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Chancen-Aufenthaltsrecht bei Asylbewerbern, deren Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden war


Metadaten

Gericht VG Frankfurt (Oder) 3. Kammer Entscheidungsdatum 23.08.2023
Aktenzeichen 3 L 63/23 ECLI ECLI:DE:VGFRANK:2023:0823.3L63.23.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 10 Abs 3 S 2 AsylVfG 1992, § 104c Abs 1 S 1 AufenthG, § 104c Abs 3 S 1 AufenthG, § 81 Abs 3 AufenthG, § 123 VwGO, § 80 Abs 5 VwGO

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

2. Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 2.500,00 € festgesetzt.

Gründe

A. Der Antrag des Antragstellers,

dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 Aufenthaltsgesetz von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen,

hat keinen Erfolg.

I. Er ist zulässig.

1. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist der Antrag nicht deshalb unzulässig, weil ein auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung gerichteter Eilantrag nicht statthaft ist, wenn das Begehren durch einen Antrag nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf Regelung der Vollziehung verfolgt werden kann (§ 123 Abs. 5 VwGO).

Das ist beim Antragsteller nicht der Fall.

Nach § 81 Abs. 3 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) gilt der Aufenthalt eines Ausländers, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen und die Erteilung eines Aufenthaltstitels beantragt, bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt. Ergeht dann eine ablehnende Entscheidung, hat ein dagegen erhobener Rechtsbehelf von Gesetzes wegen (§ 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) keine aufschiebende Wirkung, weshalb die Fiktion des erlaubten Aufenthalts entfällt. Einstweiliger Rechtsschutz ist in einem solchen Fall über § 80 Abs. 5 VwGO zu erlangen.

Der Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat indes die Fiktionswirkung eines erlaubten Aufenthalts von vornherein nicht ausgelöst. Denn er war bei Beantragung seiner Aufenthaltserlaubnis gemäß § 58 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AufenthG seit mehreren Jahren vollziehbar ausreisepflichtig. Sein nach einer unerlaubten Einreise gestellter Asylantrag war mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. März 2018 gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 2 des Asylgesetzes (AsylG) als offensichtlich unbegründet abgelehnt und ihm war bei gleichzeitiger Aufforderung zur Ausreise die Abschiebung angedroht worden. Einen dagegen gerichteten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hatte er nicht gestellt. Die von ihm erhobene, jedoch aus dem genannten Grund nicht mit aufschiebender Wirkung versehene Klage (VG 10 K 1114/18.A) gilt überdies seit Juni 2021 als zurückgenommen, weil er sie trotz Aufforderung länger als einen Monat lang nicht betrieben hat.

2. Dem Antrag fehlt das Rechtsschutzbedürfnis auch nicht deshalb, weil mit der Antragsschrift zunächst beantragt war, dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen, bis zu einer Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, diese Entscheidung aber mit dem zitierten Bescheid vom 12. Juni 2023 inzwischen ergangen ist. Der Antragsgegner hat dies zum Anlass für die oben angegebene – sachdienliche (§ 91 Abs. 1 VwGO) – Antragsänderung genommen.

II. Der Antrag ist aber unbegründet. Der Antragsteller hat keinen im Wege einer einstweiligen Anordnung durchsetzbaren Anspruch auf Aussetzung seiner Abschiebung.

Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des jeweiligen Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte; einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen nötig erscheint oder um drohende Gewalt zu verhindern. Der Antragsteller muss einen materiellen Anspruch auf die begehrte Leistung (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der Sache (Anordnungsgrund) glaubhaft machen (§§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung).

Wird in einem aufenthaltsrechtlichen Verfahren die Erteilung einer Verfahrensduldung im Wege eines Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt, wird der vorstehend ausgeführte Begründetheitsmaßstab durch die Systematik des Aufenthaltsgesetzes überlagert. Nach den oben gemachten Ausführungen wird nämlich einstweiliger Rechtsschutz zur Abwendung einer Abschiebung im Zusammenhang mit einem Verfahren auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wegen § 81 Abs. 3 und Abs. 4 AufenthG in der Regel durch das Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gewährleistet und geschieht im Erfolgsfall durch Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen den ergangenen Ablehnungsbescheid. Die Erteilung einer Duldung für die Dauer eines auf die Erlangung eines Aufenthaltsrechts gerichteten Verfahrens parallel zu dem damit angelegten Rechtsschutzsystem ist deshalb aus gesetzessystematischen Gründen grundsätzlich ausgeschlossen. Sie kann lediglich ausnahmsweise zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG in Betracht kommen, wenn eine Aussetzung der Abschiebung notwendig ist, um die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Verfahrens aufrechtzuerhalten und so sicherzustellen, dass eine aufenthaltsrechtliche Regelung einem möglicherweise Begünstigten zugutekommen kann. Die Voraussetzungen für eine derartige Verfahrensduldung sind daher umso eher gegeben, je größer die Erfolgsaussichten des geltend gemachten Titelerteilungsanspruchs sind (vgl. insgesamt hierzu BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2019 - 1 C 34.18 -, juris Rdn. 30; Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. August 2022 – OVG 2 S 36/22 –, S. 3 BA).

An diesen Grundsätzen gemessen hat der Antragsteller keinen Anordnungsanspruch auf Erteilung einer Verfahrensduldung bis zum rechtskräftigen Abschluss seines Rechtsbehelfsverfahrens gegen die Versagung des beantragten Chancenaufenthaltsrechts nach § 104c Abs. 1 S. 1 AufenthG.

1. Nach dieser Vorschrift soll einem geduldeten Ausländer abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1, 1a und 4 sowie § 5 Abs. 2 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich am 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat und er – erstens – sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt und – zweitens – nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, oder Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht, die nicht auf Jugendstrafe lauten, grundsätzlich außer Betracht bleiben. Nach S. 2 der genannten Bestimmung soll die Aufenthaltserlaubnis versagt werden, wenn der Ausländer wiederholt vorsätzlich falsche Angaben gemacht oder über seine Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht hat und dadurch seine Abschiebung verhindert. Für die Anwendung des Satzes 1 sind auch die in § 60b Abs. 5 S. 1 genannten Zeiten anzurechnen.

2. Insoweit kann offenbleiben, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 104c Abs. 1 S. 1 AufenthG vorliegen.

a) Die Kammer teilt allerdings nicht die Bedenken des Antragsgegners, wonach bei der Fristbestimmung die Zeit von der Einreise des Antragstellers im September 2017 bis zum 5. Dezember 2017 außer Betracht bleiben müsse, weil der Antragsteller statt seines tatsächlichen Geburtstages (9. September 1998) wahrheitswidrig den 14. April 2002 angegeben und sich dadurch den Status eines Minderjährigen verschafft habe. Bei wahrheitsgemäßer Angabe habe der Antragsteller – so die Auffassung des Antragsgegners – sich nämlich gemäß § 22 AsylG unverzüglich zu einer Aufnahmeeinrichtung begeben und dort seinen Asylantrag stellen müssen. Das habe er nicht getan, sondern seinen Asylantrag erst am 6. Dezember 2017 gestellt, sodass ihm erstmals an diesem Tage eine Aufenthaltsgestattung ausgestellt worden sei, mithin die davor verstrichene Zeit unberücksichtigt bleiben müsse. Insoweit spricht allerdings Überwiegendes dafür, dass der Antragsteller selbst dann, wenn die von ihm wegen seiner Falschangabe in einer Jugendhilfeeinrichtung verbrachte Zeit ganz oder teilweise nicht über eine Aufenthaltsgestattung in die gesetzliche Frist einzurechnen sein sollte, sie doch auch nicht außer Betracht zu lassen ist, weil ihm wegen seiner damaligen Passlosigkeit ein Duldungsanspruch zugestanden haben dürfte.

b) Während danach davon auszugehen ist, dass der Antragsteller nach seiner Einreise am 11. September 2017 die fünfjährige Frist eines geduldeten, gestatteten oder erlaubten Aufenthalts bis zum 31. Oktober 2022 erfüllt haben dürfte, kann offenbleiben, ob dieser rechtliche Status zumindest im Zeitpunkt der Antragstellung auf Erteilung des Chancen-Aufenthaltsrechts noch bestehen oder darüber hinaus noch im Zeitpunkt der behördlichen bzw. gerichtlichen Entscheidung andauern muss. So bedarf weder einer tatsächlichen Aufklärung, ob der Antragsteller seinen Antrag auf Erteilung des Chancen-Aufenthaltsrechts tatsächlich bereits am 16. Februar 2023 gestellt hat, zu einer Zeit also, als er (noch) Inhaber seiner letzten, bis zum 2. März 2023 befristeten Duldung war. Noch muss rechtlich abschließend bewertet werden, ob es auf den vorstehenden Aspekt schon deshalb nicht (mehr) ankommt, weil der Antragsteller jedenfalls im Zeitpunkt der gegenwärtigen gerichtlichen Entscheidung nicht nur kein durch eine diesbezügliche Bescheinigung legitimierter "geduldeter Ausländer" im Sinne der einschlägigen Bestimmung mehr ist, sondern nach der Einreichung seines Reisepasses und der damit verbundenen Beendigung seiner Passlosigkeit als Grund des Abschiebungshindernisses er nunmehr erkennbar auch keinen materiellen Anspruch auf weitere Aussetzung seiner Abschiebung mehr hat (so wohl die Ansicht des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, Beschluss vom 6. März 2023 – 19 CE 22.2647 –, Rn. 25; Beschluss vom 9. März 2023 – 19 CE 23.183 –, Rn. 35; VG Dresden, Beschluss vom 26. Juni 2023 – 3 L 262/23 –, Rn. 26, alle zitiert nach juris).

3. Im Ergebnis kommt es auf die Frage, ob der Antrag des Antragstellers die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 104c Abs. 1 S. 1 AufenthG erfüllt, nicht an. Denn die Erteilung eines Chancen-Aufenthaltsrechts liegt im Ermessen der Behörde. Es sind jedoch unter den Umständen des vorliegenden Sachverhalts keine Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass die diesbezügliche durch den Antragsgegner zu treffende Entscheidung im Sinne eines gebundenen Ermessens nur zugunsten des Antragstellers ergehen darf oder auch nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine positive Entscheidung besteht, die es rechtfertigen könnte, nach dem oben angeführten Begründetheitsmaßstab die Voraussetzungen einer Verfahrensduldung zu bejahen.

a) Der Ermessensrahmen des Antragsgegners bei der Entscheidung über den Antrag des Antragstellers auf Erteilung eines Chancen-Aufenthaltsrechts ist nicht durch § 104c AufenthG von vornherein im Sinne eines intendierten Ermessens zu seinen Gunsten eingeschränkt. Das ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und der Systematik des Gesetzes. Während nämlich die genannte Vorschrift in Abs. 1 bestimmt, dass bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden "soll", und zwar selbst dann, wenn damit von in § 5 des Gesetzes bestimmten allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen abgewichen wird, normiert § 104c Abs. 3 AufenthG, dass in Fällen, in denen – wie hier – ein vorausgegangener Asylantrag nach § 30 Abs. 3 Nummer 1 bis 6 AsylG abgelehnt wurde, abweichend von § 10 Abs. 3 S. 2 desselben Gesetzes die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden "kann". Bei der erstgenannten Personengruppe soll nach dem Willen des Gesetzgebers die Aufenthaltserlaubnis in der Regel erteilt werden; Ausnahmen sind nur bei Vorliegen atypischer Umstände denkbar (BT-Drs. 20/3717, Seite 44). Die demgegenüber mit der Gesetzesfassung angelegte Schlechterstellung von Asylbewerbern, deren Asylantrag nach § 30 Abs. 3 Nummer 1 bis 6 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden war, beruht auf dem Umstand, dass ihnen abgesehen von gebundenen Erteilungsansprüchen gemäß § 10 Abs. 3 S. 2 AufenthG vor der Ausreise kein Aufenthaltstitel erteilt werden darf. Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber sie über die Durchbrechung der in § 104c Abs. 3 S. 1 AufenthG normierten Titelerteilungssperre hinaus begünstigen und sie anderen tatbestandlich Anspruchsberechtigten gleichstellen wollte, indem auch bei ihnen das in § 104c Abs. 1 AufenthG angelegte intendierte Ermessen für eine Titelerteilung eingreift, sind nicht ersichtlich.

b) Die vom Antragsgegner bei der Antragsablehnung bisher angestellten Ermessenserwägungen sind zwar nicht sämtlich tragfähig, vermögen aber, soweit sie in dieser Hinsicht beanstandungsfrei sind, eine derartige Entscheidung zu tragen.

aa) Entgegen der im Ablehnungsbescheid vom 12. Juni 2023 vertretenen Auffassung kann dem Antragsteller nicht entgegengehalten werden, dass er wiederholt vorsätzlich falsche Angaben gemacht oder über seine Identität getäuscht und dadurch seine Abschiebung verhindert hat. Zumindest das Letztere trifft nicht zu. Der Antragsgegner knüpft damit an den in § 104c Abs. 1 S. 2 AufenthG normierten Versagungsgrund an. Nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl. hierzu Bundestags-Drucksache – BT-Drs. 20/3717, Seite 45; hierzu auch Dietz in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 104c Rn. 40) soll dieser aber nur eingreifen, wenn ein aktives, eigenverantwortliches Verhalten des Ausländers vorliegt, das kausal für die Verhinderung der Aufenthaltsbeendigung ist. Bei mehreren Ursachen muss die Falschangabe bzw. Täuschung wesentlich ursächlich gewesen sein, was insbesondere bei aus anderen Gründen tatsächlicher Unmöglichkeit der Aufenthaltsbeendigung nicht der Fall sein soll. Hiernach kann nicht davon ausgegangen werden, dass die im Zeitpunkt der Einreise des Antragstellers im September 2017 erfolgte Datierung seines Geburtsdatums auf den 9. September 2003 angesichts des Umstandes, dass spätestens seit Dezember 2017 bzw. Januar 2018 sein wahres Geburtsdatum im Jahr 1998 feststand und auch von ihm selbst wohl nicht mehr in Abrede gestellt wurde, diese Täuschung wesentlich ursächlich für die Unmöglichkeit seiner Abschiebung während der folgenden Jahre war, seit er mit der Ablehnung seines Asylantrages durch den bereits erwähnten Bescheid vom 28. März 2018 vollziehbar ausreisepflichtig wurde.

bb) Offenbleiben kann, ob allein oder im Zusammenspiel mit anderen Erwägungen berücksichtigt werden darf, dass dem Antragsteller soweit ersichtlich bisher keine wirtschaftliche Integration gelungen ist, sondern er wohl erst jetzt eine Arbeit aufnehmen will. In Fällen, in denen die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 104c Abs. 1 S. 1 AufenthG vorliegen und ein vorausgegangener Asylantrag nicht als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden war, das behördliche Ermessen also durch die einschlägige Soll-Bestimmung gelenkt ist, bestünden allerdings Bedenken, diesem Aspekt eine die Ermessensentscheidung tragende Bedeutung zuzubilligen. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers soll nämlich mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht dem Bedürfnis der seit Jahren im Bundesgebiet lebenden geduldeten und zumeist gut integrierten Ausländer nach einer Aufenthaltsperspektive in Deutschland Rechnung getragen werden. Ihnen soll mit der Erteilung der auf ein Jahr begrenzten Aufenthaltserlaubnis die Chance eingeräumt werden, noch fehlende Voraussetzungen für einen dauerhaften Aufenthalt nachzuholen. Hierzu gehören neben der Identitätsklärung sowie dem Erwerb der erforderlichen Kenntnisse der deutschen Sprache gerade auch die Lebensunterhaltssicherung (vgl. insgesamt hierzu BT-Drs. 20/3717, Seite 16). Anders könnte es aber in einem Fall wie dem vorliegenden sein, in dem der Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden war und deshalb über die Erlaubniserteilung lediglich nach einem durch den Gesetzgeber nicht weiter gelenkten pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden ist. Immerhin erscheint es insoweit nicht von vornherein ausgeschlossen, in Fällen, in denen sich die Annahme des Gesetzgebers, die seit Jahren hier lebenden geduldeten Ausländer seien zumeist gut integriert, im Einzelfall nicht bestätigt hat, dies im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen (a.A. wohl Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 1. Juni 2023 – 2 M 49/23 –, juris Rn. 18).

cc) Nicht zu beanstanden ist jedenfalls der vom Antragsgegner der Erlaubniserteilung im Ablehnungsbescheid vom 12. Juni 2023 entgegengehaltene Aspekt, dass für den Antragsteller am 6. Juni 2021 eine von der Internationalen Organisation für Migration geförderte freiwillige Ausreise organisiert wurde, für die er finanzielle Zuwendungen erhalten, dann aber durch eigenes Verschulden die Reise nicht angetreten habe. Warum dies bei einem Ausländer, der zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Jahre vollziehbar ausreisepflichtig war, ermessensfehlerhaft gewesen sein soll, ist nicht ersichtlich.

dd) Ein gebundener oder auch nur überwiegend wahrscheinlicher Anspruch des Antragstellers auf Erteilung der im vorliegenden Verfahren zu sichernden Aufenthaltserlaubnis erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch deshalb nicht gegeben, weil nach den im Verwaltungsvorgang vorhandenen Informationen Vieles dafür spricht, dass der Antragsteller noch vor vergleichsweise kurzer Zeit unter einer Suchterkrankung litt, die eine lange andauernde Therapie erfordert hat. So ist von der "ADV Rehabilitation und Integration gGmbH, Nokta – interkulturelle Suchthilfe" mit einer Therapiebescheinigung vom 3. November 2021 gegenüber dem Antragsgegner darauf hingewiesen worden, der Antragsteller befinde sich seit dem 1. November 2021 in der stationären Entwöhnungsbehandlung "Nokta". Zugleich wurde um Ausstellung einer Bescheinigung gebeten, dass er sich zum Zweck einer Langzeittherapie in Berlin aufhalten dürfe, wobei die Therapiedauer in der Regel zwölf Monate betrage. Vor diesem Hintergrund kann der Antragsgegner kaum verpflichtet sein, den begehrten Aufenthaltstitel ohne weitere diesbezügliche Aufklärung zu erteilen.

B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1 u. Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 des Gerichtskostengesetzes - GKG -. Dabei lehnt sich die Kammer an Nr. 8.3 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. http://www.bverwg.de) an, nimmt jedoch im Hinblick auf die begehrte Vorwegnahme der Hauptsache eine weitere Minderung im Hinblick auf das vorliegende Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht vor.