren Wohngrundstücken (Stichstraße) als Straße oder nur als anderer Straßenteil zu qualifizieren ist, hängt nicht von dessen baulichem Zustand, sondern von der Verkehrsbedeutung, so wie sie sich aus dem Gesamtbild der äußerlich erkennbaren Merkmale ergibt, ab (Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 10 StVO (Stand: 02.12.2022), Rn. 28, 31; Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Urteil vom 27. November 2014 – 4 U 21/14 –, Rn. 64 – 65). Dabei muss diese Verkehrsbedeutung zwar nach außen in Erscheinung treten, wenn daran verkehrsrechtliche Gebote oder Verbote geknüpft werden sollen; dies darf aber nicht dahin verstanden werden, dass damit verbundene Vorfahrtrechte und Wartepflichten nur entstehen, wenn jeder Adressat die dafür maßgebenden Merkmale des Verkehrsweges auch erkennen kann. Schwierigkeiten des Verkehrsteilnehmers bei der Erkennbarkeit der Regelung sind vielmehr im Rahmen der subjektiven Haftungsvoraussetzungen zu berücksichtigen. Allerdings trifft den Verkehrsteilnehmer eine gesteigerte Sorgfaltspflicht, wenn ihm mangels eindeutiger Kriterien Zweifel kommen müssen, ob ein Verkehrsweg zu der von ihm befahrenen Straße eine vorfahrtberechtigte Straßeneinmündung oder eine untergeordnete Grundstücksausfahrt ist (BGH, Urteil vom 23. Juni 1987 – VI ZR 296/86 –, Rn. 12, juris).
b) Eine Abgrenzung der Straßenteile durch einen Bordstein findet sich nicht. Vielmehr ist der gesamte Kreuzungsbereich asphaltiert. Dies resultiert jedoch, wie der Kläger vorträgt, daraus, dass es sich um eine alte, aus einer öffentlichen Straße abzweigende und später wieder in sie einmündende Wendeschleife für den Busverkehr gehandelt hat. Bei einer solchen handelt es sich um einen Straßenteil, der unter die Vorschrift des § 10 StVO fällt (OLG Düsseldorf, Urteil vom 8. Februar 1982 – 1 U 100/81 –, juris). Diese Teile werden, dies ergibt sich aus den vom Beklagten zu 1 im Verhandlungstermin am 23.08.2022 vorgelegten Fotos, heute als Abstellflächen mitbenutzt. Insgesamt hat die Fläche im Einmündungsbereich den Charakter einer Straßennebenfläche und Ausfahrt behalten, auch nachdem die Wendeschleife durch das Anliegergrundstück durchbrochen wurde. Daran ändert auch die als Sackgasse ausgewiesene und mit Betonsteinen ausgelegte Zufahrt zu den weiter hinten liegenden Grundstücken nichts. Denn diese „Straße“ stößt nicht etwa im Bereich des Übergangs auf die vom Beklagten zu 1 genutzte Verkehrsfläche, sondern in den ehemaligen Bereich der Wendeschleife. Das wird noch einmal deutlich durch den Standort des Verkehrszeichens „Sackgasse“. Denn auch dieses steht erst zu Beginn des Betonpflasterweges in erheblicher Entfernung zu der vom Beklagten zu 1 genutzten Straßenfläche. Sie geht mithin in den Straßennebenteil über und wird dadurch nicht zu einer gleichrangigen Straße am Ort des Unfalls. Verkehrsbedeutung für den fließenden Verkehr kommt diesen Wegeflächen erkennbar nicht zu, ein Durchgangsverkehr findet nicht statt. Dafür spricht auch, dass auch die Zufahrt den Straßennamen „A…“ trägt, wie aus dem auf dem Lichtbild Blatt 66 GA erkennbaren Straßenschild ersichtlich.
In die Gesamtbetrachtung ist auch die Lage der Einfahrt einzubeziehen. Bei der vom Beklagten zu 1 benutzen Straße „A…“ handelt es sich um die Verbindungsstraße von der B … zu weiteren Ortsteilen und ist entsprechend ausgebaut. Sie erhält durch den Ausbauzustand den Charakter einer Hauptverkehrsstraße. Nach einer aus Sicht des Beklagten zu 1 langgezogenen Rechtskurve kommt ohne Vorankündigung und baulich kaum abgegrenzt ein Einfahrtsbereich. Aus Sicht der Verkehrsteilnehmer ist daher schon objektiv bei dieser Verkehrssituation keine gleichrangige Straße erkennbar. Sie tritt auch nicht als solche hervor.
c) Aber auch ein Verstoß gegen §§ 1, 3 Abs. 1 StVO oder § 11 Abs. 3 StVO liegt nicht vor. Der Kläger hat, worauf bereits das Landgericht hingewiesen hat, nicht dargetan, dass der Beklagte zu 1 nach dem Unfallverlauf gegen die genannten Vorschriften schuldhaft verstoßen hätte, oder auch nur Anlass und Gelegenheit hatte, den Unfall durch sein Fahrverhalten im Sinne eines vorwerfbaren Pflichtenverstoßes zu verhindern.
Vielmehr war es der Kläger selbst, der durch sein Fahrverhalten und den Verstoß gegen § 10 StVO die maßgebende Ursache für den Verkehrsunfall gesetzt hat. Selbst im Falle des Vorliegens einer „überführten Straße“ besteht für ihn kein Schutz in das Vertrauen auf die Beachtung der Wartepflicht. Vielmehr wird von ihm schon aufgrund der Unfallörtlichkeit ein Verhalten wie beim Ausfahren aus einem Grundstück nach Maßgabe von § 10 StVO oder in Anwendung von § 1 Abs. 2 StVO eine gesteigerte Sorgfalt beim Einfahren in die querende Straße verlangt (BGH, Urteil vom 14. Oktober 1986 – VI ZR 139/85 –, Rn. 13, juris).
Im Ergebnis erscheint es hier angemessen, dem Kläger die volle Haftung zuzurechnen. Sein Verursachungsbeitrag stellt einen besonders schwerwiegenden Verstoß gegen die im Straßenverkehr gegebenen Sorgfaltspflichten dar, der die Betriebsgefahr des weiteren Unfallbeteiligten regelmäßig zurücktreten lässt. Dem Kläger war die gesamte Verkehrslage und die Situation ersichtlich. Trotz des für ihn erkennbaren Herannahens des vom Beklagten zu 1 geführten Lkw hat er seine Fahrt fortgesetzt und so die entscheidende Ursache für den Unfall gesetzt. Auch ist in der Gesamtschau des Sachvortrages nicht davon auszugehen, dass der Beklagte zu 1 Anlass hatte, die Geschwindigkeit, hinsichtlich derer nicht davon ausgegangen werden kann, dass sie überhöht war, zu verringern oder mit dem Einfahren des Fahrzeugs des Klägers zu rechnen. Insoweit bleibt allein die einfache Betriebsgefahr des Lkw. Zwar ist diese regelmäßig wegen der Größe und des Bremsweges des Lkws erhöht. Dass sich diese Umstände hier jedoch verwirklicht hätten, ist nicht erkennbar. Vor diesem Hintergrund tritt die Betriebsgefahr hinter dem schuldhaften Pflichtverstoß des Klägers zurück.
Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt der Senat aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich vorliegend die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).