Toolbar-Menü
 
Sie sind hier: Gerichtsentscheidungen Entscheidung

Entscheidung 12 U 218/22


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 12. Zivilsenat Entscheidungsdatum 15.06.2023
Aktenzeichen 12 U 218/22 ECLI ECLI:DE:OLGBB:2023:0615.12U218.22.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das am 14.11.2022 verkündete Grund- und Teilurteil der 4. Zivilkammer - Einzelrichter - des Landgerichts Cottbus, Az. 4 O 480/21, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Klage ist unter Berücksichtigung eines Mithaftungsanteils der Klägerin in Höhe von insgesamt 50 % dem Grunde nach gerechtfertigt.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin 50% der übergangsfähigen materiellen Schäden, die ihr aus dem Verkehrsunfall des M… P… vom …..2015 auf der Autobahn 113, km 004.135 Fahrtrichtung S… entstehen, zu ersetzen. Der weitergehende Feststellungsantrag wird zurückgewiesen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die weitergehende Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen zu 29 % die Klägerin und zu 71 % die Beklagten.

3. Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Parteien bleibt nachgelassen, die Vollstreckung der jeweils anderen Partei gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die vollstreckende Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

5. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf bis zu 50.000 € festgesetzt.

Gründe

I.

Die Klägerin macht als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung Ansprüche aus übergegangenem Recht des Zeugen P… (im Weiteren Versicherter) aus einem Unfall am 23.12.2015 um 21:48 Uhr auf der BAB …, km 004,135 bis 005, 136 in Fahrtrichtung S… geltend.

Im Bereich der Unfallstelle in Fahrtrichtung C…weist die Autobahn drei Fahrspuren, eine Beschleunigungsspur und einen Standstreifen auf. Auf dem Standstreifen stand ein Pannenfahrzeug. Der Versicherte fuhr mit seinem Pkw P… mit dem amtlichen Kennzeichen „X“ auf dem Beschleunigungsstreifen. Vor ihm fuhr der Pkw des Herrn A…, der wegen des Pannenfahrzeuges die Fahrgeschwindigkeit stark verringerte. Der Versicherte sah dies zu spät und versuchte noch im Bereich der durchgezogenen weißen Linie nach links auf die rechte Fahrspur der BAB auszuweichen. Dabei kollidierte er mit dem linken Heck des vor ihm fahrenden Pkw und wurde über die Fahrstreifen geschleudert. Die Warnblinkanlage wurde an seinem Fahrzeug nicht eingeschaltet. Im Anschluss kollidierten die Fahrzeuge der Zeugin Pa.… jetzt W…, und L… mit dem Fahrzeug des Zeugen P…. Wegen der Endstellung der Fahrzeuge wird auf die Unfallskizze in der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Cottbus zum Az. 1610 Js 15713/16, dort Bl. 19, verwiesen. Dahinter stauten sich Fahrzeuge mit eingeschalteter Beleuchtung und Warnblinklichtern.

Der dunkel gekleidete Versicherte verließ zu einem streitigen Zeitpunkt seinen Pkw und beabsichtigte, ohne eine Warnweste zu tragen, über die Fahrspuren hinweg zum Standstreifen zu gelangen. Noch auf der rechten Fahrspur oder auch im Bereich des Übergangs zum Standstreifen wurde er von dem vom Beklagten zu 1 geführten, mit einer Geschwindigkeit von mindestens 50 km/h fahrenden Pkw mit dem Kennzeichen „Y“ unter anderem im Bereich der Windschutzscheibe erfasst. Die Folgen der Kollision für den Zeugen sind streitig. Der Pkw ist bei einem schwedischen Versicherer haftpflichtversichert. Die Beklagte zu 2 hat sich für die Schadensabwicklung zuständig erklärt.

Die Klägerin hat vorgetragen, der Versicherte sei erst ausgestiegen, als er Rauch wahrgenommen habe und sich in Sicherheit bringen wollte. Zu diesem Zeitpunkt sei der Verkehr bereits zum Erliegen gekommen. Die Sicherheitsweste habe sich im Handschuhfach befunden, das durch den Airbag versperrt gewesen sei. Er habe bereits die Standspur betreten, als er vom Fahrzeug des Beklagten zu 1 erfasst worden sei. Sie ist der Auffassung, sie müsse sich zwar ein Mitverschulden zurechnen lassen. Dieses sei jedoch nur mit 30 % zu bewerten, weil der Versicherte unter Schock gestanden habe und der Beklagte zu 1 grob verkehrswidrig mit weit überhöhter Geschwindigkeit in den für ihn ohne weiteres erkennbaren Bereich der Unfallstelle eingefahren sei.

Die Beklagten haben vorgetragen, der Versicherte habe ohne Not und ohne Beachtung des weiterhin fließenden Verkehrs, wie sich aus der Aussage der Zeugin W… ergebe, die Fahrspuren überquert. Ihm wäre allenfalls gestattet gewesen, sich hinter die neben der linken Fahrspur befindlichen Leitplanken zu begeben. Er habe ferner weder das verunfallte Fahrzeug mittels Warndreieck und Warnlicht gesichert noch sich selbst durch eine Leuchte oder Warnweste sichtbar gemacht. Zudem habe er, wofür bereits der Anscheinsbeweis spreche, durch die Primärkollision den eigentlichen Unfallverlauf grob verkehrswidrig in Gang gesetzt. Mithin hafte der Versicherte für die ihm entstandenen Schäden allein, Ansprüche auch der Klägerin bestünden nicht.

Das Landgericht hat durch Grund- und Teilurteil die Klage dem Grunde nach als gerechtfertigt angesehen und festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin 70 % der übergangsfähigen materiellen Schäden aus dem Verkehrsunfall zu ersetzen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es handele sich hier um ein einheitliches Unfallgeschehen, das für keinen Beteiligten unvermeidbar gewesen sei. Mithin sei eine Haftungsabwägung nach § 17 Abs. 1, 3 StVG erforderlich. Dabei sei dem Beklagten zu 1 ein Verstoß gegen § 3 Abs. 1 StVO zur Last zu legen, da er mit weit überhöhter Geschwindigkeit, erlaubt sei lediglich Schrittgeschwindigkeit, gefahren sei, nachdem er sich einer Menschenansammlung oder Unfallstelle genähert habe und mit Fußgängern habe rechnen müssen. Dieser Verursachungsbeitrag sei für die Schadensentstehung herausragend und grob. Hinzu komme die aufgrund des Anhängers erhöhte Betriebsgefahr seines Fahrzeuges. Dem Versicherten sei lediglich ein Verstoß gegen das Sichtfahrgebot oder § 1 Abs. 1 StVO vorzuwerfen, weil er nicht ausreichend auf den vor ihm auf dem Beschleunigungsstreifen fahrenden Pkw des Herrn A… geachtet habe. Dies wiege hier jedoch nicht so schwer, weil er nicht nur den vor ihm fahrenden Verkehr, sondern gemäß § 18 Abs. 3 StVO auch den hinter ihm fließenden Verkehr auf der Autobahn habe beobachten müssen und deshalb der aus einem „normalen“ Auffahrunfall folgende Vorwurf nicht so schwer wiege. Dass er weder die Warnblinkanlage eingeschaltet noch ein Warndreieck aufgestellt habe, sei nicht kausal geworden, weil andere Fahrzeuge hinreichend auf die Unfallstelle aufmerksam gemacht hätten. Zweifelhaft bleibe, ob dem Versicherten das Unterlassen des Anziehens einer Warnweste als Verschuldensvorwurf zur Last gelegt werden könne. Dieser sei jedenfalls nicht so hoch, dass eine Haftung von mehr als 30 % in Betracht käme. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Urteil Bezug genommen.

Die Beklagten haben gegen das ihren Prozessbevollmächtigten am 22.11.2022 zugestellte Urteil mit einem am 22.12.2022 beim Brandenburgischen Oberlandesgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese am letzten Tag der bis zum 23.02.2023 verlängerten Berufungsbegründungsfrist begründet. Sie führen aus, das Landgericht habe nicht hinreichend berücksichtigt, dass der Versicherte der Klägerin durch zwei jeweils grobe feststehende Verkehrsverstöße den Unfall überwiegend verursacht habe. Der erste grobe Verkehrsverstoß liege im Auffahren auf das vor ihm fahrende Fahrzeug, weil der Versicherte die Reduzierung der Fahrtgeschwindigkeit dieses Fahrzeuges „zu spät gesehen“ habe. Der zweite grobe Verkehrsverstoß liege in dem nicht erforderlichen und maximal sorglosen Betreten der Autobahn im Dunkeln ohne Warnweste und ohne die Unfallstelle zu sichern. Dabei habe ein Fußgänger auf der Autobahn nichts zu suchen (§ 18 Abs. 9 StVO). Jedenfalls aber hätte er hinter die Leitplanke treten können und nicht drei Fahrspuren überqueren müssen. Für die Annahme des Landgerichts, der Beklagte zu 1 habe sich aus seiner Sicht einer Menschenansammlung oder Unfallstelle genähert, fehlten konkrete Feststellungen. Unverständlich sei, warum der Anhänger am Beklagtenfahrzeug zu einer Erhöhung der Betriebsgefahr führen solle.

Die Beklagten beantragen,

die Klage unter Abänderung des Grund- und Teilurteils des Landgerichts Cottbus vom 14.11.2022 zum Az. 4 O 480/21 abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung. Das Landgericht habe alle Aspekte des Falles zutreffend gewürdigt.

Der Senat hat die Akten der Staatsanwaltschaft Cottbus zum Az. 1610 Js 15713/16 zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht und Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin W…. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 25.05.2023 Bezug genommen.

II.

Die zulässige Berufung der Beklagten ist insoweit begründet, als der anzurechnende Mithaftungsanteil der Klägerin auf die ihr dem Grunde nach zustehenden Schadensersatzansprüche abweichend auf 50 % festzusetzen ist. Dementsprechend ist auch der Feststellungstenor zu 2 abzuändern. Die weitergehende Berufung der Beklagten bleibt hingegen unbegründet.

1. Der Klägerin stehen Ansprüche ihres Versicherten aus übergegangenem Recht dem Grunde nach aus §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, § 823 BGB i.V.m. § 115 Abs. 1 VVG, 6 AuslPflVG, § 116 SGB X zu.

1.1. Bei der Beurteilung ist mit dem Auffahrunfall des Versicherten auf das Fahrzeug des Herrn A… ein einheitlich zu betrachtendes Unfallgeschehen anzunehmen.

Grundsätzlich ist wegen der hohen Verkehrsgefahr der Betriebsbegriff bei Kraftfahrzeugen weit zu fassen. So ist es dem Betrieb eines liegen gebliebenen Kraftfahrzeuges noch zuzurechnen, wenn ein Insasse aussteigt und die Fahrbahn betritt, etwa um weitere Fahrzeuge anzuhalten, und hierbei verunglückt. Auch soweit durch einen Kfz-Unfall ein Hindernis gebildet wird, durch das ein weiteres an dem ersten Unfall unbeteiligtes Kfz verunglückt, ist dieser Folgeunfall dem Betrieb des am ersten Unfall beteiligten Kfz grundsätzlich zuzurechnen. Der Zurechnungszusammenhang ist erst dann unterbrochen, wenn der erste Unfall nur äußerer Anlass für den Folgeunfall gewesen ist, tatsächlich aber ein eigenständiges Verhalten eines Dritten dem Geschehen eine Wendung gibt, die die Wertung erlaubt, das mit dem Erstunfall gesetzte Risiko sei für den Zweitunfall von völlig untergeordneter Bedeutung, eine Haftung des Erstunfallverursachers sei daher nicht gerechtfertigt. Ein haftungsrechtlicher Zusammenhang mit der Betriebsgefahr ist hingegen dann anzunehmen, wenn die durch den Unfall geschaffene Gefahrenlage fortbesteht und hierauf der neue Unfall zurückzuführen ist (Senat, Urteil vom 27. September 2007 – 12 U 6/07 –, Rn. 15 m.w.N., juris). So liegt der Fall hier. Der Entschluss des Versicherten, die Fahrspuren der Autobahn zu überqueren, steht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem zuvor erfolgten Unfallgeschehen. Denn, so trägt die Klägerin selbst vor, ihr Versicherungsnehmer habe sich lediglich in Sicherheit bringen wollen. Damit steht sein Verhalten direkt im Zusammenhang mit dem Betrieb seines Fahrzeugs. Zu den anschließenden Kollisionen wäre es ferner nicht gekommen, wenn der Unfall zuvor nicht stattgefunden hätte. Auch die weiteren Umstände des Geschehens lassen das durch den Erstunfall gesetzte Risiko nicht von völlig untergeordneter Bedeutung erscheinen, insbesondere ist ein Kausalzusammenhang nicht unter dem Gesichtspunkt der fehlenden Adäquanz zu verneinen. Zwar ist der Versuch des Beklagten zu 1, die Unfallstelle mit überhöhter Geschwindigkeit zwischen den verunglückten Fahrzeugen zu passieren, grob verkehrswidrig und unverständlich, wie noch weiter auszuführen sein wird. Das Durchfahren der Unfallstelle zwischen den stehenden Fahrzeugen stellt sich gleichwohl (noch) nicht als so unwahrscheinlich dar, dass hierdurch die Annahme einer Unterbrechung des Kausalzusammenhanges gerechtfertigt wäre (vgl. Senat a.a.O.).

1.2. Keine Partei hat ein für ihre Seite unabwendbares Ereignis nachgewiesen. Unabwendbar im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG ist ein Ereignis, das durch die äußerste mögliche Sorgfalt eines Idealfahrers nicht abgewendet werden kann, wobei ein schuldhaftes Fehlverhalten ein unabwendbares Ereignis ausschließt und darlegungs- und beweisbelastet für die Unabwendbarkeit des Unfalles derjenige ist, der sich entlasten will (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 47. Aufl., § 17 StVG, Rn. 22 f m. w. N.). Danach haben die Beklagten nicht dargetan, dass ein Idealfahrer in der konkreten Unfallsituation bereits durch eine erhebliche Reduzierung der Fahrgeschwindigkeit den Unfall hätte vermeiden können. Die Berufung der Beklagten greift diese Feststellung des Landgerichts auch nicht mehr an. Die Klägerin beruft sich schon nicht - zu Recht - auf § 17 Abs. 3 StVG.

1.3. Mithin ist im Rahmen der Abwägung der Verursachungsbeiträge nach § 17 Abs. 1 StVG auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Unfallbeteiligten sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige bzw. zugestandene und bewiesene Umstände einzustellen (vgl. BGH NJW 2007, S. 506; KG NZV 1999, S. 512; NZV 2003, S. 291; Hentschel/König/Dauer, a. a. O., § 17 StVG, Rn. 5 m. w. N.). Jeder Halter hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Abs. 1 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will (BGH NZV 1996, S. 231).

a) Zulasten der Beklagten ist zunächst die nicht erhöhte Betriebsgefahr des Pkws zu berücksichtigen. Eine Erhöhung der Betriebsgefahr durch das Mitführen eines Anhängers kommt hier schon deshalb nicht in Betracht, weil der vorgetragene Unfallhergang keinen Anhalt dafür bietet, dass der Anhänger tatsächlich in der konkreten Situation gefahrerhöhend (z.B. den Bremsweg verlängernd) gewirkt hat.

Zutreffend geht das Landgericht weiter davon aus, dass der Beklagte zu 1 bei einer Fahrgeschwindigkeit von mindestens 50 km/h mit einer weit überhöhten Geschwindigkeit und unter Verstoß gegen § 3 Abs. 1 StVO im Bereich der Unfallstelle gefahren war. Danach darf, wer ein Fahrzeug führt, nur so schnell fahren, dass das Fahrzeug ständig beherrscht wird. Die Geschwindigkeit ist insbesondere den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie den persönlichen Fähigkeiten und den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen. Auch eine unklare Verkehrslage kann eine geringere als die nach der Sichtweite zulässige Geschwindigkeit erforderlich machen. Sie liegt vor, wenn die auf der Fahrbahn sichtbare Verkehrslage das Vertrauen ausschließt, dass die übrigen Verkehrsteilnehmer die freie Durchfahrt einräumen werden; wer sich einer Menschenansammlung oder Unfallstelle nähert, muss mit Fußgängern rechnen, die die Fahrbahn unvorsichtig überqueren (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Burmann, 27. Aufl. 2022, StVO § 3 Rn. 33).

Eine solche Situation war hier entgegen der Berufung gegeben. Der Beklagte zu 1 hat sich der Unfallstelle zu einem Zeitpunkt genähert, als alle anderen unfallbeteiligten Fahrzeuge bereits kollidiert waren und sich in Endstellung befanden. Aus seiner Sicht waren mithin die linke, die mittlere und teilweise sogar die rechte Fahrspur ganz oder teilweise durch Unfallfahrzeuge blockiert. Unstreitig hatten bereits weitere Fahrzeuge, teilweise mit eingeschaltetem Warnlicht, angehalten. Ihre Behauptung, auf der Autobahn habe sich weiterhin fließender Verkehr befunden, haben die Beklagten nicht bewiesen. Die Beweisaufnahme durch Vernehmung der Zeugin W… ist unergiebig geblieben, da die Zeugin hierzu keine Angaben machen konnte.

Im Weiteren war, das ergibt sich aus den Unfallschilderungen beider Parteien, die Unfallstelle ungesichert, Einsatzkräfte der Polizei und Rettungskräfte waren noch nicht vor Ort. Dem Beklagten zu 1 musste sich daher bei Annäherung an die Unfallstelle aufdrängen, dass hier eine Situation vorlag, die unklar war und Handlungen von Personen nach sich ziehen konnten, die für nicht Unfallbeteiligte gegebenenfalls nur schwer nachvollziehbar sind. Mithin musste der Beklagte zu 1 auch damit rechnen, dass sich Personen auf der Fahrbahn befinden. Vor diesem Hintergrund ist es bereits vorwerfbar, dass er überhaupt versucht hat, an den liegen gebliebenen Fahrzeugen und dem Pannenfahrzeug, die jedenfalls die drei Hauptfahrbahnen nahezu vollständig und die Standspur blockierten, vorbei zu fahren. Jedenfalls aber hätte der Beklagte zu 1, worauf das Landgericht völlig zutreffend abstellt, allenfalls Schrittgeschwindigkeit mit ständiger Bremsbereitschaft fahren müssen. Die Weiterfahrt mit einer Geschwindigkeit von mindestens 50 km/h stellt daher einen besonders groben Verkehrsverstoß dar.

Darin liegt zugleich ein Verstoß gegen § 18 Abs. 6 StVO, der auch auf Autobahnen das Fahren auf Sicht anordnet. Zwar muss auf Autobahnen im Grundsatz weniger als auf anderen Straßen damit gerechnet werden, dass von der Seite her Menschen entgegen Absatz 9 in die Fahrbahn gelangen (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Heß, a.a.O., § 18 Rn. 18a). Auf Hindernisse, die gemessen an den jeweils herrschenden Sichtbedingungen erst außergewöhnlich spät erkennbar werden, braucht der Fahrer seine Geschwindigkeit nicht einzurichten (vgl. BGH, Urteil vom 15. Mai 1984 – VI ZR 161/82 –, Rn. 11, juris). Dies gilt allerdings nicht, wenn wie hier der Kraftfahrer Anhaltspunkte für eine bestimmte Gefahrenlage erkennt oder erkennen muss, z.B. mit Fußgängern auf der Fahrbahn rechnen muss, die für ein liegen gebliebenes Fahrzeug Hilfe holen wollen oder mit Unfallbeteiligten, die sich auf der Fahrbahn bewegen.

b) Allerdings muss sich, wovon das Landgericht im Ausgangspunkt ebenfalls zu Recht ausgegangen ist, auch die Klägerin ein Verschulden ihres Versicherungsnehmers zurechnen lassen.

Ohne dass es der Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises bedarf, hat der Versicherte den Primärunfall schuldhaft verursacht. Die Klägerin hat eingeräumt, dass er die Geschwindigkeitsreduzierung des vor ihm fahrenden Fahrzeuges zu spät bemerkt hat. Darin liegt ein schuldhafter Verkehrsverstoß, weil ein Verkehrsteilnehmer sowohl den Abstand wie auch seine Fahrgeschwindigkeit auf solche Verkehrssituation anzupassen hat. Es liegt jedoch kein grober oder sogar besonders grober Verkehrsverstoß vor. Denn das Auffahren auf eine Autobahn stellt eine für den Verkehrsteilnehmer herausfordernde Situation dar, weil er nicht nur den vor ihm fahrenden Fahrzeugverkehr zu berücksichtigen hat, sondern auch den gemäß § 18 Abs. 3 StVO vorfahrtsberechtigten Verkehr.

Ferner liegt ein Verstoß gegen § 18 Abs. 9 StVO vor. Diese Vorschrift verbietet das Betreten der Autobahn durch Fußgänger. Selbst wenn der Versicherte - wofür weder seine Aussage im Ermittlungsverfahren, wonach er angegeben hat, nach Auslösen der Airbags das Fahrzeug verlassen zu haben, noch die persönliche Unfalldarstellung in dem von ihm selbst geführten Rechtsstreit vor dem Landgericht Cottbus spricht - wegen eines angeblichen Brandgeruchs das Fahrzeug verlassen hat, mag dies zur Eigensicherung gegebenenfalls noch zulässig sein. Dies darf dann jedoch nur mit größter Vorsicht geschehen und unter Verwendung der nach § 53a Abs. 1 S. 3 StVZO mitzuführenden und beim Verlassen des Fahrzeugs anzulegenden Warnweste (Greger in: Greger/Zwickel, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 6. Aufl. 2021, Mitverantwortung des Geschädigten, Rn. 25_43). Diesen Anforderungen ist der Versicherte beim Überqueren der Hauptfahrspuren der Autobahn, was für den Versicherten mit Blick auf die Möglichkeit, hinter die mittleren Leitplanken zu treten, zugleich der weitere und gefährlichere Weg war, offensichtlich nicht gerecht geworden. Dafür, dass er sich in einem den Schuldvorwurf ausschließenden Schockzustand befunden habe, hat die Klägerin keine belastbaren Anhaltspunkte vorgetragen.

Allerdings ist auch dieser Unfallbeitrag nicht von besonderem Gewicht. Denn der Unfallbeteiligte befand sich in einer Ausnahmesituation. Das eigentliche Unfallgeschehen war beendet und weitere Fahrzeuge hatten angehalten. Auch er durfte deshalb davon ausgehen, dass andere Verkehrsteilnehmer entweder anhalten oder ihrerseits größte Vorsicht walten lassen würden.

Nicht unfallkausal ist ein Verstoß gegen §§ 15, 34 StVO. Zwar hat danach ein Unfallbeteiligter die Unfallstelle unverzüglich zu sichern. Das Unterlassen ist für das Unfallgeschehen jedoch deshalb nicht kausal, weil die Unfallstelle erkennbar und durch andere Fahrzeuge mit Warnblinklicht abgesichert worden war. Aus der Gesamtsituation ist, wie bereits ausgeführt, auch davon auszugehen, dass der Beklagte zu 1 die Unfallstelle erkannt hat oder zumindest bei gebotener Sorgfalt erkennen musste.

c) Bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge gewichtet der Senat das grob verkehrswidrige Verhalten des Beklagten zu 1 einerseits und die Summe der dem Versicherten und mithin auch der Klägerin zuzurechnenden Handlungen andererseits als insgesamt gleichwertig und gelangt deshalb zu einer Schadensteilung. Die von der Klägerin zitierte Entscheidung des OLG München (Urteil vom 09.07.1993 - 10 U 6681/92, NZV 1994, 399, beck-online) mit einer Alleinhaftung des Verursachers des Folgeunfalls trifft eine andere Fallkonstellation. Denn dort hatte der Fußgänger den Primärunfall nicht verursacht und die Fahrbahn betreten, um zur Notrufsäule zu gehen.

2. Der Rechtsstreit ist zur Höhe des Klageanspruchs vor dem Landgericht weiterzuführen, ohne dass es der ausdrücklichen Zurückverweisung bedarf (BGH, Urteil vom 21. Januar 2021 - I ZR 120/19 -, Rn. 15, juris).

3. Die Kostenentscheidung für das Berufungsverfahren folgt aus §§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 47 Abs. 1, 48 Abs. 1 GKG. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen.