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Entscheidung 1 K 823/21.A


Metadaten

Gericht VG Cottbus 1. Kammer Entscheidungsdatum 24.05.2023
Aktenzeichen 1 K 823/21.A ECLI ECLI:DE:VGCOTTB:2023:0524.1K823.21.A.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 3 AsylVfG 1992, § 60 Abs 7 S 1 AufenthG, § 3a AsylVfG 1992, § 3e AsylVfG 1992

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Der am 16. März 1975 in Shali (Russische Föderation/Tschetschenien) geborene Kläger zu 1. und seine Ehefrau, die am 08. September 1984 in Shali (Russische Föderation/Tschetschenien) geborene Klägerin zu 2., sind Staatsangehörige der Russischen Föderation tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Sie reisten gemeinsam mit ihren am 03. August 2000, 24. Juni 2002, 23. November 2004, 14. Juni 2009 und 04. April 2013 geborenen Kindern eigenen Angaben nach erstmals am 25. März 2016 und wiederholt am 11. Juni 2017 auf dem Landweg über Polen in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragten hier am 11. April 2016 ihre Anerkennung als Asylberechtigte.

Mit Bescheid vom 24. Mai 2016 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend vereinfachend: Bundesamt) die Anträge als unzulässig ab (Ziffer 1.), ordnete die Abschiebung der Kläger und ihrer Kinder nach Polen an (Ziffer 2.) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 3.). Hiergegen wurde am 02. Juni 2016 Klage bei dem Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) erhoben (VG 1 K 862/16.A) und gleichzeitig ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt (VG 1 L 236/16.A). Der Antrag wurde mit Beschluss vom 28. Juni 2016 als unbegründet abgelehnt. Hinsichtlich des Klageverfahrens, das zwischenzeitlich das Aktenzeichen VG 2 K 862/16.A erhalten hatte, erklärte sich das Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) mit Beschluss vom 13. Oktober 2016 für örtlich unzuständig und verwies den Rechtsstreit an das zuständige Verwaltungsgericht Potsdam.

In der Zwischenzeit waren die Kläger und ihre Kinder am 25. August 2016 nach Polen überstellt worden. Nach ihrer Wiedereinreise in die Bundesrepublik Deutschland nahmen die Kläger und ihre Kinder ihre Klage am 25. September 2017 zurück. Das Verwaltungsgericht Potsdam stellte das Verfahren mit Beschluss vom 29. Mai 2018 – 4 K 4282/16.A – ein.

In seinem Vermerk vom 02. November 2017 führt das Bundesamt aus:

„Im vorliegenden Fall ist ein erneutes Wiederaufnahmeersuchen an Polen nicht mehr möglich. Nach erfolgter Überstellung am 25.08.2016 nach Polen reiste die Familie lt. einer Eintragung im AZR bereits am 11.06.2017 wieder ins Bundesgebiet ein. Ein neuerliches Ersuchen an Polen hätte gem. Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO innerhalb von 2 Monaten nach der EURODAC-Treffermeldung bzw. innerhalb von 3 Monaten bei Vorliegen anderer Beweismittel gestellt werden müssen. Diese Frist ist am 11.08.2017 bzw. 11.09.2017 aber bereits abgelaufen.

Die Zuständigkeit ist somit auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen.“

Am 14. August 2017 wurde ein weiter Sohn der Kläger, A..., in Eisenhüttenstadt geboren. Mit Zuweisungsentscheidungen vom 14. Dezember 2017 wurden die Kläger und ihre Kinder dem Landkreis D... zugewiesen.

Am 19. April 2018 erfolgte die persönliche Anhörung der Kläger beim Bundesamt in tschetschenischer Sprache.

Der Kläger zu 1. gab im Wesentlichen an, im Heimatland sowohl einen Personalausweis als auch einen Reisepass besessen zu haben. Bis vor seiner Ausreise habe er sich an seiner offiziellen Anschrift in Shali, dem Haus seiner Eltern, aufgehalten. Eine Schwester und ein Neffe lebten dort noch. Seinen Heimatort hätten sie mit einem Minibus am 11. März 2016 Richtung Brest verlassen und seien dann nach Polen weitergereist. Dort seien sie am 17. März 2016 angekommen und ca. eine Woche später nach Deutschland gereist. Im Heimatland lebten noch eine Schwester und ein Bruder, darüber hinaus Verwandte mütterlicher- und väterlicherseits. Die Schule habe er nach der 11. Klasse erfolgreich abgeschlossen und eine Ausbildung zum Buchhalter gemacht. In diesem Beruf habe er aber nicht gearbeitet, sondern sich bis zu seiner Ausreise im Geschäft seines Bruders um die Logistik gekümmert. Davon hätten er und seine Familie eigentlich recht gut gelebt. Seinen Reisepass habe er seit 2012 gehabt, für Urlaubsreisen. So sei er 2012, 2013 und 2014 zum Urlaub in der Türkei gewesen. Wehrdienst habe er nicht geleistet. Er sei nicht vorbestraft und habe sich in der Heimat nie politisch betätigt. Zu seinem Verfolgungsschicksal und den Gründen für seinen Asylantrag angehört gab er an, Probleme mit der Polizei in Shali gehabt zu haben. Diese hätten am 15. Januar 2015 begonnen. Sein Sohn, der sich für seine Schwester eingesetzt habe, sei von einem Revierpolizisten, ein Nachbar von ihnen, geschlagen worden. Es habe sich um einen einfachen Streit gehandelt. Eine Anzeige seiner Ehefrau bei der Polizei sei nicht wahrgenommen worden, vielmehr habe man sie beschimpft und beleidigt. Bereits im Jahr 2000 habe er Probleme mit dem Revierpolizisten bekommen, da er verletzten Kämpfern geholfen habe. Er sei damals von Russen mitgenommen und drei Tage lang gefoltert worden. Eine Woche nach dem Vorfall mit seinem Sohn seien andere Polizisten zu ihm, dem Kläger zu 1., geschickt worden und man habe ihn zur örtlichen Dienststelle verbracht, wo ihm mit Folter gedroht worden sei. Wenige Tage später sei sein Sohn von dem Revierpolizisten angefahren worden. Ein weiterer Vorfall habe sich im Dezember 2015 ereignet. Sein Sohn sei darauf angesprochen worden, dass seine Mutter zu viel rede und sie Probleme bekommen würden. Das sei vermutlich auf Veranlassung des Polizisten geschehen. Aus Angst, es könne noch einmal etwas passieren, seien sie ausgereist. Da seine Mutter 2015 verstorben sei, hätten sie bis zur Ausreise noch etwas Zeit vergehen lassen wollen.

Die Klägerin zu 2. gab an, im Heimatland einen Pass und einen Inlandspass besessen zu haben. Im Übrigen bestätigte sie im Wesentlichen die Angaben ihres Ehemanns. Grund für ihre Ausreise seien die Probleme ihres Sohnes und ihres Ehemanns mit der Polizei gewesen.

Mit Bescheid vom 16. Mai 2018, zugestellt am 29. Mai 2018, hob das Bundesamt seinen Bescheid vom 24. Mai 2016 auf (Ziffer 1.), versagte die Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 2.), die Asylanerkennung (Ziffer 3.) und den subsidiären Schutzstatus (Ziffer 4.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 5.), forderte die Kläger unter Androhung ihrer Abschiebung in die Russische Föderation auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen (Ziffer 6.) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 7.). Hinsichtlich der Begründung wird auf die Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid (Blatt 316 bis 343 des Verwaltungsvorgangs des Bundesamts) Bezug genommen.

Mit Bescheid vom selben Tag lehnte das Bundesamt außerdem den Asylantrag des am 14. August 2017 geborenen Sohnes der Kläger (Geschäftszeichen 7...) ab. Er verfolgt sein Begehren in dem Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht Cottbus – VG 1 K 1153/18.A – weiter.

Mit ihrer am 12. Juni 2018 bei dem Verwaltungsgericht Potsdam erhobenen Klage verfolgen die Kläger – und zunächst auch ihre am 03. August 2000, 24. Juni 2002, 23. November 2004, 14. Juni 2009 und 04. April 2013 geborenen Kinder – ihr Begehren weiter. Der Kläger zu 1. habe stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm und seiner Familie in Tschetschenien ein ernsthafter Schaden drohe, nämlich eine von staatlichen Akteuren ausgehende gewaltsame Behandlung. Deshalb stehe ihnen auch keine inländische Fluchtalternative außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation zu, zumal der legale Aufenthalt von Tschetschenen dort höchst problematisch sei. So seien sie auch nicht in der Lage, dort ihre Existenz zu sichern. Zudem seien zwei nahe Familienangehörige am 20. September 2018 von staatlichen Akteuren, die dem Kadyrow-Regime zuzurechnen seien, erschossen worden. Des Weiteren befürchte der Kläger zu 1., bei einer (erzwungenen) Rückkehr nach Tschetschenien gegen seinen Willen in dem völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg in der Ukraine eingesetzt zu werden. Zudem leide der Kläger zu 1. an einer depressiven Störung und einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Insoweit nimmt er Bezug auf eine psychologische Stellungnahme seines Psychologen B... vom 15. Juli 2020 und des Facharztes für Psychiatrie D...vom 19. August 2021.

Mit Beschluss vom 28. Juli 2021 hat sich das Verwaltungsgericht Potsdam nach Anhörung der Beteiligten für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das zuständige Verwaltungsgericht Cottbus verwiesen, da die Kläger bei Klageerhebung ihren Aufenthalt in K...im Landkreis D... zu nehmen gehabt hätten.

Soweit die am 03. August 2000, 24. Juni 2002, 23. November 2004, 14. Juni 2009 und 04. April 2013 geborenen Kinder der Kläger Klage erhoben hatten, haben diese die Klage am 05. April 2023 zurückgenommen. Deren Verfahren hat der Einzelrichter nach § 93 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) vom vorliegenden Verfahren getrennt und unter dem Aktenzeichen VG 1 K 248/23.A fortgeführt. Dieses Verfahren wurde mit Beschluss vom 11. April 2023 eingestellt.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter teilweiser Aufhebung der Ziffern 2. bis 7. des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. Mai 2018, Geschäftszeichen 6..., zu verpflichten, für die Kläger das Vorliegen der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 des Asylgesetzes festzustellen, hilfsweise festzustellen, dass die Kläger subsidiären Schutz gem. § 4 des Asylgesetzes genießen, höchst hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5, 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Das Bundesamt tritt dem Klägervorbringen entgegen. Zur Begründung bezieht es sich auf die angefochtene Entscheidung.

Mit Beschluss vom 18. Januar 2022 hat die Kammer gemäß § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) den Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Das Gericht hat die Kläger in der mündlichen Verhandlung informatorisch befragt. Wegen des Inhalts wird auf die Niederschrift verwiesen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten des vorliegenden Verfahrens und des Verfahrens VG 1 K 1153/18.A, den Verwaltungsvorgang des Bundesamts, die beigezogenen Akten der zuständigen Ausländerbehörde sowie auf die in der Erkenntnismittelliste aufgeführten Erkenntnisse Bezug genommen. Sämtliche Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung des Gerichts.

Entscheidungsgründe

Das Gericht konnte gemäß § 102 Abs. 2 VwGO trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten verhandeln und in der Sache entscheiden, weil die Beteiligten in den ordnungsgemäß erfolgten Ladungen auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind.

I. Die zulässige Klage ist unbegründet.

Die Kläger haben in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weder Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG noch von subsidiärem Schutz nach § 4 Abs. 1 AsylG bzw. auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Der Bescheid des Bundesamts vom 16. Mai 2018 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

1. Der auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Hauptantrag der Kläger bleibt ohne Erfolg. Nach § 3 Abs. 4, 1. Halbsatz AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 der Vorschrift ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II Seite 559, 560) ist nach § 3 Abs. 1 AsylG ein Ausländer, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II Seite 685, 953) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

Zwischen den nach § 3a AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (sog. Verfolgungshandlungen) und den in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmalen muss nach § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Die Verfolgung muss stattfinden, weil der Verfolger dem Ausländer das in Rede stehende Merkmal, z. B. eine bestimmte politische Überzeugung, zuschreibt. Ist dies der Fall, kommt es weder darauf an, ob der Betroffene die ihm zugeschriebene Überzeugung tatsächlich aufweist (§ 3b Abs. 2 AsylG) noch ob er aufgrund dieser tatsächlich tätig geworden ist (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Ob eine Verfolgungshandlung in diesem Sinne „wegen“ eines flüchtlingsrelevanten Merkmals erfolgt, ist nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung anhand des inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den – ohnehin kaum feststellbaren – subjektiven Vorstellungen und Motiven, die den Verfolgenden oder die für ihn handelnden Personen leiten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 03. Juli 1996 – 2 BvR 1957/94 –, juris Rn. 18). Entscheidend ist mithin, wie sich die Verfolgungshandlung nach dem „objektiven Empfängerhorizont“ darstellt.

Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung solcher Art liegt schließlich vor, wenn dem Antragsteller politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dies ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anhand einer Verfolgungsprognose zu beurteilen, die die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch unterstellten Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat. Beachtlich wahrscheinlich ist eine Verfolgung danach, wenn bei der im Rahmen dieser Prognose vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Insofern ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung geboten, bei der letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit maßgebend ist. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Ausländers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer quantitativen oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben allerdings die Gesamtumstände des Einzelfalls die „tatsächliche Gefahr“ („real risk“) einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Er wird bei der Abwägung aller Umstände zudem auch immer die Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung mit einstellen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es aus Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber schwere Misshandlungen bzw. Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (vgl. zu alledem BVerwG, Urteil vom 05. November 1991 – 9 C 118/90 –, juris Rn. 17; BVerwG, EuGH-Vorlage vom 07. Februar 2008 – 10 C 33/07 –, juris Rn. 37).

Die begründete Furcht vor Verfolgung kann dabei sowohl auf tatsächlich erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung bereits vor der Ausreise im Herkunftsstaat (sog. Vorverfolgung) als auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe). Für Vorverfolgte gilt innerhalb des auch insoweit anzuwendenden Maßstabes der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eine Beweiserleichterung. Denn nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie – QRL) ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist. In diesen Fällen streitet also die tatsächliche Vermutung dafür, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann allerdings widerlegt werden, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit der Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5/09 –, juris Rn. 22 ff.).

Hinsichtlich der Anforderungen an den Klägervortrag muss insoweit unterschieden werden zwischen den in den allgemeinen Verhältnissen des Herkunftslands liegenden Umständen und den in die Sphäre des Schutzsuchenden fallenden Ereignissen. Im Hinblick auf Erstere ist es bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte Aufgabe der Beklagten und der Gerichte, unter vollständiger Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen die Gegebenheiten im Herkunftsstaat aufzuklären und darauf aufbauend eine Verfolgungsprognose zu treffen. Bezüglich bereits erlittener Verfolgung im Herkunftsstaat obliegt es demgegenüber dem Schutzsuchenden im Rahmen seiner Mitwirkungspflichten nach § 15 Abs. 1 Satz 1 AsylG und § 86 Abs. 1 2. Halbsatz VwGO, diese in schlüssiger Form vorzutragen (vgl. zu alledem BVerwG, Urteil vom 25. Juni 1991 – 9 C 131/90 –, juris Rn. 9; Beschluss vom 21. Juli 1989 – 9 B 239/89 –, juris Rn. 3; Urteil vom 08. Februar 1989 – 9 C 29.87 –, juris Rn. 9; Urteil vom 23. Februar 1988 – 9 C 273/86 –, juris Rn. 11).

Das Gericht muss die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit – des behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem der Schutzsuchende seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet. Wegen der häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Schutzsuchenden kann schon allein sein eigener Tatsachenvortrag zur Asylanerkennung führen, sofern sich das Tatsachengericht unter Berücksichtigung aller Umstände von dessen Wahrheit überzeugen kann. Wenn wegen Fehlens anderer Beweismittel nicht anders möglich, muss die richterliche Überzeugungsbildung vom Vorhandensein des entscheidungserheblichen Sachverhalts in der Weise geschehen, dass sich das Gericht schlüssig wird, ob es dem Schutzsuchenden glaubt. Daran kann es sich wegen erheblicher Widersprüche im Vorbringen des Schutzsuchenden gehindert sehen, es sei denn, die Widersprüche und Unstimmigkeiten können überzeugend aufgelöst werden (BVerwG, Beschluss vom 21. Juli 1989 – 9 B 239/89 –, juris Rn. 3).

Diese Anforderungen zugrunde gelegt, ist das Gericht auf Grundlage des Akteninhalts, der informatorischen Befragung der Kläger sowie der vorliegenden Erkenntnisquellen nicht davon überzeugt, dass sie ihr Herkunftsland als Flüchtlinge im Sinne des § 3 AsylG verlassen haben. Das Gericht vermochte sich insbesondere keine Überzeugung zu der geltend gemachten beachtlichen Wahrscheinlichkeit für eine flüchtlingsrelevante Verfolgung zu bilden. Für das Gericht ist es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger im Herkunftsland überhaupt Verfolgungshandlungen ausgesetzt waren und die entsprechende Einschätzung des Bundesamts teilt es, zumindest im Ergebnis.

Soweit der Kläger zu 1. darauf verwiesen hat, er sei am 01. September 2000 von maskierten Tschetschenen und unmaskierten Russen zu Hause aufgesucht und wegen des Vorwurfs der Unterstützung von Kämpfern unter Androhung von Waffengewalt mitgenommen und über drei Tage lang gefoltert worden, mangelt es jedenfalls an einem zeitlichen kausalen Zusammenhang zwischen dem vorgetragenen Geschehen und dem Zeitpunkt der Ausreise der Kläger im März 2016. Entsprechendes gilt für den Vortrag der Klägerin zu 2., einer der Russen habe am selben Tag auch sie „mitnehmen“ wollen, wovon er aber aufgrund der Intervention ihrer Schwiegermutter abgelassen habe. Wäre das Geschehen vom 01. September 2000 für die Kläger tatsächlich Anlass gewesen, ihre Heimat zu verlassen, wären sie nicht erst im März 2016, mithin über 15 Jahre später, sondern schon wesentlich früher ausgereist. Es ist auch nicht ersichtlich, dass das vorgetragene Geschehen in einem konkreten Zusammenhang mit dem weiteren Vorfall aus dem Jahre 2015 stünde.

Im Übrigen ist es nach den Erkenntnissen des Gerichts schon nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der russische Staat an denjenigen, die im ersten oder zweiten Tschetschenienkrieg für die Unabhängigkeit Tschetscheniens („Itschkeria“) gekämpft haben, nach dem Jahr 2011 noch irgendein Interesse gehabt hätte. Das gilt erst recht für solche Personen, die verletzten Kämpfern lediglich geholfen, selbst aber nicht an Kampfhandlungen teilgenommen haben und zu denen nach eigenen Angaben auch der Kläger zu 1. zählen soll. Die letzten Anfragen russischer Behörden mit Bezug auf Kampfhandlungen des ersten und zweiten Tschetschenienkriegs, die gefunden werden konnten, stammen aus dem Jahr 2011. Hinweise auf neuere Anfragen oder Verfolgungshandlungen tschetschenischer Behörden konnten nicht gefunden werden, ebenso wenig Hinweise darauf, dass russische Behörden tschetschenische Kämpfer der beiden Kriege suchen würden. Es ist daher davon auszugehen, dass sich die russischen Behörden bei der Strafverfolgung mittlerweile auf IS-Kämpfer oder -Unterstützer bzw. auf Personen konzentrieren, die im Nordkaukasus gegen die Sicherheitskräfte kämpfen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 30. September 2019, Seite 49). Dass der Kläger zu 1. zuletzt genanntem Personenkreis zuzurechnen sein sollte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.

Hinsichtlich der Vorfälle, die sich im Jahr 2015 zugetragen haben und im Zusammenhang mit dem am 03. August 2000 geborenen Sohn der Kläger stehen sollen, erscheint eine Verfolgung der Kläger, namentlich des Klägers zu 1., ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich. Die vorliegenden Tatsachen sprechen zur Überzeugung des Gerichts gegen die Annahme, dass die Kläger vorverfolgt ausgereist sind. Im Einzelnen:

So haben sich die Kläger bis zur ihrer Ausreise an ihrer offiziellen Wohnanschrift in Shali aufgehalten. Wären sie im Jahr 2015 tatsächlich der Verfolgung durch staatliche Organe ausgesetzt gewesen, wären sie – bei lebensnaher Betrachtung – entweder untergetaucht oder unverzüglich ausgereist, um sich dem Zugriff staatlicher Organe zu entziehen. Stattdessen waren sie aufgrund des Verbleibs an ihrer offiziellen Wohnanschrift bis März 2016 für die Behörden jederzeit und ohne Weiteres zu erreichen.

Tatsache ist auch, dass sich nach dem Vortrag der Kläger der letzte Vorfall im Dezember 2015 zugetragen haben soll. Ausgereist sind die Kläger jedoch erst im März 2016. Rund drei Monate lang konnten sie also offenbar unbehelligt unter ihrer offiziellen Wohnanschrift leben. Im Falle ihrer tatsächlichen Verfolgung durch staatliche Organe wäre das keinesfalls möglich gewesen.

Gegen die Annahme einer asylrelevanten Verfolgung spricht weiterhin, dass unmittelbar vor der Ausreise für die Klägerin zu 2. am 24. Februar 2016 und für die gemeinsamen – damals noch minderjährigen Kinder – am 14. Juli 2015 bzw. 12. Februar 2016 Reisepässe antragsgemäß ausgestellt wurden. Das Passantragsverfahren beinhaltet das Prüfen von Dokumenten und Abfragen einer Reihe von nationalen Datenbanken, die rückmelden, ob der Antragsteller wegen irgendwelcher Verstöße gesucht wird, unbezahlte Schulden oder Steuerschulden hat oder anderweitig für die Ausstellung eines Reisepasses nicht geeignet ist. Dann muss der Antragsteller persönlich zum biometrischen Scannen erscheinen und später das Dokument abholen. Allein das Beantragen eines Reispasses führt zwangsläufig dazu, dass der Antragsteller in den Fokus der Behörden gerät (Galeotti, Mark: Lizenz zum Töten? Das Risiko für Tschetschenen innerhalb Russlands, London, Juni 2019, Seite 8). Nach Klägerangaben soll es bei der Beantragung der Reisepässe jedoch zu keinerlei Problemen gekommen sein, was sich angesichts der behaupteten Verfolgung nicht erschließt. Die Ausstellung der Reispässe versetzte – mit Blick auf die bereits am 27. Februar 2012 für den Kläger zu 1. und am 25. Mai 2013 für den ältesten Sohn der Kläger ausgestellten Reisepässe – die gesamte Familie in die Lage, die Russische Föderation nunmehr gemeinsam zu verlassen, zumal die Reisepässe 2015 und 2016 nach Klägerangaben genau zu diesem Zweck beantragt worden sind. Das vereinfachte es insbesondere dem Kläger zu 1., sich einem etwaigen Zugriff staatlicher Organe zu entziehen, ohne dazu seine Familie verlassen zu müssen. Hätte der Kläger zu 1. tatsächlich im Fokus tschetschenischer oder föderaler Behörden gestanden, wäre es keinesfalls zur Ausstellung der Reisepässe in den Jahren 2015 und 2016 gekommen.

Hinzu kommt, dass für den Kläger zu 1. erneut ein Reisepass antragsgemäß am 15. März 2022 ausgestellt worden ist, nachdem sein Reisepass am 27. Februar 2022 abgelaufen war. Allein die Tatsache, dass ihm erneut ein Reisepass ohne Probleme ausgestellt worden ist, spricht gegen die Annahme, föderale oder tschetschenische Behörden hätten auch nur irgendein Interesse an seiner Person. Im Übrigen hält das Gericht es für fernliegend, dass eine Person die Behörden des Staates, von denen sie sich verfolgt sieht, durch die Beantragung eines Reisepasses über ihren aktuellen Aufenthaltsort unterrichten möchte, wie dies der Kläger zu 1. dem Gericht auf die Frage, wozu er den neuen Reisepass beantragt habe, mitgeteilt hat. Eine Person, die sich tatsächlich der Verfolgung durch staatliche Organe ausgesetzt sähe, würde alles dafür tun, dass ihr Aufenthaltsort den Behörden dieses Staates möglichst unbekannt bleibt.

Was den Geschäftspartner des Klägers zu 1. angeht, der, wie der Kläger zu 1. in der mündlichen Verhandlung erstmals berichtet hat, aus Shali verschleppt und am 26. Januar 2017 getötet worden sein soll, erschließt sich nicht, inwiefern dieser Vorfall eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für die Annahme einer Verfolgung der Kläger begründen soll.

Auch der weitere Vortrag des Klägers zu 1. aus der mündlichen Verhandlung, wonach fünf männliche Teenager in seinem Heimatort am 20. August 2018 getötet worden sein sollen, begründet nicht die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung der Kläger im Falle ihrer Rückkehr. Im Zusammenhang mit diesem Vortrag haben die Kläger im Verfahren VG 1 K 1153/18.A die Fotos zweier namentlich benannter Cousins ihres jüngsten Sohns vorgelegt, die diese zeigen sollen, nachdem sie von staatlichen Akteuren erschossen worden sein sollen. Die fünf Jugendlichen sollen den Angaben des Klägers zu 1. in der mündlichen Verhandlung nach Terroranschläge im Zusammenhang mit dem sog. „Islamischen Staat“ an verschiedenen Orten in Tschetschenien verübt haben. Zwei dieser Jugendlichen seien Söhne des Bruders seiner Halbschwester, zwei weitere „Verwandte mütterlicherseits“ und alle fünf Jugendlichen seien auf einer Schule, zwei davon in der Klasse seiner Tochter und einer in der Klasse seines Sohnes, gewesen.

Zwar geht die Bekämpfung von Extremisten in Tschetschenien u. a. mit Sippenhaft einher. Auch Familienangehörige, Freunde und Bekannte oder andere mutmaßliche Unterstützer von Untergrundkämpfern können zur Verantwortung gezogen und bestraft werden. Verwandte von terroristischen Kämpfern stehen häufig unter dem Verdacht, diese zu unterstützen bzw. mit deren Ideologie zu sympathisieren, und sind daher von Grund auf eher der Gefahr öffentlicher Demütigung, Entführung, Misshandlung und Folter ausgesetzt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 52). Mit Blick darauf, dass die Kläger jedoch bereits 2016, also lange vor den vorgeblich verübten Anschlägen, ausgereist sind und damit eine Beteiligung oder Unterstützung der Kläger an besagten Anschlägen faktisch ausscheidet – Gegenteiliges ist weder vorgetragen noch ersichtlich –, vermag das Gericht keine Überzeugung von davon zu erlangen, dass den Klägern im Falle ihrer Rückkehr eine Verfolgung, konkret in Gestalt von Sippenhaft, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.

Soweit der Kläger zu 1. weiter berichtet hat, dass – unabhängig von dem soeben abgehandelten Geschehen – zwei Neffen von ihm festgenommen worden seien, erschließt sich schon nicht, aus welchem Grund die Festnahmen erfolgten und inwiefern diese Festnahmen eine Verfolgungsgefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für die Kläger begründen.

Darüber hinaus steht den Klägern, was eine etwaige Verfolgung durch tschetschenische Sicherheitsorgane angeht, innerhalb ihres Herkunftslandes, der Russischen Föderation, eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Gemäß § 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (sog. „interner Schutz“, vgl. § 3e Abs. 1 AsylG).

Politisch unverdächtigen und erwerbsfähigen Tschetschenen steht in den meisten Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative bzw. interner Schutz im Sinne von § 60 Abs. 1 Sätze 1 und 4 AufenthG in Verbindung mit Art. 8 QRL zur Verfügung. Tschetschenen steht auch bei einer unterstellten Vorverfolgung eine interne Schutzmöglichkeit innerhalb der Russischen Föderation offen, sofern keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sie zur nationalen Fahndung ausgeschrieben sind (VG Cottbus, Urteil vom 28. Januar 2021 – 1 K 141/18.A –, juris Rn. 55).

Für das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative spricht bereits die große Zahl von Tschetschenen, die sich außerhalb des Nordkaukasus in anderen Gebieten der Russischen Föderation niedergelassen haben. Laut Aussagen von Kadyrow sollen etwa 300.000 Tschetschenen in Russland außerhalb des Nordkaukasus leben. Zwischen 2008 und 2015 haben rund 150.000 Tschetschenen die Teilrepublik Tschetschenien verlassen, teils in andere Regionen der Russischen Föderation, teils ins Ausland. Tschetschenische Gemeinschaften sind über ganz Russland verteilt. Die offiziell größten Gemeinschaften von Tschetschenen leben in Dagestan (über 93.000 Personen), in Inguschetien (knapp 19.000 Personen), in Moskau (über 14.000 Personen), in der Region Stawropol (knapp 12.000 Personen) und in der Region Rostow (über 11.000 Personen), wobei die tatsächliche Zahl erheblich höher geschätzt wird. So soll es allein in Wolgograd etwa 20.000 statt der im Rahmen der Volkszählung 2010 erfassten knapp 10.000 Tschetschenen geben. Neben der Registrierung in Moskau als Hauptwohnsitz besteht z. B. auch die Möglichkeit, offiziell seinen ständigen Wohnsitz in Tschetschenien zu behalten, was bei einer recht großen Anzahl der in Moskau lebenden Tschetschenen der Fall ist (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 95 und 96; EASO, Die Situation der Tschetschenen in Russland, August 2018, Seite 12 bis 14 und Seite 17). Demnach vermag allein die Tatsache einer Registrierung, d. h. die Bekanntgabe des Wohnsitzes gegenüber staatlichen Stellen, noch nichts darüber auszusagen, ob jemandem landesweite Verfolgung droht, denn ansonsten wären die mehreren zehntausend bis hunderttausend außerhalb des Nordkaukasus registrierten Tschetschenen dieser Gefahr quasi flächendeckend ausgesetzt.

Es fehlt an Anhaltspunkten für eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung für diejenigen Tschetschenen, die außerhalb ihrer Teilrepublik in der Russischen Föderation leben, weil sie in Tschetschenien Übergriffen durch Sicherheitskräfte ausgesetzt waren. Eine derartige Verfolgungsgefahr lässt sich nur in besonderen Einzelfällen begründen, wenn es sich um einen prominenten Kadyrow-Gegner handelt oder wenn jemand sich auf einer föderalen Fahndungsliste befindet. So haben am 20. Januar 2022 Männer, die dem Sicherheitsapparat Kadyrows zuzurechnen sind, die Frau des Richters Jangulbajew aus dem 400 Kilometer östlich von Moskau gelegenen Nischni Nowgorod nach Tschetschenien verschleppt, wo sie anschließend inhaftiert wurde. Kadyrow verdächtigt zwei Söhne Jangulbajews, hinter einem regimekritischen Telegram-Kanal namens „1ADAT“ zu stehen. Die übrigen Mitglieder der Kernfamilie des Richters sind alle ins Ausland geflohen. Kadyrow droht, sie auch dort zu finden und zu „vernichten“ (VG Potsdam, Urteil vom 16. Februar 2022 – VG 16 K 2844/17.A –, juris, Seite 10 U.A.).

Nach neueren Erkenntnissen der österreichischen Botschaft Moskau reicht die Macht von Kadyrow im Allgemeinen aber nicht über die Grenzen der Teilrepublik Tschetschenien hinaus. Trotz der Rhetorik des tschetschenischen Oberhauptes gilt dessen Machtentfaltung außerhalb der Grenzen der Teilrepublik als beschränkt und zwar nicht nur formell im Lichte der geltenden russischen Rechtsordnung, sondern auch faktisch durch die offenkundige Konkurrenz zu den föderalen Sicherheitskräften. Viele Personen innerhalb der russischen Elite einschließlich der meisten Leiter des Sicherheitsapparates misstrauen und verachten Kadyrow. Es gibt Berichte über die „Feindseligkeit von Teilen der Sicherheitsstruktur gegenüber Ramsan Kadyrow und ihre Uneinigkeit mit dem Kreml über Tschetschenien“. Allein daraus ist zu folgern, dass die umfangreiche tschetschenische Diaspora innerhalb Russlands nicht unter der unmittelbaren Kontrolle von Kadyrow steht. Konkrete Einzelfälle aus der Vergangenheit zeigen allerdings, dass kriminelle Akte gegen explizite Regimegegner im In- und Ausland nicht gänzlich ausgeschlossen werden können (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 96 und 97; EASO, Die Lage der Tschetschenen in Russland, Stand August 2018, Seite 52). Jedoch zeigen sich die russischen Behörden durchaus bemüht, den Vorwürfen der Verfolgung von bestimmten Personengruppen in Tschetschenien nachzugehen. Bei einem Treffen mit Präsident Putin Anfang Mai 2017 betonte die russische Ombudsfrau für Menschenrechte allerdings, dass zur Inanspruchnahme von staatlichem Schutz eine gewisse Kooperationsbereitschaft der mutmaßlichen Opfer erforderlich sei (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 31. August 2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 28. Februar 2019, Seite 10).

Zwar sind bzw. waren tschetschenische bewaffnete Gruppierungen, darunter auch Angehörige von Sicherheitskräften, in Moskau präsent. In Moskau gab es im Jahr 2015 mehr als zehn tschetschenische Gruppen, die bei „Streitigkeiten mit Wirtschaftsunternehmen“ bewaffnete Unterstützung anbieten. Solche Gruppen „besteuern“ Unternehmen und üben andere illegale Aktivitäten aus. Dabei dürfte es sich um organisierte Kriminalität handeln; dafür, dass diese Gruppen aus politischen Motiven heraus handeln, gibt es jedenfalls keinen Anhaltspunkt. Außerdem sollte es in Moskau etwa 30 Leibwächter von Kadyrow geben, wobei die letzten Berichte über diese Gruppe jedoch aus den Jahren 2013/2014 stammen (EASO, Die Situation der Tschetschenen in Russland, August 2018, Seite 15 und 16 sowie Seite 52).

Nach anderen Quellen sind weniger als 100 Beamte, die offiziell bei den tschetschenischen Sicherheitskräften akkreditiert sind, zu Operationen in Moskau berechtigt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 98). Das Netz von etwa 50 über ganz Russland verteilten tschetschenischen Büros, die die tschetschenische Republik in vielen russischen Regionen offiziell vertreten, sammelt keine Informationen über tschetschenische Binnenmigranten und tätigt auch sonst keine weiteren direkten Aktionen. Die tschetschenischen Gemeinden in Russland sind zwar teilweise Kadyrow bei der Ausübung von Druck auf hochrangige/bekannte Kritiker behilflich, aber es gibt keine Beweise, dass sie Informationen weitergeben (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 96). Generell hält das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anzahl von tatsächlich Verfolgten sowohl im Inland als auch im Ausland gemessen an der Größe der tschetschenischen Diaspora innerhalb und außerhalb Russlands für quantitativ gering. Diese seien nur in Einzelfällen einer konkreten Gefährdung ausgesetzt. Diese nur selten begründbare Gefährdungslage werde benutzt, wenn sozio-ökonomische Motive hinter dem Versuch der Migration nach Westeuropa ständen, wie auch von menschenrechtlicher Seite eingeräumt werde. Laut einer Analyse des Moskauer Carnegie-Zentrums würden die meisten Tschetschenen aus rein ökonomischen Gründen emigrieren (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, generiert am 21. März 2021, Version 2, Seite 80 und 81).

Ebenso wenig bestehen verlässliche Berichte darüber, dass die russischen Sicherheitsbehörden außerhalb des Nordkaukasus tschetschenische Sicherheitskräfte bei der Suche nach etwaigen aus deren Sicht Verdächtigen in jedem Fall unterstützen würden. Die russischen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden sind im Allgemeinen nicht bereit, als tschetschenische Vollstrecker aufzutreten, da sie oft skeptisch gegenüber Forderungen aus Grosny seien. Die föderalen Sicherheitsbehörden machten einen deutlichen Unterschied zwischen der Behandlung von Personen, die wegen Verbrechen in Tschetschenien gerichtlich verurteilt seien, und von jenen, denen nur vorgeworfen werde, Verbrechen begangen zu haben (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 97).

Ein Vertreter der Chechen Social and Cultural Association betrachtete es als unmöglich für die tschetschenischen Behörden, einen low-profile-Unterstützer der Rebellen in anderen Teilen der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens ausfindig zu machen. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die tschetschenischen Behörden Unterstützer und Familienmitglieder einzelner Kämpfer auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation suchen und/oder finden würden, was aber bei einzelnen bekannten oder hochrangigen Kämpfern sehr wohl der Fall sein könne (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 01.Juni 2016, letzte Kurzinformation eingefügt am 17. November 2016, Seite 76). Nach einer westlichen Botschaft und einem Bericht des Danish Immigration Service (DIS) dürfen tschetschenische Behörden die offiziellen Kanäle nicht für die Suche nach Personen in anderen Teilen Russlands nutzen. Die formalen Verfahren für solche Überstellungen seien recht langwierig und der Fall müsse durch Beweise untermauert werden. Entweder hätten die befragten Quellen nichts über gerichtliche Überstellungen mutmaßlicher Unterstützer oder Angehöriger der tschetschenischen Rebellen aus anderen Teilen der Russischen Föderation gewusst oder sie hätten sich nur auf ältere Fälle von 2008 bis 2011 bezogen. Demnach bedarf es für eine Suche und offizielle Überstellung mindestens eines entsprechenden föderalen Rechtsaktes, der auch in den Augen der russischen Behörden aussagefähig ist.

Soweit ein Analyst der Internationalen Krisengruppe in Moskau gegenüber dem DIS erklärte, die tschetschenische Polizei verhafte „manchmal“ Menschen in anderen Regionen Russlands und die Abteilung zur Bekämpfung von Extremismus des tschetschenischen Innenministeriums könne im ganzen Land agieren, wird als Beleg dafür lediglich den Fall des Murad Amriev genannt, der 2017 beinahe in Brjansk durch die russische Staatsanwaltschaft an tschetschenische Strafverfolgungsbeamte übergeben worden wäre, dem aber die Flucht ins Ausland gelang (EASO, Die Lage der Tschetschenen in Russland, Stand August 2018, Seite 55). Dieser Fall belegt aber gerade die oben dargelegten Erkenntnisse, dass nur solche Personen, gegen die ein entsprechender föderaler Rechtsakt erlassen wurde, nach Tschetschenien überstellt werden können, denn Amriev befand sich laut einer Information von „Human Rights Watch“ vom 9. Juni 2017 wegen des Vorwurfs der Urkundenfälschung auf einer föderalen Fahndungsliste. Insofern gibt der Fall nichts zu anderen Personen her, gegen die ein derartiger Rechtsakt nicht vorliegt, und kann nicht als Anhaltspunkt für eine generelle Verfolgungsgefahr durch tschetschenische Sicherheitskräfte auf dem gesamten russischen Territorium gelten.

Das Auswärtige Amt geht auch nicht von einer flächendeckenden Kontrolle eigener Staatsangehöriger bei der Wiedereinreise in die Russische Föderation aus, sondern gibt lediglich an, es lägen Hinweise darauf vor, dass die Sicherheitsdienste einige Personen bei Ein- und Ausreisen überwachen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation, vom 28. September 2022 (Stand: 10. September 2022), Seite 27).

Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger in der Russischen Föderation zur Fahndung ausgeschrieben wären oder dass gegen sie ein sonstiger Rechtsakt erlassen worden wäre, auf dessen Grundlage sie aus anderen Teilrepubliken der Russischen Föderation nach Tschetschenien gebracht werden könnten (vgl. zu diesen Rechtsakten Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation, vom 28. September 2022 (Stand: 10. September 2022), Seite 17; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 97).

Bei den Klägern handelt es sich, selbst wenn man ihrem Vortrag Glauben schenken wollte, aus Sicht der Behörden nicht um in der gesamten Russischen Föderation prominente Persönlichkeiten und auch nicht um bekannte oder hochrangige Kämpfer. Selbst aus gewalttätigen Übergriffen tschetschenischer Sicherheitskräfte innerhalb der eigenen Teilrepublik, kann nicht der Schluss gezogen werden, dass der Betreffende auch jetzt bei einer Rückkehr in eine andere als seine Heimatregion von staatlichen Akteuren zu diesem Zweck festgehalten und möglicherweise gefoltert wird. Es liegen dem Gericht keinerlei Erkenntnisse vor, dass dieses System der unrechtmäßigen und anlasslosen Ingewahrsamnahme auch außerhalb der Nordkaukasusregion derart praktiziert wird (vgl. VG Magdeburg, Urteil vom 26. Juli 2017 – 3 A 253/16 –, juris Rn. 25).

Die Kläger können auch sicher und legal in den sicheren Landesteil reisen, werden dort aufgenommen und es kann von ihnen vernünftigerweise erwartet werden, dass sie sich dort niederlassen. Bei der Prüfung, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach § 3e Abs. 1 AsylG erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 QRL zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen (§ 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG). Erforderlich ist, dass der Ausländer am Zufluchtsort unter persönlich zumutbaren Bemühungen jedenfalls sein wirtschaftliches Existenzminimum, sei es durch eigene Arbeit, sei es durch staatliche oder sonstige Hilfen, sichern kann und nicht der Obdachlosigkeit ausgesetzt ist. Dabei sind einem jungen, gesunden und arbeitsfähigen Kaukasier mit Hauptschulabschluss und grundlegenden Russischkenntnissen außer kriminellen Tätigkeiten alle Arbeiten zumutbar, auch solche, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden können (BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 – 1 VR 3/17 –, juris Rn. 119). Der Verweis auf eine entwürdigende oder eine entgeltliche Erwerbstätigkeit für eine kriminelle Organisation, die in der fortgesetzten Begehung von oder Teilnahme an Verbrechen besteht, ist dagegen nicht zumutbar (vgl. BVerwG, Urteil vom 01. Februar 2007 – 1 C 24/06 –, juris Rn. 11).

Tschetschenen steht wie allen russischen Staatsbürgern das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Für eine legale Aufenthaltnahme bedarf es einer Registrierung, wozu der Inlandspass und ein Wohnraumnachweis vorgelegt werden müssen. Tatsächlich schränken einige regionale Behörden die Registrierung vor allem von ethnischen Minderheiten und Migranten u. a. aus dem Kaukasus ein, wodurch die Möglichkeit, sich dort zu registrieren beschränkt ist (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 92 und 93).

Stichhaltige Anhaltspunkte für eine generelle Verweigerung der Registrierung innerhalb der gesamten Russischen Föderation liegen nicht vor. Zwar ergibt sich aus den vorliegenden Erkenntnismitteln, dass sich Nordkaukasier wegen ihrer Volkszugehörigkeit in der Russischen Föderation Übergriffen und Diskriminierungen seitens der Behörden, aber auch durch gesellschaftliche Kräfte ausgesetzt sehen können. Gleichwohl kann aufgrund dieser Situation nur dann von fehlender Verfolgungssicherheit ausgegangen werden, wenn es sich bei den zu gewärtigenden Maßnahmen um Verfolgungshandlungen im Rechtssinne handelt und diese eine Dichte haben, die zur Annahme einer Gruppenverfolgung ausreicht. Das Vorliegen einer Verfolgungshandlung beurteilt sich nach § 3a AsylG. Wenngleich festzustellen ist, dass Nordkaukasier in der Russischen Föderation außerhalb des Nordkaukasus in gesteigertem Maße Anfeindungen und Misstrauen begegnen, so ist damit die Schwelle für die Annahme einer Gruppenverfolgung nicht überschritten. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr um nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 01. Februar 2007 – 1 C 24.06 –, juris Rn. 7). Objektive Anhaltspunkte, die eine derartige Behandlung von Personen aus dem Nordkaukasus in der Russischen Föderation als nicht nur ganz entfernte und damit durchaus reale und nicht nur theoretische Möglichkeit erscheinen lassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08. September 1992 – 9 C 8/91 –, juris Rn. 14), sind indes nicht ersichtlich. Angesichts der oben genannten Vielzahl von in der Russischen Föderation sowohl als Binnenflüchtlinge als auch als Migranten lebenden Nordkaukasiern bieten die nicht mit näherer Quantifizierung verbundenen Angaben zu gegen sie gerichteten Maßnahmen keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme einer auch nur geringen Wahrscheinlichkeit einer eigenen Verfolgungsbetroffenheit.

Das generelle Erfordernis der Registrierung hat wie oben bereits erwähnt nicht die beachtlich wahrscheinliche Gefahr zur Folge, durch tschetschenische Sicherheitskräfte an anderen Orten der Russischen Föderation aufgefunden und nach Tschetschenien überstellt werden zu können. Dies erscheint auch angesichts der vorliegenden Erkenntnisse zum Registrierungsverfahren unwahrscheinlich, denn die Abmeldung muss nicht über die Behörden der ursprünglichen Adresse vorgenommen, sondern kann auch an der neuen Adresse durchgeführt werden. Mit der Abmeldung wird zur Bestätigung ein Stempel in den Inlandspass gesetzt. Wenn eine Person ihren neuen dauerhaften Wohnsitz anmeldet, während ihr alter Wohnsitz noch nicht abgemeldet ist, wird die Abmeldung gleich am Ort der Anmeldung der neuen Adresse vorgenommen. Generell stellt die Anmeldung für Personen aus dem Nordkaukasus kein Problem dar, selbst wenn sie diskriminiert werden oder einem korrupten Verhalten der Beamten ausgesetzt sind, denn letztendlich erhalten sie ihre Anmeldungen. EASO hat trotz weiterer Recherchen für den Bericht 2018 keine neueren Informationen zur Registrierungspraxis ermitteln können (EASO, Die Situation der Tschetschenen in Russland, August 2018, Seite 19 und 20). Demnach ist nicht ersichtlich, wie tschetschenische Sicherheitsbehörden überhaupt Kenntnis von einer neuen Registrierung außerhalb Tschetscheniens erlangen sollten.

Soweit Svetlana Gannushkina vom Komitee für Bürgerbeteiligung im Gegensatz dazu behauptet, dass bei der Anmeldung an einer neuen Adresse die Informationen automatisch an das Meldeamt der alten Adresse gesendet würden und diese Informationen von etwaigen Verfolgern „leicht abgerufen“ werden könnten, handelt es sich hierbei um eine für das Gericht nicht überprüfbare Spekulation. Es erhebt sich bereits die Frage, wie Verfolger überhaupt Kenntnis von der neuen Anmeldung erlangen; eine Kenntnisnahme würde voraussetzen, dass jeder Verfolger regelmäßig sämtliche Meldeänderungen überprüfen würde, was bereits aus praktischen Erwägungen heraus, aber auch angesichts von Datenschutzvorschriften, unwahrscheinlich ist. Nach Einschätzung des DIS ist außerdem fraglich, ob diese Informationen tatsächlich von den Behörden aufgegriffen und verwendet werden. Dies hänge davon ab, wie wichtig die Person für die Behörden sei. Wenn diese Person nicht von Bedeutung sei, werde vielleicht gar nichts passieren (EASO, Die Lage der Tschetschenen in Russland, Stand August 2018, Seite 53 und 54).

Außerdem fehlt es wie oben schon ausgeführt an belastbaren Berichten in hinreichender Anzahl über das Tätigwerden tschetschenischer und/oder russischer Sicherheitskräfte in anderen Teilen der Russischen Föderation gegenüber im Inland migrierten Nordkaukasiern allein aufgrund einer neuen Registrierung. Angesichts der mehreren Zehntausend Nordkaukasier, die sich in der Russischen Föderation außerhalb der Nordkaukasusregion dauerhaft angesiedelt und dabei auch neu registriert haben, müsste es aber zahlreiche solche Berichte geben, wenn dieses Risiko so real wäre wie behauptet.

In einer Gesamtbetrachtung der konkreten wirtschaftlichen und sozialen Situation in der Russischen Föderation, der dort allgemein zugänglichen sozialen Sicherungssysteme und der individuellen Situation der Kläger liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass es ihnen aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen unzumutbar wäre, ihren Aufenthalt innerhalb der Russischen Föderation – außerhalb von Tschetschenien – zu nehmen.

Es ist nach den Erkenntnissen des Gerichts nicht zu erwarten, dass die Kläger nach der Rückkehr nicht zur Sicherung ihres Lebensunterhalts einschließlich des Wohnbedarfs in der Lage wären. Die Armutsgefährdung stellt in der Russischen Föderation ein flächendeckendes Problem dar, von dem bis zu 63 Prozent der Bevölkerung betroffen sind. Teilweise wird diese Gefährdung durch die vorhandenen sozialen Sicherungssysteme aufgefangen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 31. August 2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 12. November 2018, Seite 84). Die Kläger sind im Fall der Rückkehr von drohender Armut nicht in größerem Umfang als die Bevölkerung insgesamt betroffen.

Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen. Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen: dem Rentenfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem staatlichen Beschäftigungsfonds. Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld ausgezahlt. Zum Kreis der schutzbedürftigen Personen zählen u. a. Familien mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie ältere Menschen, aber auch Kinder (unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen für Familien mit Kindern), Großfamilien (Ausstellung einer Großfamilienkarte, unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen, Rückerstattung von Nebenkosten [Wasser, Gas, Elektrizität, etc.]), Familien mit geringem Einkommen, Studierende, Arbeitslose, Pensionisten, Angestellte spezialisierter Institutionen und Jungfamilien (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 104 und 105). Vor allem auch zur Förderung einer stabileren demografischen Entwicklung gibt es ein umfangreiches Programm zur Unterstützung von Familien, vor allem mit Kindern unter drei Jahren: z. B. eine Aufstockung des Existenzminimums ab 2020 bis auf das Zweifache, das sogenannte Mutterschaftskapital in Form einer bargeldlosen, zweckgebundenen Leistung sowie besondere Leistungen zur Corona-Krise wie etwa eine einmalige Auszahlung an Kinder im Alter von drei bis 16 Jahre in Höhe von 10.000 Rubel [ca. 111 Euro], monatliche Auszahlungen an Kinder bis drei Jahre in Höhe von 5.000 Rubel [ca. 55 Euro] (dreimal für April, Mai und Juni ausgezahlt), monatliche Auszahlungen in Höhe von 3.000 Rubel [ca. 33 Euro] an Kinder bis 18 Jahre, deren Eltern offiziell als arbeitslos gemeldet sind (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 104).

Die monatlichen Zahlungen der Familienbeihilfe liegen im Falle von einem Kind bei 3.142 Rubel (ca. 43 Euro). Beim zweiten Kind sowie bei weiteren Kindern liegt der Betrag bei 6.284 Rubel (ca. 86 Euro). Der maximale Betrag liegt bei 26.152 Rubel (ca. 358 Euro). Seit 2018 gibt es für einkommensschwache Familien für Kleinkinder (bis 1,5 Jahre) monetäre Unterstützung in Höhe des regionalen Existenzminimums (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 105).

Zu den wichtigen sozialen Unterstützungsleistungen zählt das Mutterschaftskapital. Dieses Programm wurde 2007 aufgelegt und wird russlandweit umgesetzt. Der Umfang der Leistungen ist beträchtlich. Es wurde eingeführt, um Eltern finanziell zu unterstützen und dadurch die Geburtenrate in Russland zu erhöhen. Die Einmalzahlung wird Familien (grundsätzlich der Mutter) für jedes (seit 2020 auch das erste) zur Welt gebrachte oder adoptierte Kind gewährt (2021: 483.881,83 Rubel (über 5.000 Euro) für das erste Kind, 639.431,83 Rubel (ca. 7.000 Euro) für das zweite und jedes weitere Kind). Man bekommt das Geld allerdings erst drei Jahre nach der Geburt ausgezahlt, und die Zuwendungen sind an bestimmte Zwecke gebunden. So etwa kann man von den Geldern Hypothekendarlehen tilgen, weil dies zur Verbesserung der Wohnsituation beiträgt. In einigen Regionen darf der gesamte Umfang des Mutterkapitals bis zu 70% der Wohnkosten decken. Aufgestockt werden die Leistungen durch Beihilfen in den Regionen. Die Höhe des Mutterschaftskapitals entspricht etwa einem durchschnittlichen Jahresgehalt und bisher profitierten über fünf Millionen Familien davon. Das Mutterschaftskapital soll laut Putin bis Ende 2026 fortgeführt werden. Das Mutterschaftskapital muss nicht versteuert werden und ist status- und einkommensunabhängig (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 106).

Arbeitnehmer mit einem Invalidenstatus haben das Recht auf eine Invaliditätspension. Dies gilt unabhängig von der Ursache der Behinderung. Die Invaliditätspension wird für die Dauer der Behinderung gewährt oder bis zum Erreichen des normalen Pensionsalters. Zum 01. Januar 2020 lag die Durchschnittspension beeinträchtigter Menschen bei 9.823 Rubel [ca. 109 Euro]. Die Höhe der monatlichen Invaliditätspension ist abhängig vom Invaliditätsgrad. Es gibt staatliche Einrichtungen für ältere und behinderte Menschen (Erwachsene und Kinder), innerhalb derer sie leben können und kostenlose medizinische Behandlung erhalten. Die staatlichen Sozialzentren und Unterkünfte des Ministeriums für Arbeit und Sozialen Schutz gibt es für Erwachsene und für Kinder (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 106).

Personen können sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Daraufhin bietet die Arbeitsagentur innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz an. Sollte dies nicht möglich sein, wird der Person ein Arbeitslosenstatus zuerkannt. Mit diesem erhält die Person monatlich eine Unterstützung. Arbeitsämter gibt es überall im Land. Arbeitslosengeld wird auf Grundlage des durchschnittlichen Gehalts des letzten Beschäftigungsverhältnisses kalkuliert. Gelder werden monatlich ausgezahlt. Die Voraussetzung ist jedoch die notwendige Neubewertung (normalerweise zwei Mal im Monat) der Bedingungen durch die Arbeitsagenturen. Außerdem darf die Person nicht in eine andere Region ziehen. Sollte die Person Fortbildungen zur Selbstständigkeit besuchen oder eine Rente beziehen, ist die Person von diesen Vorteilen ausgeschlossen. Arbeitssuchende, die sich bei der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung registriert haben, haben das Recht, an kostenlosen Fortbildungen teilzunehmen und so ihre Qualifikationen zu verbessern. Ebenfalls bieten private Schulen, Trainingszentren und Institute Schulungen an. Diese sind jedoch nicht kostenlos (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 106 und 107).

Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für große Teile der Bevölkerung unbezahlbar. Personen ohne Unterkunft oder mit einer unzumutbaren Unterkunft und sehr geringem Einkommen können daher kostenfreie Wohnungen beantragen. Informationen über die jeweiligen Kategorien zur Qualifizierung für eine kostenlose Unterkunft sowie die dazu notwendigen Dokumente erhält man bei den kommunalen Stadtverwaltungen. Es gibt in der Russischen Föderation keine Zuschüsse für Wohnungen. Einige Banken bieten jedoch für einen Wohnungskauf niedrige Kredite an. Junge Familien mit vielen Kindern können staatliche Zuschüsse (Mutterschaftszulagen) für wohnungswirtschaftliche Zwecke beantragen. Die Wohnungskosten sind regionenabhängig (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 107).

Gemessen an diesen Grundsätzen ist es den Klägern zumutbar und kann von ihnen daher auch vernünftigerweise erwartet werden, dass sie ihren Aufenthalt in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation nehmen, weil dort ihr soziales und wirtschaftliches Existenzminimum gesichert ist.

Der Kläger zu 1. hat eigenem Bekunden nach in der Heimat die 11. Schulklasse abgeschlossen und eine Ausbildung zum Buchhalter gemacht. Auch wenn er in diesem Bereich bislang nicht gearbeitet hat, steht ihm dieser Beruf weiterhin offen. Im Übrigen hatte er sich in der Heimat im Geschäft seines Bruders um die Logistik gekümmert. Ihm ist es daher möglich und zumutbar, eine entsprechende Tätigkeit in einem anderen Unternehmen innerhalb der Russischen Föderation – außerhalb Tschetscheniens – auszuüben. Soweit er gesundheitliche Beeinträchtigungen geltend macht, lassen die insoweit vorgelegten Unterlagen seines Psychologen bzw. seines Facharztes keine Rückschlüsse darauf zu, dass er arbeitsunfähig wäre. Die Klägerin zu 2. hat ihren Angaben nach die Schule in der Heimat nach der 9. Klasse abgeschlossen, war danach jedoch als Hausfrau tätig und hat keine Berufsausbildung absolviert. Gleichwohl ist es ihr möglich und zumutbar, auch als ungelernte Kraft eine Tätigkeit auszuüben und so zum Familieneinkommen beizutragen. Darüber hinaus können die Kläger auf staatliche Leistungen wie z. B. Kindergeld zurückgreifen. Zudem können sie erforderlichenfalls auch sonstige staatliche Hilfen bzw. Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Nach alledem ist davon auszugehen, dass der zum Zeitpunkt der Entscheidung 48 Jahre alte Kläger zu 1. bzw. seine zu diesem Zeitpunkt 38 Jahre alte Ehefrau, die Klägerin zu 2., auch außerhalb ihrer Heimatregion innerhalb der Russischen Föderation eine legale Möglichkeit finden können, um für den eigenen Lebensunterhalt und den ihrer drei noch minderjährigen Kinder zumindest im notwendigen Umfang zu sorgen.

Zudem ist die allgemeine wirtschaftliche und soziale Situation in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens sogar besser als in der Heimatrepublik der Kläger, sodass ihre Erwerbschancen dort noch besser sein werden. Denn im Nordkaukasus ist die Verarmung der Bevölkerung im Vergleich zum Gesamtstaat überdurchschnittlich. Die wirtschaftlich stärkeren Metropolen und Regionen in der Russischen Föderation bieten trotz der vergangenen Wirtschaftskrise bei vorhandener Arbeitswilligkeit entsprechende Chancen für russische Staatsangehörige aus der eher strukturschwachen Region des Nordkaukasus. Parallel dazu zeigt sich die russische Regierung bemüht, auch die wirtschaftliche Entwicklung des Nordkaukasus selbst voranzutreiben (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 30. September 2019, Seite 88).

Spezifische Probleme für Rückkehrer in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht bestehen nicht. Durch Behörden werden Rückkehrer nicht diskriminiert. Die Kläger haben daher Zugang zu den bestehenden Sozialleistungen. Daneben können sie z. B. Mikrokredite für Kleinunternehmen und regionale Zuschüsse zur Förderung einer Unternehmensgründung in Anspruch nehmen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 31. August 2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 12. November 2018, Seite 99 und 100).

Zusätzlich können die Kläger zur Überwindung anfänglicher Engpässe auf Mittel in Form von Rückkehrhilfen zurückgreifen, die über das Bundesamt bzw. die zuständige Ausländerbehörde beantragt werden können. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass es sich hierbei um Leistungen handelt, auf die kein Rechtsanspruch besteht, weshalb sie nur zusätzlich zu den übrigen Erwägungen hinsichtlich der Möglichkeit, das Existenzminimum im Rahmen der internen Fluchtalternative zu sichern, in Betracht zu ziehen sind.

Auch führen die wirtschaftlichen Folgen der aufgrund des Angriffskrieges in der Ukraine gegen die Russische Föderation verhängten Sanktionen in dem für die insoweit zu treffende Prognoseentscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht etwa dazu, dass den Klägern die Sicherung des existenziellen Lebensunterhalts nicht möglich sein wird. Hierfür fehlt es unter Berücksichtigung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage in der Russischen Föderation trotz der aktuell verhängten Sanktionen (vgl. hierzu im Einzelnen: VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 22. März 2022 – 6 K 1110/17.A –, juris Rn. 40 ff.) sowie der Lage der Kläger an greifbaren Anhaltspunkten.

Schließlich ist es nach der Erkenntnislage zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger zu 1. bei einer Rückkehr in die Russische Föderation außerhalb Tschetscheniens mit einer Einziehung zum Militärdienst und anschließender Teilnahme an dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in der Ukraine rechnen muss (so auch für einen ungedienten ehemaligen Wehrpflichtigen: VG Potsdam, Urteil vom 21. April 2023 – 16 K 2790/17.A –, juris Rn. 53 bis 71; i. E. ebenso für einen gedienten ehemaligen Wehrpflichtigen: VG Berlin, Urteil vom 20. März 2023 – 33 K 143.19.A –, juris Rn. 42 bis 65).

Eine Einberufung des Klägers zu 1. ist weder aufgrund einer bestehenden Wehrpflicht noch mit Blick auf die in der Russischen Föderation ausgerufene Teilmobilmachung beachtlich wahrscheinlich.

Er ist im entscheidungserheblichen Zeitpunkt bereits 48 Jahre alt und daher nicht mehr grundwehpflichtig. Männliche russische Staatsangehörige werden nur im Alter zwischen 18 und 27 Jahren zur Stellung für den einjährigen Pflichtdienst in der russischen Armee einberufen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 33 und 34; ACCORD; Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation (u. a. zur Wehrpflicht) vom 16. Mai 2022, Seite 2; EUAA, Treatment of military deserters by state authorities since the February 2022 invasion of Ukraine, 05. April 2022, Seite 2).

Am 21. September 2022 hat der Präsident der Russischen Föderation die Teilmobilmachung ausgerufen. Der Erlass ermöglicht die Einberufung russischer Reservisten (EUAA, The Russian Federation – Military service, Dezember 2022, Seite 26). Die russische Reserve setzt sich wie folgt zusammen: Neben der aktiven Reserve, die aus Personen besteht, die Wehrdienst geleistet und einen militärischen Rang erworben haben oder die ein militärisches Training für Reserveoffiziere absolviert und sich vertraglich verpflichtet haben, verfügen die russischen Streitkräfte über eine generelle Reserve, die im Falle einer Mobilmachung herangezogen werden kann. Das russische Verteidigungsministerium bezifferte diese auf 25 Millionen Personen, was jedoch als erheblich zu hoch geschätzt angesehen wird. Diese generelle Reserve besteht aus Männern, die aus der russischen Armee entlassen und dann in die Reserve aufgenommen wurden, die Wehr- oder Wehrersatzdienst geleistet haben, die ein Studium an einer militärischen Bildungseinrichtung oder eine militärische Ausbildung an einer staatlichen Bildungseinrichtung absolviert haben, die vom Wehrdienst befreit oder zurückgestellt worden sind bis zum Alter von 27 Jahren, die wegen Vollendung des 27. Lebensjahres nicht zum Wehrdienst verpflichtet wurden oder die keinen Wehrdienst geleistet haben, ohne dass es dafür einen rechtlichen Grund gibt (EUAA, The Russian Federation – Military service, Dezember 2022, Seite 22 bis 24). Zudem zählen Repräsentanten bestimmter Berufsgruppen, wie Kommunikation, Computertechnik oder Optiker zur generellen Reserve (DIS: Russia – An update on military service since July 2022, Dezember 2022, Seite 13).

Der Kläger zu 1. hat nach eigenen – insoweit glaubhaften (vgl. ACCORD; Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation (u. a. zur Wehrpflicht) vom 16. Mai 2022, Seite 14) – Angaben bislang keinen Wehrdienst in den russischen Streitkräften geleistet. Selbst wenn er nach o. g. Ausführungen zur (inaktiven) Reserve zu zählen sein sollte, weil er ohne Rechtsgrund bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres keinen Wehrdienst geleistet hat, ist seine Einberufung im Rahmen der Teilmobilmachung gleichwohl nicht beachtlich wahrscheinlich.

Diese war nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen im hier maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt bereits abgeschlossen. Der russische Verteidigungsminister Schoigu vermeldete am 28. Oktober 2022 an Präsident Putin den Abschluss der Teilmobilmachung, in deren Rahmen 300.000 Reservisten einberufen wurden. Daraufhin bestätigte Präsident Putin mündlich am 31. Oktober 2022 das Ende der Teilmobilmachung (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 36).

Allerdings ist gemäß einer schriftlichen Mitteilung der russischen Präsidialverwaltung vom Januar 2023 der präsidentielle Erlass zur Einleitung der Teilmobilmachung vom 21. September 2022 nach wie vor in Kraft (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, a. a. O.; EUAA, Major developments in the Russian Federation in relation to political opposition an military service (1 November 2022 to 16 February 2023), 17. Februar 2023, Seite 15). Auch wenn danach formal betrachtet eine Einziehung des Klägers zu 1. als Reservist auf Seiten der russischen Streitkräfte im Rahmen des Angriffskrieges gegen die Ukraine möglich wäre, ist zu berücksichtigen, dass der Erlass nur auf diejenigen russischen Staatsangehörigen angewendet werden soll, die zuvor in den russischen Streitkräften gedient und einschlägige Spezialsierungen oder Kampferfahrung erworben haben (EUAA, The Russian Federation – Military service, Dezember 2022, Seite 26; DIS: Russia – An update on military service since July 2022, Dezember 2022, Seite 13). Zu diesem Personenkreis zählt der Kläger zu 1. als ungedienter ehemaliger Wehrpflichtiger nicht und es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass er anderweitig militärische Erfahrung, etwa im Umgang mit Waffen, erworben hätte. Soweit Berichte existieren, wonach entgegen der Versicherung von Präsident Putin auch Personen ohne entsprechende militärische Kenntnisse oder Erfahrung mobilisiert würden (vgl. DIS: Russia – An update on military service since July 2022, Dezember 2022, Seite 30), handelt es sich um Einzelfälle. Belastbare Anhaltspunkte dafür, dass es sich hierbei um eine in der gesamten Russischen Föderation flächendeckend zur Anwendung kommende Praxis handelt, die eine Einberufung des Klägers zu 1. zum Kriegsdienst beim russischen Militär beachtlich wahrscheinlich machen könnte, liegen nicht vor. Insbesondere hat der Kläger zu 1. auch keinen an ihn gerichteten Einberufungsbefehl vorgelegt.

Dem Gericht liegen darüber hinaus keine Erkenntnisse dazu vor, dass derzeit trotz Verkündung des Endes der Teilmobilmachung weiterhin außerhalb Tschetscheniens eine Massenmobilisierung stattfindet und Reservisten flächendeckend in einem Ausmaß verdeckt rekrutiert würden, welches im Falle des Klägers zu 1. eine Einberufung zum Kriegsdienst beim russischen Militär beachtlich wahrscheinlich macht. Zwar kann eine weitere Massenmobilisierung zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden, Erkenntnisse über eine zweite und möglicherweise eine dritte Mobilisierungswelle, um getötete, verwundete, desertierte oder gefangene Männer zu ersetzen (vgl. DIS: Russia – An update on military service since July 2022, Dezember 2022, Seite 12; EUAA, Major developments in the Russian Federation in relation to political opposition an military service (1 November 2022 to 16 February 2023), 17. Februar 2023, Seite 16), sind spekulativer Natur und genügen dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht (so auch: VG Potsdam, Urteil vom 21. April 2023 – 16 K 2790/17.A –, juris Rn. 66 bis 68; vgl. des Weiteren VG Berlin, Urteil vom 20. März 2023 – 33 K 143.19.A –, juris Rn. 60: „Gesicherte Erkenntnisse über Einberufungen von Reservisten nach dem offiziellen Ende der Umsetzung der Teilmobilmachung gibt es lediglich in Bezug auf Einzelfälle.“).

Soweit für die Klägerin zu 2. die entsprechende Anwendung des § 26 Abs. 1 Satz 1 AsylG nach § 26 Abs. 5 Satz 1 AsylG in Betracht kommen sollte, ist ihr auch danach die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen. Dem steht bereits entgegen, dass Ehegatten auf Antrag die Flüchtlingseigenschaft u. a. nur dann zuzuerkennen ist, wenn dem ausländischen Ehegatten die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde und diese Zuerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist (vgl. § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 4 AsylG). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.

2. Auch der Hilfsantrag bleibt ohne Erfolg. Nach dem von den Klägern geschilderten Geschehen sind bei ihnen die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht erfüllt.

Gemäß § 4 AsylG ist ein Antragsteller subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt: 1. die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, 2. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder 3. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

Die Todesstrafe droht in der Russischen Föderation seit 2009 nicht mehr, da sie de facto abgeschafft ist (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 10. März 2022, Version 6, Seite 19). Für eine Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gibt es hier keine Anhaltspunkte. Bezüglich drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung sind die Kläger auf die o. g. Ausführungen im Rahmen des Flüchtlingsschutzes zu verweisen. Anderes folgt auch nicht aus dem seit dem 24. Februar 2022 von der Russischen Föderation geführten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dass den Klägern als Zivilpersonen im Rahmen dessen eine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit drohen könnte, ist nicht ersichtlich, zumal dieser Konflikt zwar von der Russischen Föderation, aber nicht auf deren Staatsgebiet geführt wird.

Soweit für die Klägerin zu 2. gemäß § 26 Abs. 5 Satz 1 AsylG auch im Rahmen der Prüfung subsidiären Schutzes die entsprechende Anwendung des § 26 Abs. 1 Satz 1 AsylG in Betracht kommen sollte, sind diese Voraussetzungen ebenfalls nicht erfüllt.

3. Weiter ist kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, BGBl. 1952 II Seite 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Soweit hier einzig Art. 3 EMRK in Betracht kommt, scheidet angesichts der Verneinung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen wie oben auch ein Abschiebungsverbot aus, da der sachliche Schutzbereich identisch ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15/12 –, juris Rn. 36).

Darüber hinaus kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) eine Verletzung des Art. 3 EMRK ausnahmsweise auch dann in Betracht kommen, wenn die Kläger im Falle ihrer Abschiebung tatsächlich Gefahr liefen, im Aufnahmeland auf so schlechte humanitäre Bedingungen (allgemeine Gefahren) zu treffen, dass die Abschiebung dorthin eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt. Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse kann danach nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK erfüllen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 24. Juli 2013, A 11 S 697/13 –, juris Rn. 82 m.w.N. insbesondere zur einschlägigen Rechtsprechung).

Diese Voraussetzungen liegen ersichtlich nicht vor. Die humanitären Bedingungen in der Russischen Föderation im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geben keinen Anlass zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung der Kläger eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliegt. Es ist nach den Erkenntnissen des Gerichts vielmehr zu erwarten, dass die Kläger nach ihrer Rückkehr zur Sicherung ihres Lebensunterhalts einschließlich des Wohnbedarfs in der Lage wären. Insoweit kann auf die o. g. Ausführungen zur inländischen Fluchtalternative im Rahmen des Flüchtlingsschutzes verwiesen werden.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Erforderlich ist, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d. h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 2006 – 1 C 18/05 –, juris Rn. 15). Dies kann der Fall sein, wenn eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit in dem Herkunftsstaat wegen des geringeren Versorgungsstandards generell nicht verfügbar ist, sich aber auch daraus ergeben, dass der erkrankte Ausländer eine an sich im Zielstaat verfügbare medizinische Behandlung – etwa aus finanziellen Gründen – tatsächlich nicht erlangen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2002 – 1 C 1/02 –, juris Leitsatz). Für die Bestimmung der Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d. h. die drohende Rechtsgutverletzung darf nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein. Die Gefahr ist erheblich, wenn eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist. Das wäre der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Eine wesentliche Verschlechterung ist nicht schon bei einer befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden. Außerdem muss die Gefahr konkret sein, was voraussetzt, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Rückkehr des Betroffenen in sein Heimatland eintreten wird (vgl. OVG Niedersachsen, Urteil vom 08. November 2011 – 8 LB 108/10 –, juris Rn. 27). Es ist nicht erforderlich, dass die Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist, § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG.

Beruft sich ein Ausländer auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, die nicht nur ihn persönlich, sondern zugleich die gesamte Bevölkerung oder seine Bevölkerungsgruppe allgemein treffen, wird der Abschiebungsschutz grundsätzlich nur durch eine politische Leitentscheidung nach §§ 60 Abs. 7 Satz 6, 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Beim Fehlen einer solchen politischen Leitentscheidung kommt die Feststellung eines Abschiebungsverbots nur bei Vorliegen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke (Art. 1, Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz [GG]) in Betracht, d. h. nur zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage in dem Sinne, dass dem Ausländer sehenden Auges der sichere Tod droht oder er schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte („Extremgefahr“). Nur für den Fall einer derartigen „Extremgefahr“ gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15. Februar 2012 – A 3 S 1876/09 –, juris Rn. 77 bis 78; BVerwG, Beschluss vom 08. August 2018 – 1 B 25/18 –, juris Rn. 13 mit weiteren Nachweisen).

Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaates gewährleistet ist, § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG. Krankheitsbedingte Gefahren, die sich allein als Folge des Abschiebungsvorgangs bzw. wegen des Verlassens des Bundesgebietes, nicht aber wegen der spezifischen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung ergeben können, begründen hingegen kein Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG und sind deshalb nicht vom Bundesamt im Asylverfahren, sondern als inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse von der zuständigen Ausländerbehörde zu prüfen (vgl. VG Magdeburg, Urteil vom 26. Juli 2017 – 3 A 253/16 –, juris Rn. 33).

Nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigt, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (§ 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG). Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten (§ 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG). Die Regelung in § 60a Abs. 2c und 2d AufenthG umfasst nach ihrem Wortlaut, ihrer Entstehungsgeschichte und ihrem Sinn und Zweck auch die Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 AufenthG (OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 28. September 2017 – 2 L 85/17 –, juris Leitsatz und Rn. 13).

Ein Anspruch allein auf die optimale Therapie im Rahmen der Prüfung von Abschiebungsverboten besteht nicht. § 60 Abs. 7 AufenthG dient nämlich nicht dazu, eine bestehende Erkrankung optimal zu behandeln oder ihre Heilungschancen zu verbessern. Insbesondere bietet diese Vorschrift keinen allgemeinen Anspruch auf Teilhabe am medizinischen Fortschritt und Standard in der medizinischen Versorgung in Deutschland. Die Kläger müssen sich auf den Standard der Gesundheitsversorgung in ihrem Heimatland verweisen lassen, auch wenn dieser dem Niveau in Deutschland möglicherweise nicht bzw. nicht überall vollständig entspricht (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Dies ist auch mit europäischem Recht vereinbar. Der EGMR hat in mehreren Entscheidungen, z. B. Nr. 7702/04 (Salkic und andere gegen Schweden) vom 29. Juni 2004 und Nr. 1383/04 (Ovdienko gegen Finnland) vom 31. Mai 2005 bestätigt, dass es mit Art. 3 EMRK vereinbar ist, dass ein vergleichbarer medizinischer Standard wie im jeweiligen EU-Mitgliedstaat nicht verlangt werden kann.

Das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger der Russischen Föderation ist in der Verfassung verankert. Voraussetzung ist lediglich eine Registrierung des Wohnsitzes im Land. Am Meldeamt nur temporär registrierte Personen haben Zugang zu medizinischer Notversorgung, während eine permanente Registrierung stationäre medizinische Versorgung ermöglicht. Laut Gesetz hat jeder Mensch Anrecht auf kostenlose medizinische Hilfestellung in dem gemäß dem „Programm der Staatsgarantien für kostenlose medizinische Hilfestellung“ garantierten Umfang. Das Gesundheitswesen wird im Rahmen der „Nationalen Projekte“, die aus Rohstoffeinnahmen finanziert werden, modernisiert. So wurden landesweit sieben föderale Zentren mit medizinischer Spitzentechnologie und zwölf Perinatalzentren errichtet, Transport und Versorgung von Unfallopfern verbessert sowie Präventions- und Unterstützungsprogramme für Mütter und Kinder entwickelt. Schrittweise werden die Gehälter für das medizinische Personal angehoben sowie staatliche Mittel in die Modernisierung bestehender Kliniken investiert. Seit 2002 ist die Lebenserwartung in Russland stetig gestiegen. Medizinische Versorgung wird von staatlichen und privaten Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Staatsbürger haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung. Alle russischen Staatsbürger, egal ob sie einer Arbeit nachgehen oder nicht, sind von der Pflichtversicherung erfasst. Dies gilt somit auch für Rückkehrer, daher kann jeder russische Staatsbürger bei Vorlage eines Passes oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis 14) eine OMS-Karte erhalten. Diese muss bei der nächstliegenden Krankenversicherung eingereicht werden. Die kostenfreie Versorgung umfasst Notfallbehandlung, ambulante Behandlung, inklusive Vorsorge, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu Hause und in Kliniken, stationäre Behandlung und teilweise kostenlose Medikamente. Behandlungen innerhalb der OMS sind kostenlos (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 108). Etwaigen Kapazitätsengpässen bei Behandlungen kann dadurch begegnet werden, dass es für alle Bürger der Russischen Föderation grundsätzlich möglich ist, aufgrund der Bewegungsfreiheit im Land bei Krankheiten, die in einzelnen Teilrepubliken nicht behandelbar sind, zur Behandlung in andere Teile der Russischen Föderation zu reisen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 110).

Für die Klägerin zu 2. liegen keine ärztlichen Unterlagen vor, die für die Annahme eines Abschiebungsverbots aus medizinischen Gründen sprechen könnten.

Die von dem Kläger zu 1. eingereichten Unterlagen seines Psychologen vom 15. Juli 2020 und seines Facharztes für Psychiatrie vom 19. August 2021 geben nichts für die Annahme her, dass für ihn im Falle seiner Abschiebung im Zielstaat eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.

Angesichts der Tatsache, dass die Unterlagen im entscheidungserheblichen Zeitpunkt bereits ca. 2 Jahre und 10 Monate bzw. 1 Jahr und 9 Monate alt sind, sind sie schon mangels Aktualität nicht geeignet, auf eine konkrete wesentliche oder sogar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers zu 1. im Falle seiner Abschiebung im Zielstaat zu schließen. Zwar befindet er sich nach eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung weiterhin in psychologischer Behandlung. Es erschließt sich dann jedoch nicht, weshalb er keine aktualisierte Stellungnahme seines Psychologen vorgelegt hat, auf deren Grundlage das Gericht seine Prognoseentscheidung, ob der Eintritt außergewöhnlich schwerer körperlicher oder psychischer Schäden alsbald nach seiner Abschiebung zu erwarten ist, hätte stützen können.

Zudem ist den Unterlagen nicht zu entnehmen, dass eine wesentliche Gesundheitsgefährdung oder ein Suizid des Klägers zu 1. im Falle seiner Abschiebung im Heimatland droht. PTBS und depressive Störung sind grundsätzlich keine schwerwiegenden Erkrankungen im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Diese Vermutung kann nur durch ein psychologisches bzw. fachärztliches Attest wiederlegt werden, aus dem hervorgeht, dass im Zielstaat eine wesentliche Gesundheitsgefährdung oder ein Suizid droht. Insoweit wird in der psychologischen Stellungnahme vom 15. Juli 2020 ausgeführt, der Kläger zu 1. denke auch über Suizid nach, jedoch könne er dies seiner Familie nicht antun. Auch ist in der fachärztlichen Stellungnahme vom 19. August 2021 keine Rede von einer akuten Suizidgefahr.

Dessen ungeachtet wären die geltend gemachten Erkrankungen des Klägers zu 1. in der Russischen Föderation behandelbar und die Behandlung – angesichts, wenn überhaupt erforderlich, nur geringer Zuzahlungen – auch finanziell erreichbar. Es besteht in der Russischen Föderation ausweislich einer Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der 1. Kammer des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 20. November 2017 in einem anderen Verfahren (VG 1 K 342/15.A) ein funktionierendes Netz von psychoneurologischen Fürsorgestellen und Betreuungsstellen für psychisch kranke Patienten. Nach Erkenntnissen der Botschaft ist die Behandlung von psychischen Krankheiten in Tschetschenien genauso wie in anderen Großstädten der Russischen Föderation gewährleistet. Eine damit praktisch identische Information ergibt sich aus einer dem Gericht ebenfalls vorliegenden Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Moskau an das Sächsische Oberverwaltungsgericht vom 31. Januar 2018 (Az.: 2 A 811/13.A, vgl. auch das entsprechende Urteil in dem dortigen Fall vom 20. April 2018 –, juris Rn. 21 ff.).

Auch nach den aktuellen Erkenntnissen des Bundesamts für Asyl und Fremdenwesen der Republik Österreich sind psychiatrische Behandlungen für diverse psychische Störungen und Krankheiten, darunter die PTBS, in der gesamten Russischen Föderation verfügbar, in Moskau auch unterschiedliche Therapieformen wie z. B. kognitive Verhaltenstherapie, Desensibilisierung und weitere Therapieformen, in Tschetschenien Psychotherapie und ambulante Konsultationen, teilweise sogar kostenfrei. Psychologische Nachsorgeuntersuchungen und Psychotherapie sind auch in Tschetschenien möglich. Auf die informelle Zuzahlung wird hingewiesen. Üblicherweise zahlen Patienten für einen Termin wegen psychischer Probleme zwischen 700 und 2.000 Rubel (ca. 8,00 bis 24,00 Euro). Diverse Antidepressiva sind in der gesamten Russischen Föderation, auch in Tschetschenien, verfügbar. Es gibt auch psychiatrische Krisenintervention bei Selbstmordgefährdeten (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, veröffentlicht am 03. Februar 2023, Version 11, Seite 114 und 115; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Russische Föderation [Tschetschenien] – PTBS (F43.1), rezidivierende depressive Störung mit psychotischen Symptomen (F33.3) und anhaltende wahnhafte Störung (F22.0), 27. Februar 2023).

4. Die Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 AsylG, § 59 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen ergibt sich aus § 38 Abs. 1 AsylG.

5. Gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde weder seitens der Kläger vorgetragen noch sind für das Gericht nach eigener Prüfung Gründe dafür ersichtlich, dass die Befristung auf 30 Monate ermessensfehlerhaft sein könnte.

II. Die Kostenentscheidung einschließlich der Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 83b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 und 2, 709 Satz 2 der Zivilprozessordnung (ZPO).