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Entscheidung OVG 6 N 64/23


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 6. Senat Entscheidungsdatum 17.08.2023
Aktenzeichen OVG 6 N 64/23 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2023:0817.OVG6N64.23.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 124 Abs 2 Nr 5 VwGO, § 86 Abs 1 VwGO, § 1 Abs 1 Nr 2 UVG, § 5 UVG

Leitsatz

Zur Durchführung der mündlichen Verhandlung unter Verzicht auf einen zuvor geladenen Zeugen.

Tenor

In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat am 17. August 2023 beschlossen:

Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 26. Mai 2023 wird abgelehnt.

Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens.

Gründe

Die Klägerin wendet sich mit ihrer Klage gegen zwei Bescheide, mit denen der Beklagte von ihr gemäß § 5 Abs. 1 UVG die Ersatzzahlung von Unterhaltsleistungen für ihre beiden Kinder verlangt. Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Klägerin habe gegenüber der Unterhaltsvorschussstelle unrichtige Angaben zur Frage der Alleinerziehung gemacht. Tatsächlich hätten die Leistungsvoraussetzungen im fraglichen Zeitraum vom 1. April 2017 bis zum 31. Januar 2018 nicht vorgelegen. Der hiergegen gerichtete Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

1. Der Zulassungsgrund ernstlicher Richtigkeitszweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegt nicht vor. Ernstliche Richtigkeitszweifel bestehen dann, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung der angegriffenen Entscheidung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000 - 1 BvR 830/00 -, NVwZ 2000, S. 1163, 1164) und nicht nur die Begründung, sondern auch die Richtigkeit des Ergebnisses der Entscheidung Zweifeln unterliegt. Zu ihrer Darlegung muss sich die Zulassungsbegründung gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO konkret fallbezogen und hinreichend substanziiert mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen und dartun, dass und weshalb das Verwaltungsgericht entscheidungstragende Rechts- und Tatsachenfragen unrichtig entschieden hat. Ob an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts ernstliche Zweifel bestehen, wird allein anhand der Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung sowie der vom Rechtsmittelführer zur Darlegung des geltend gemachten Zulassungsgrundes vorgetragenen Gesichtspunkte beurteilt.

Das Verwaltungsgericht hat angenommen, das für den Bezug von Unterhaltsleistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz vorausgesetzte Merkmal des Alleinerziehens sei auf Grundlage einer umfassenden Würdigung des Einzelfalls zu beurteilen. Trage der den Unterhaltsvorschuss beantragende Elternteil trotz der Betreuungsleistung des anderen Elternteils tatsächlich die alleinige Verantwortung für die Sorge und Erziehung des Kindes, bei der der Schwerpunkt der Betreuung und Versorgung des Kindes ganz überwiegend bei ihm läge, erfordere es die Zielrichtung des Gesetzes, das Merkmal als erfüllt anzusehen und Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz zu gewähren. Werde das Kind hingegen weiterhin auch durch den anderen Elternteil in einer Weise betreut, die eine wesentliche Entlastung des Unterhaltsvorschuss beantragenden Elternteils bei der Pflege und Erziehung des Kindes zur Folge habe, sei das Merkmal zu verneinen. Als Orientierungswert sei Alleinerziehung zu verneinen, wenn der andere Elternteil mindestens ein Drittel der Betreuungszeit übernehme. Nach diesen Maßstäben sei die Klägerin nicht als alleinerziehend im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG anzusehen. Aufgrund der übereinstimmenden Angaben der Kindeseltern zu den bestehenden Betreuungsverhältnissen betreue der Vater die Kinder im Durchschnitt 2½ Tage/Nächte pro Woche, das entspreche einem Anteil von 35,7 %. Der Orientierungswert sei damit erreicht.

Mit dem Berufungszulassungsantrag wendet die Klägerin hiergegen ein, durch die Mitbetreuung des Kindsvaters sei es weder zu einer wesentlichen Entlastung bei den Umgangszeiten gekommen noch könne im vorliegenden Fall eine kalendarische Berechnungsweise zugrunde gelegt werden, um zu einer Drittelbetreuung durch den Vater gelangen zu können. Die Klägerin habe darauf hingewiesen, dass der Vater die Kinder gerade nicht nach Schulschluss zum Umgang übernehme und diesen bis zum Schulbeginn ausübe, sondern die Söhne immer erst im Haushalt der Mutter abhole und dort vor Schulbeginn wieder abliefere. Es sei die Klägerin, die die Kinder an allen Tagen von der Schule abhole, sie nachmittags betreue, Schulaufgaben mit ihnen erledige sowie alle anderen administrativen Aufgaben. Außerdem sei erstinstanzlich darauf hingewiesen worden, dass bei Ausfall des Fußballtrainings auch der Umgang des Vaters entfallen sei und somit eine Betreuung mit Übernachtung beim Vater von Mittwoch auf Donnerstag. Allein dieser Vortrag, der von dem Beklagten nicht bestritten worden sei, hätte zu einer erheblichen Mehrbetreuung der Kinder durch die Mutter geführt. Dies werde auch durch den geltend gemachten Umstand gestützt, dass die Klägerin ihre Arbeitszeit auf 30 Stunden reduziert und mit ihrem Arbeitgeber alternierende Telearbeit vereinbart habe. Die Klägerin decke außerdem sämtliche Krankheitszeiten der Kinder alleine ab. Dass sie konkrete Krankheitszeiten der Kinder im fraglichen Zeitraum nicht mehr benennen könne, führe im Ergebnis zu einer nicht zu rechtfertigenden Beweislastumkehr, die an sich beim Beklagten liege. Die Betreuungsleistung des Vaters unterscheide sich weiter in der Qualität deutlich von den Betreuungsleistungen der Klägerin, weil sie das Bringen und Holen von der Schule, die Arztbesuche, die Hausaufgabenbetreuung, die hauswirtschaftliche Versorgung, die Betreuung während der Krankheitszeiten und darüber hinaus die Regelung der schulischen Angelegenheiten übernehme. Zudem habe die Betreuungsregelung während der Schulferien nicht gegolten. Unter Zugrundelegung der dargelegten Maßstäbe zeigt die Klägerin mit diesen Einwänden keine ernstlichen Richtigkeitszweifel auf.

Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass nach den übereinstimmenden Angaben der Klägerin und des Kindsvaters dieser die Betreuung der Kinder an 2½ Tagen/Nächte in der Woche übernehme, ist damit nicht ernstlich in Frage gestellt. Dass der Vater der Kinder diese nach einer Übernachtung bei ihm nicht direkt zur Schule, sondern zur Mutter bringe, rechtfertigt diese Annahme nicht, zumal nicht dargelegt ist, weshalb der Betreuungsumfang des Kindsvaters hierdurch wesentlich geschmälert sei. Insofern ist es ohne weiteres denkbar, dass es keinen Unterschied macht, ob er die Kinder zur Schule oder zur Klägerin bringt. Zum anderen ist auch nicht dargelegt, welchen Umfang der geschilderte (zusätzliche) Aufwand für die Klägerin habe. Dieser hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab, zu denen die Klägerin nichts mitteilt. Diese Erwägungen gelten entsprechend für den Vortrag, auch an den Betreuungstagen des Vaters hole nicht dieser, sondern die Klägerin die Kinder von der Schule ab. Dass im Wesentlichen die Klägerin und nicht der Vater sich um die schulischen und sonstigen administrativen Angelegenheiten der Kinder kümmere und dessen Betreuungsleistungen eine „mindere Qualität“ gegenüber den von der Klägerin erbrachten Betreuungsleistungen aufweise, stellt die Annahme des Verwaltungsgerichts nicht ernstlich in Frage, die Klägerin sei infolge der Mitbetreuung durch den Kindesvater nicht der mit einer Alleinerziehung typischerweise verknüpften Doppelbelastung ausgesetzt und könne in dieser Zeit uneingeschränkt beruflichen Tätigkeiten, sonstigen Verpflichtungen sowie anderen sozialen Aktivitäten nachgehen, ohne sich zugleich um die gemeinsamen Kinder kümmern zu müssen, sie hätte Zeiten zur persönlichen Verfügung, während der Kindsvater sich mit den Kindern beim Fußballtraining oder den Fußballspielen am Wochenende aufhalte, das alles auf einer regelmäßigen und nicht lediglich sporadischen Basis, was ihr eine verlässliche und insoweit von den Kindern unabhängige Lebensplanung ermögliche. Dasselbe gilt, soweit sie geltend macht, bei Ausfall des Fußballtrainings oder bei Erkrankungen der Kinder verbleibe die Betreuung bei ihr. Sie legt schon nicht dar, dass und in welchem Umfang im streitbefangenen Zeitraum (April 2017 bis Januar 2018) hierdurch die Mitbetreuung durch den Kindsvater geschmälert gewesen sei. Hierin liegt entgegen der Auffassung der Klägerin keine Umkehr der (materiellen) Beweislast. Vielmehr obliegt es der Klägerin, die für sie günstigen und aus ihrer Sphäre stammenden Umstände darzulegen. Der Hinweis auf die reduzierte Arbeitszeit und die Vereinbarung über alternierende Telearbeit führt nicht auf ernstliche Richtigkeitszweifel, weil diese Umstände für sich genommen keinen Rückschluss auf den Umfang der Mitbetreuung durch den Kindsvater ermöglichen. Ernstliche Richtigkeitszweifel begründet auch nicht der Vortrag, die Umgangsregelung habe während der Schulferien nicht gegolten. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dieses Vorbringen sei, was den fraglichen Zeitraum April 2017 bis Januar 2018 betreffe, nicht hinreichend substanziiert, wird auch im Berufungszulassungsverfahren nicht hinreichend in Frage gestellt. Das Verwaltungsgericht hat insoweit ausgeführt, es werde nicht aufgezeigt, wer während der Ferien in welchem Zeitraum konkret die Betreuung übernommen habe. Das Vorbringen der Klägerin, der Kindsvater habe die Kinder „in den letzten“ Weihnachtsferien an drei Tagen, den Winterferien gar nicht, in den Osterferien an vier Tagen betreut, genüge dafür nicht, denn es beziehe sich ersichtlich auf das Jahr 2020. Außerdem sei das Vorbringen nicht schlüssig, weil die danach vom Kindsvater in den aufgezählten Ferienzeiten wahrgenommenen Betreuungstage mehr dafürsprächen, dass die getroffene Betreuungsregelung in den Schulferien (im Wesentlichen) weitergegolten habe. Davon abgesehen führten abweichende Betreuungsregelungen während der Schulferien nicht zu einer Aufhebung des durch den Alltag geprägten Betreuungszusammenhangs, weshalb es maßgeblich auf die getroffene Betreuungsregelung ankomme. Das Vorbringen der Klägerin im Berufungszulassungsverfahren insoweit wiederholt lediglich ihr Vorbringen aus dem erstinstanzlichen Verfahren und setzt ihre eigene Würdigung an die Stelle derjenigen des Verwaltungsgerichts. Ernstliche Richtigkeitszweifel sind damit nicht aufgezeigt. Das gilt gleichermaßen für den Vortrag, die Betreuungsleistungen des Kindsvaters hätten eine „mindere Qualität“ gegenüber den von der Klägerin erbrachten Betreuungsleistungen. Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, es sei nicht vorgetragen oder ersichtlich, dass die Betreuungsqualität im Haushalt des Kindsvaters (z.B. hinsichtlich der Versorgung, der Freizeitaktivitäten und nach Bedarf der schulischen Betreuung) niedriger wäre als im Haushalt der Klägerin.

2. Der geltend gemachte Verfahrensmangel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO liegt ebenfalls nicht vor. Die Klägerin macht geltend, das Verwaltungsgericht hätte im Rahmen der ihm obliegenden Amtsermittlung gemäß § 86 Abs. 1 VwGO den Kindsvater als Zeugen laden und zu den anspruchsbegründenden Voraussetzungen vernehmen müssen.

Gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO obliegt den Tatsachengerichten die Pflicht, jede mögliche Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts bis zur Grenze der Zumutbarkeit zu versuchen, sofern dies für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich ist (BVerwG, Urteile vom 6. Februar 1985 - 8 C 15.84 -, BVerwGE 71, 38, 41 und vom 6. Oktober 1987 - 9 C 12.87 -, Buchholz 310 § 98 Nr. 31 S. 1). Die Entscheidung über die Art der heranzuziehenden Beweismittel und den Umfang der Beweisaufnahme ist hierbei in das Ermessen der Tatsachengerichte gestellt. Eine angebliche Verletzung der Sachaufklärungspflicht des Gerichts ist u.a. nur dann ausreichend bezeichnet, wenn im Einzelnen dargetan wird, welche Tatsachen auf der Grundlage der insoweit maßgeblichen materiell-rechtlichen Auffassung der Vorinstanz aufklärungsbedürftig gewesen wären, welche Beweismittel zu welchen Beweisthemen zur Verfügung gestanden hätten, welches Ergebnis diese Beweisaufnahme voraussichtlich gehabt hätte, inwiefern das angefochtene Urteil auf der unterbliebenen Sachaufklärung beruhen kann und dass auf die Erhebung der Beweise vor dem Tatsachengericht durch Stellung förmlicher Beweisanträge hingewirkt worden ist oder - sollte dies nicht der Fall gewesen sein - aufgrund welcher Anhaltspunkte sich die unterbliebene Sachaufklärung dem Gericht hätte aufdrängen müssen (BVerwG, Beschluss vom 17. Februar 2010 - 4 BN 59.09 -, juris Rn. 10). Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen der Klägerin nicht.

Darauf hingewirkt, dass der Kindsvater als Zeuge gehört werde, hat die in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht anwaltlich vertretene Klägerin nicht. Soweit sie macht geltend, die Vernehmung des Kindsvaters als Zeugen hätte sich dem Verwaltungsgericht aufgrund ihrer Schilderungen aufdrängen müssen, ist ihr schon aus den unter 1. dargelegten Gründen nicht zu folgen.

Ein Verfahrensfehler ist auch nicht darin zu erblicken, dass das Verwaltungsgericht den Kindsvater zunächst als Zeugen geladen, auf dessen Vernehmung dann aber verzichtet hatte, nachdem dieser seine Verhinderung mitgeteilt hatte. Das Verwaltungsgericht hat im vorliegenden Verfahren die Vernehmung des Zeugen trotz der vorangegangenen Ladung nicht mehr für erforderlich gehalten und dies in der mündlichen Verhandlung durch deren Durchführung dokumentiert. Darin lag die Aufhebung der Ladungsverfügung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. Februar 2018 - 2 B 63.17 -, Buchholz 310 § 95 VwGO Nr. 8, juris Rn. 12 zur Durchführung der mündlichen Verhandlung trotz Anordnung des persönlichen Erscheinens des Klägers).

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).