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Entscheidung 8 K 2551/20.A


Metadaten

Gericht VG Potsdam 8. Kammer Entscheidungsdatum 29.08.2023
Aktenzeichen 8 K 2551/20.A ECLI ECLI:DE:VGPOTSD:2023:0829.8K2551.20.A.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 3 AsylVfG 1992, § 73 AsylVfG 1992, § 77 AsylVfG 1992, Art 1d FlüAbk, Art 12 EURL 95/2011

Leitsatz

Für die Beurteilung, ob der Schutz des UNRWA i.S.v. § 3 Abs. 3 Satz 2 Asylgesetz weggefallen ist, sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 3. März 2022 - C-349/20 -, juris) die Umstände des Einzelfalls sowohl zum Zeitpunkt der Ausreise als auch zum Zeitpunkt der behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung zu berücksichtigen. In welchem Zeitpunkt bzw. in welchen Zeitpunkten der Schutz für die Zuerkennung der ipso facto-Flüchtlingseigenschaft weggefallen sein muss, ist in der Rechtsprechung des EuGH und des Bundesverwaltungsgerichts für den Fall einer Veränderung zwischen beiden Zeitpunkten nur für die Fallkonstellation einer Verbesserung der Verhältnisse verbindlich entschieden. Im Fall einer Verschlechterung ist die betroffene Person ipso facto-Flüchtling, wenn der Schutz des UNRWA im Zeitpunkt der Entscheidung weggefallen ist (entgegen VG Berlin, Urteil vom 27. April 2023 - 34 K 69/21 A -, juris).

Tenor

Der Rücknahmebescheid der Beklagten vom 29. September 2020 wird aufgehoben.

Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die Beklagte.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aus dem Urteil gegen sie vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Rücknahme ihrer Flüchtlingsanerkennung.

Sie ist staatenlose Palästinenserin aus dem Libanon und bei dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, UNRWA) registriert. Sie reiste am 18. Februar 2015 nach Deutschland ein und stellte am 28. Juli 2015 einen Asylantrag. Eine persönliche Anhörung durch das Bundesamt fand nicht statt, die Klägerin füllte einen Fragebogen für die beschleunigte Anerkennung von Flüchtlingen aus Syrien aus und bejahte dabei die Frage, ob sie in Syrien Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe befürchte. Im Verfahren legte die Klägerin ihren vom libanesischen Innenministerium ausgestellten Sonderausweis für palästinensische Flüchtlinge vor. Mit Bescheid vom 4. März 2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zu.

Im September 2018 leitete das Bundesamt ein Aufhebungsverfahren ein, weil es sich bei der Klägerin um eine staatenlose Palästinenserin aus dem Libanon handele. Mit Schreiben vom 24. Juni 2020 hörte das Bundesamt die Klägerin zu der beabsichtigten Rücknahme der Flüchtlingsanerkennung an. Mit Schreiben vom 25. September 2020 nahm die Klägerin über ihren Prozessbevollmächtigten Stellung und führte aus, dass die Flüchtlingsanerkennung wegen schutzwürdigen Vertrauens nicht zurückgenommen werden könne. Sie habe im Verfahren keine falschen Angaben gemacht, lebe seit über fünf Jahren mit ihrem Ehemann in Deutschland, schließlich habe sie 2016 und 2018 in Deutschland zwei Kinder geboren. Mit Bescheid vom 29. September 2020 nahm das Bundesamt die Flüchtlingsanerkennung vom 4. März 2016 zurück, verweigerte die Anerkennung subsidiären Schutzes und stellte fest, dass kein Abschiebungsverbot vorläge.

Die Klägerin verfolgt ihr Anliegen mit ihrer am 19. Oktober 2020 erhobenen Klage weiter.

Die Klägerin beantragt,

den Rücknahmebescheid der Beklagten vom 29. September 2020 aufzuheben,

hilfsweise, die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 2. und 3. des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. September 2020 zu verpflichten, ihr subsidiären Schutz zuzuerkennen,

hilfsweise, die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 3. des Bescheides vom 29. September 2020 zu verpflichten, für sie Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Libanon festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.

Die Klägerin und ihr Ehemann sind in der mündlichen Verhandlung informatorisch befragt worden. Insoweit wird Bezug genommen auf das Protokoll des Termins vom 29. August 2023.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird verwiesen auf den Inhalt der Verfahrensakte, die Asylakten (zwei elektronische Akten, ein Ausdruck) und die Ausländerakte (eine Heftung) der Klägerin sowie die Akten der Verfahren VG 8 K 187/21.A und VG 8 K 436/21.A, welche beigezogen worden sind. Die vorgenannten Akten haben vorgelegen und sind zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.

Entscheidungsgründe

Der Einzelrichter konnte über die Klage verhandeln und entscheiden, auch wenn ein Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend war. Die Beteiligten sind mit der Ladung darauf hingewiesen worden, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).

Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.

Der Rücknahmebescheid des Bundesamtes vom 29. September 2020 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), weil sie nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 HS 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der ipso facto-Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 3 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 AsylG hat.

Aufgrund dessen ist der Bescheid vom 4. März 2016, mit dem der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, rechtmäßig. Die Entscheidung nach § 3 AsylG steht nicht im Ermessen des Bundesamtes, sondern rechtlich gebunden. Bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 3 AsylG ist die Flüchtlingseigenschaft zwingend zuzuerkennen. Wie sonst auch im Bereich der gebundenen Verwaltung kommt es somit für die Rechtmäßigkeit der Verwaltungsentscheidung ausschließlich darauf an, ob ihr Ausspruch im Bescheidtenor die formellen und materiellen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage erfüllt. Das ist bei dem Bescheid vom 4. März 2016 im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) der Fall. Daher ist es vorliegend ohne Bedeutung, dass das Bundesamt bei Erlass des Bescheides vom 4. März 2016 von einem anderen Sachverhalt ausgegangen ist – staatenlose Palästinenserin aus Syrien – und der Bescheid aufgrund der wirtschaftlichen Abwärtsentwicklung im Libanon ab dem Jahr 2019 zuvor möglicherweise rechtswidrig war.

Eine Rücknahme des Bescheides vom 4. März 2016 auf der Grundlage von § 73 Abs. 1 AsylG oder § 48 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) scheidet angesichts der Rechtmäßigkeit des Bescheides aus.

Eine Rücknahme kann auch nicht nach § 73 Abs. 4 AsylG erfolgen, weil die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft der Klägerin aus anderen Gründen – vgl. im Folgenden – zu erteilen ist. Auf die Frage, ob die Klägerin im Fragebogen unrichtige Angaben gemacht hat, kommt es daher nicht an.

Der Bescheid vom 4. März 2016 kann auch nicht nach § 73 Abs. 5 AsylG zurückgenommen oder widerrufen werden, weil bei der Klägerin die Voraussetzungen der sogenannten Einschlussklausel (§ 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG) vorliegen.

Die Voraussetzungen für einen Widerruf auf der Grundlage von § 73 Abs. 1 AsylG liegen ersichtlich nicht vor. § 49 VwVfG ist daneben nicht anwendbar (vgl. Bergmann/Dienelt/Bergmann, 14. Aufl. 2022, AsylG § 73 Rn. 3).

1. Gemäß § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach Absatz 1 dieser Vorschrift, wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Art. 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK) genießt (sogenannte Ausschlussklausel). Das UNRWA fällt in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2021- 1 C 2.21 -, juris Rn. 12; Urteil vom 25. April 2019 - 1 C 28.18 -, juris Rn. 18).

Nach § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG gilt dieser Ausschluss nicht, wenn dem Ausländer ein solcher Schutz oder Beistand nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist. In diesem Fall genießt der Betroffene gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (RL 2011/95/EU) ipso facto den Schutz der Richtlinie und ist damit als Flüchtling anzuerkennen, ohne notwendigerweise nachweisen zu müssen, dass er bis zu dem Zeitpunkt, zu dem er in der Lage ist, in das Gebiet zurückzukehren, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU hat (EuGH, Urteil vom 3. März 2022 - C-349/20 -, juris, Rn. 50; Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 -, juris Rn. 51 m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 27. April 2021 - 1 C 2.21 -, juris Rn. 12). Weitere Voraussetzung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist dann lediglich, dass Ausschlussgründe im Sinne des Art. 1 Abschnitt E und F GFK, des Art. 12 Abs. 1 Buchst. b und Absätze 2 und 3 der Richtlinie 2011/95/EU und des § 3 Abs. 2 AsylG nicht eingreifen (EuGH Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 -, juris Rn. 51; BVerwG, EuGH-Vorlage vom 14. Mai 2019 - 1 C 5.18 -, juris Rn. 14).

Der Schutz oder Beistand fällt nicht nur dann weg, wenn die Organisation oder Institution, die ihn gewährt hat, entweder aufgelöst wird oder ihre Tätigkeit vollständig einstellt. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95/EU („aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt“). Vielmehr genügt es, dass der Schutz oder Beistand einer Person, nachdem sie diesen tatsächlich in Anspruch genommen hat, aus einem von ihr nicht zu kontrollierenden und von ihrem Willen unabhängigen Grund nicht länger gewährt wird. Dies ist der Fall, wenn die betreffende Person gezwungen war, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen, weil sie sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befand, und es dieser Organisation unmöglich war, ihr in diesem Gebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der ihr übertragenen Aufgabe in Einklang stehen. Die bloße Abwesenheit aus dem UNRWA-Einsatzgebiet oder die freiwillige Entscheidung, dieses zu verlassen, führt nicht zu einem Wegfall des Schutzes oder Beistandes (EuGH, Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 -, juris Rn. 51, 69; Urteil vom 19. Dezember 2012 - C-364/11 -, juris Rn. 49 ff., 65; BVerwG, Urteil vom 27. April 2021 - 1 C 2.21 -, juris Rn. 18). Dem Betroffenen ist es möglich und zumutbar, in das Einsatzgebiet der UNRWA im Libanon zurückzukehren und sich dessen Schutz oder Beistand erneut zu unterstellen, sofern er die Garantie hat, in dem Operationsgebiet aufgenommen zu werden, ihm das UNRWA dort tatsächlich einen von den verantwortlichen Stellen zumindest anerkannten Schutz oder Beistand gewährt und er erwarten kann, sich in diesem Operationsgebiet in Sicherheit und unter menschenwürdigen Lebensbedingungen aufhalten zu dürfen (BVerwG, Urteil vom 27. April 2021 - 1 C 2.21 -, juris Rn. 20 f. m.w.N. aus der EuGH-Rechtsprechung).

In zeitlicher Hinsicht ist für die Beurteilung, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA nach diesen Maßstäben nicht länger gewährt wird, im Rahmen einer individuellen Beurteilung der relevanten Umstände nicht nur der Zeitpunkt zu berücksichtigen, zu dem diese Person das UNRWA-Einsatzgebiet verlassen hat, sondern auch der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (EuGH, Urteil vom 3. März 2022, C-349/20, juris Rn. 58). Für Fallkonstellationen, in denen es dem Betroffenen zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung möglich und zumutbar ist, in das Einsatzgebiet zurückzukehren und sich dem Schutz oder Beistand des UNRWA erneut zu unterstellen, ist dies – unabhängig davon, ob das UNRWA-Einsatzgebiet freiwillig verlassen wurde oder nicht – unstreitig (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 27. April 2021 - 1 C 2.21 -, juris Rn. 24). Ebenso unstreitig dürfte sein, dass der Anspruch auf die ispo facto-Flüchtlingsanerkennung nicht verloren geht, wenn das Einsatzgebiet nach den Maßstäben des Europäischen Gerichtshofes unfreiwillig verlassen wurde und eine Rückkehr auch im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht möglich oder zumutbar ist (vgl. VG Minden, Urteil vom 18. März 2022- 1 K 662/18.A -, juris Rn. 47).

Hinsichtlich der verbleibenden Konstellation – das Mandatsgebiet wurde freiwillig verlassen, eine Rückkehr ist allerdings nicht mehr möglich bzw. zumutbar – hat die Kammer auch bisher schon keine „Sperrwirkung“ (zum Begriff vgl. VG Minden, Urteil vom 18. März 2022 - 1 K 662/18.A -, juris Rn. 49) durch das freiwillige Verlassen angenommen (VG Potsdam, Urteil vom 6. Mai 2022 - 8 K 5781/17.A -, juris Rn. 32; Urteil vom 18. Juni 2020 - 8 K 3961/17.A -, juris Rn. 24; ebenso VG Köln, Urteil vom 8. Oktober 2021 - 20 K 3644/16.A -, juris Rn. 46 m.w.N.).

Die Kammer hält an dieser Rechtsauffassung fest. Die Gegenauffassung (insbesondere VG Berlin, Urteil vom 27. April 2023 - 34 K 69/21 A -, juris Rn. 79 ff., Urteil vom 24. November 2021 - 34 K 326.18 A -, juris Rn. 31 f.) überzeugt nicht. Im Ausgangspunkt geht auch die Kammer davon aus, dass das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 3. März 2022 (Rs. C-349/20, juris) die Frage nach dem maßgeblichen Zeitpunkt für die vorliegende Konstellation nicht zweifelsfrei beantwortet, wenn die in Rn. 43 formulierte Vorlagefrage dahingehend beantwortet wird, bei der Feststellung, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt werde, seien im Rahmen einer individuellen Beurteilung die relevanten Umstände nicht nur zu dem Zeitpunkt, zu dem diese Person das UNRWA-Einsatzgebiet verlassen hat, sondern auch zu dem Zeitpunkt der behördlichen bzw. gerichtlichen Entscheidung zu berücksichtigen (Rn. 58). Diese Formulierung und auch die Urteilsgründe im Übrigen lassen durchaus eine Auslegung zu, die für die Zuerkennung der ipso facto-Flüchtlingseigenschaft stets den Wegfall des Schutzes des UNRWA sowohl zum Zeitpunkt der Ausreise als auch zum Zeitpunkt der Behörden- oder Gerichtsentscheidung voraussetzen.

Diese Auslegung steht jedoch im Widerspruch zum Wortlaut, Zweck und Systematik der Ein- bzw. Ausschlussklausel des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Richtlinie 2011/95/EU (dazu im Folgenden a) und ist auch nicht Gegenstand einer feststehenden Rechtsprechung des EuGH, des Bundesverwaltungsgerichts oder des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg (b).

a. Wortlaut (aa), Zweck (bb) und Systematik (cc) der Spezialregelung in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Richtlinie 2011/95/EU, die trotz ihrer offenen Formulierung gegenwärtig ausschließlich auf Personen Anwendung findet, die bei dem UNRWA registriert sind (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2012 - C-364/11 -, juris Rn. 48) treffen keine eindeutigen Vorgaben für den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt und lassen so Raum für eine einzelfallbezogene Entscheidung, deren Notwendigkeit in der Rechtsprechung des EuGH immer wieder betont wird (vgl. zuletzt EuGH, Urteil vom 3. März 2022, C-349/20, juris Rn. 53). Die Annahme einer Sperrwirkung der freiwilligen Ausreise führt in der Fallkonstellation des späteren Wegfalls des UNRWA-Schutzes hingegen zu schweren Verwerfungen im Flüchtlingsschutz für UNRWA-Palästinenser.

aa. Der Wortlaut der Regelungen in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Richtlinie 2011/95/EU ist hinsichtlich des Zeitpunkts offen formuliert. Beide Sätze der Norm sind in der deutschen und in der französischen Sprachfassung im Präsenz formuliert. In der englischen Fassung wird in Satz 2 Present Perfect verwendet („has ceased“). Gleiches gilt für § 3 Abs. 3 AsylG und Art. 1 D der Genfer Flüchtlingskonvention, welche in der Ausschlussklausel mit dem Zusatz „zur Zeit“ den Bezug zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch zusätzlich betont.

bb. Auch der Zweck der Spezialregelung spricht gegen die Annahme einer Sperrwirkung und für die Zuerkennung der ipso facto-Flüchtlingseigenschaft bei einer freiwilligen Ausreise mit späteren Wegfall des Schutzes. Die Regelung des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 Richtlinie 2011/95/EU schließt bei dem UNRWA registrierte Palästinenser wegen des ihnen gewährten speziellen Flüchtlingsstatus im Einsatzgebiet der UNRWA grundsätzlich von der Anerkennung als Flüchtlinge in der Europäischen Union aus. Das UNRWA ist eine Organisation der Vereinten Nationen, die gegründet wurde, um im Gazastreifen, im Westjordanland, in Jordanien, im Libanon und in Syrien Palästinenser in ihrer Eigenschaft als „Palästinaflüchtlinge“ zu schützen und ihnen beizustehen (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 -, juris Rn. 49; Urteil vom 25. Juli 2018 - C-585/16 -, juris Rn. 84 f.). Die Annahme einer Sperrwirkung würde in dem Fall des späteren Wegfalls des UNRWA-Schutzes dazu führen, dass die betroffene Person von der Anerkennung als Flüchtling weiterhin ausgeschlossen ist, obwohl der Grund für diesen Ausschluss – die anderweitige Anerkennung als Flüchtling und damit verbundene Schutzgewährung – tatsächlich weggefallen ist. Eine rechtlich tragfähige Begründung für diese evidente Schutzlücke, welche auch Generalanwalt Hogan angeführt hat (EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts vom 6. Oktober 2021, C-349/20, juris Rn. 31, darauf bezugnehmend wohl Rn. 56), ist nicht erkennbar und auch der von der Gegenauffassung angeführten Rechtsprechung des EuGH und des Bundesverwaltungsgerichts nicht zu entnehmen.

Weiterhin widerspricht die angenommene Sperrwirkung der vom EuGH regelmäßig betonten Verpflichtung zu einer umfassenden ex nunc-Prüfung (vgl. nur EuGH, Urteil vom 3. März 2022 - C-349/20 -, juris Rn. 55), wenn der gegenwärtige Wegfall des Schutzes im Ergebnis aufgrund der freiwilligen Ausreise ausgeblendet wird.

Die Annahme einer „Sperrwirkung“ der freiwilligen Ausreise bei einer späteren Verschlechterung der Verhältnisse im UNRWA-Einsatzgebiet würde zudem zu völlig sachwidrigen Ergebnissen führen: Für die Klägerin dürfte im vorliegenden Fall nur ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt werden. Zöge sie in den Libanon um und reiste kurze Zeit später wieder nach Deutschland ein, um der im Libanon drohenden Verelendung zu entkommen, müsste sie nach erneuter Einreise auch nach der Gegenauffassung als ipso facto-Flüchtling anzuerkennen sein, solange weiterhin von einem Wegfall des UNRWA-Schutzes für sie auszugehen sein sollte. Ein sachlicher Grund dafür ist nicht erkennbar. Das Ergebnis würde auch dem vom EuGH betonten Gedanken einer raschen und effektiven Bearbeitung von Anträgen auf Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes (vgl. EuGH, Urteil vom 3. März 2022 - C-349/20 -, juris Rn. 55; Urteil vom 25. Juli 2018 - C-585/16 -, juris Rn. 111) zuwiderlaufen, weil es zusätzliche, nach der hier vertretenen Auffassung vermeidbare Anträge generiert.

cc. Schließlich lässt sich eine Sperrwirkung in der hier vorliegenden Konstellation nicht ohne Brüche in die vom EuGH entwickelte Binnensystematik der Spezialregelung in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie einfügen. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 und Satz 2 der Richtlinie 2011/95/EU stellen im Zusammenspiel eine zwingend anzuwendende Spezialregelung dar (vgl. EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018 - C-585/16, Alheto -, juris Rn. 87). Denn entweder ist der Schutz oder Beistand des UNRWA weggefallen mit der Folge, dass dem Betroffenen deklaratorisch die ipso facto-Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, oder dies ist nicht der Fall und der Betroffene ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen. Die Voraussetzungen dieser Spezialregelung sind unabhängig davon zu prüfen, ob der Antragsteller sich darauf berufen oder die nationale Behörde Entscheidung darauf gestützt hat (EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018 - C-585/16, Alheto -, juris Rn. 87 ff., 101). Die Annahme einer Sperrwirkung der freiwilligen Ausreise führt bei einem späteren Wegfall des UNRWA-Schutzes zu dem mit dieser Systematik nicht zu vereinbarenden Ergebnis, dass die betroffene Person von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, obwohl der Grund für den Ausschluss zum Zeitpunkt der behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung nicht mehr vorliegt. Die Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU wäre insoweit ihrer effektiven Wirksamkeit beraubt.

b. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts Berlin (Urteil vom 27. April 2023 - 34 K 69/21 A -, juris Rn. 79 und 82) entspricht die Annahme einer Sperrwirkung in der vorliegenden Fallkonstellation eines späteren Wegfalls des Schutzes des UNRWA auch nicht einer gefestigten Rechtsprechung des EuGH. Bei Betrachtung der Entwicklung und fortschreitenden Ausdifferenzierung der Rechtsprechung des Gerichtshofs wird vielmehr deutlich, dass das Urteil vom 3. März 2022 (- C-349/20 -, juris) der von der Kammer vertretenen Auffassung nicht entgegensteht und die frühere – von dem Bundesverwaltungsgericht und verschiedenen Obergerichten in Bezug genommene – Rechtsprechung des EuGH für die vorliegende Fallkonstellation unergiebig ist.

aa. In der Rechtssache Bolbol (EuGH, Urteil vom 17. Juni 2010 - C-31/09 -, juris) war dem EuGH eine Vorlagefrage zu den Voraussetzungen des Wegfalls des Schutzes oder des Beistands des UNRWA vorgelegt worden (Rn. 35). Der Gerichtshof brauchte diese Frage mangels Entscheidungserheblichkeit im Ausgangsverfahren nicht zu beantworten (Rn. 55 f.) und äußerte sich demzufolge nicht zur Frage des Zeitpunkts.

bb. In dem Verfahren der Rechtssache Karem El Kott (EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2012 - C-364/11 -, juris) legte ein ungarisches Gericht dem EuGH im Wesentlichen die gleiche Vorlagefrage vor und formulierte dabei schon in der Vorlagefrage unter anderem die Variante, dass der Wegfall des Schutzes sich (nur) auf den Aufenthalt außerhalb des Einsatzgebietes beziehen könnte (Rn. 41). Vor dem Hintergrund dieser konkreten Vorlagefrage stellte der EuGH klar, dass das freiwillige Verlassen des Einsatzgebietes für den Wegfall des Schutzes nicht genügen könne (Rn. 49), sondern vielmehr voraussetze, dass dieser aus einem von der betreffenden Person nicht zu kontrollierenden und von ihrem Willen unabhängigen Grund nicht länger gewährt wird, diese Person also gezwungen war, das Einsatzgebiet zu verlassen, was dann der Fall ist, wenn sie sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befand und es der betreffenden Organisation oder Institution unmöglich war, ihr in diesem Gebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der dieser Organisation oder dieser Institution obliegenden Aufgabe im Einklang stehen (Rn. 65). Damit hat der EuGH in dieser Entscheidung allein auf den Zeitpunkt der Ausreise abgestellt. Die Frage, welche Rolle eventuelle Veränderungen der Lebensverhältnisse im Einsatzgebiet des UNRWA zwischen Ausreise und Entscheidung über die Flüchtlingsanerkennung spielen, war vom EuGH in diesem Verfahren nicht zu entscheiden.

cc. In dem Urteil in der Rechtssache Alheto (Urteil vom 25. Juli 2018 - C-585/16 -, juris) hat der EuGH keine ausdrückliche Aussage zur Frage des entscheidungserheblichen Zeitpunktes getroffen.

dd. Auf den Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Mai 2019 (- 1 C 5.18 -, juris) hatte der EuGH im Urteil vom 13. Januar 2021 (- C-507/19 -, juris) über insgesamt fünf Vorlagefragen zu entscheiden, in denen es maßgeblich darum ging, auf welches der fünf Operationsgebiete des UNRWA (Gaza, Westjordanland, Libanon, Jordanien, Syrien) abzustellen ist, wenn ein staatenloser Palästinenser aus einem Operationsgebiet, in dem der Schutz weggefallen ist (im Ausgangsverfahren Syrien) in ein „sicheres“ Operationsgebiet (im Ausgangsverfahren Libanon) ausreist und von dort wieder in das zuerst genannte Operationsgebiet zurückkehrt, ohne damit rechnen zu können, erneut in ein „sicheres“ Operationsgebiet zurückkehren zu können. Eine Frage in Bezug auf den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt hat das Bundesverwaltungsgericht in diesem Beschluss nicht vorgelegt. Es hat jedoch im Rahmen der vierten Vorlagefrage den Rechtssatz aufgestellt, dass es für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 RL 2011/95/EU nicht schon ausreicht, dass dem Betroffenen im Zeitpunkt des Verlassens des Mandatsgebietes der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wurde. Zusätzlich muss es ihm auch in dem nach § 77 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts unmöglich sein, in das Einsatzgebiet zurückzukehren und sich dem Schutz oder Beistand des UNRWA erneut zu unterstellen (BVerwG, EuGH-Vorlage vom 14. Mai 2019 - 1 C 5.18 -, juris, Rn. 41). Es hat dies auf der Grundlage der dort zitierten Rechtsprechung des EuGH damit begründet, dass bei einer Rückkehrmöglichkeit im Zeitpunkt der Entscheidung über die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus die zuerkannte Flüchtlingseigenschaft sofort wieder aberkannt werden müsste. Dieser Gesichtspunkt trägt nur in der Fallkonstellation eines zum Zeitpunkt der Ausreise anzunehmenden Wegfalls und späteren Wiedereintritts des vom UNRWA gewährten Schutzes. Für die umgekehrte Fallkonstellation ist der Gedanke unergiebig und die Regelung des Art. 11 Abs. 1 Buchstabe f der Richtlinie 2011/95/EU schon tatbestandlich nicht anwendbar.

Der EuGH hat in seinem Urteil vom 13. Januar 2021 (- C-507/19 -, juris) zu der Frage, auf welchen Zeitpunkt maßgeblich abzustellen ist, keine Aussage getroffen. In Rn. 32 wird die vorstehend zitierte Passage aus dem Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts ohne Bewertung wiedergegeben. Im Rahmen der Beantwortung der zweiten Vorlagefrage stellt der Gerichtshof lediglich fest, dass die Kriterien für die Beurteilung des Wegfalls des UNRWA-Schutzes im Zeitpunkt ex nunc, – welcher nach Aussage des vorlegenden Gerichts nach nationalem Recht zu prüfen sei (Rn. 65) – nicht anders als in seiner bisherigen Rechtsprechung bezogen auf den Zeitpunkt der Ausreise zu beurteilen ist. Eine Aussage, welcher Zeitpunkt unionsrechtlich maßgeblich ist, ist darin nicht enthalten.

ee. Das Urteil vom 3. März 2022 (- C-349/20 -, juris) enthält keine klare Aussage für die Fallkonstellation der freiwilligen Ausreise und des späteren Wegfalls des UNRWA-Schutzes. Es erging auf Vorlage des britischen First-tier Tribunal, weshalb der Gerichtshof die Richtlinie 2004/83/ EG auszulegen hatte (Rn. 34 ff.), dabei aber betont hat (Rn. 41), dass Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83 Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 im Wesentlichen entspricht, so dass die zu der letzteren Vorschrift ergangene Rechtsprechung für die Auslegung der ersteren relevant ist. Dies dürfte im Kontext des Urteils vom 3. März 2022 auch umgekehrt gelten.

Im Ausgangsverfahren ging es um eine sechsköpfige Familie aus dem Libanon, welche im Jahr 2015 den Libanon verließ und im Vereinigten Königreich einreiste. Erst im Jahr 2019 beantragten sie Asyl und beriefen sich im Wesentlichen darauf, dass sie zur Ausreise gezwungen gewesen seien, weil das UNRWA ihrem schwerstbehinderten Sohn keinen angemessenen Schutz habe bieten können und dieser Sohn aufgrund seiner Behinderung schwerer Diskriminierung ausgesetzt gewesen sei (vgl. EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Hogan vom 6. Oktober 2021, C-349/20, juris Rn. 2, 22 ff.). Das vorlegende Gericht hat darauf hingewiesen, dass es zu vielen der entscheidenden Tatsachen in der vorliegenden Rechtssache, die die Behandlung der Familienmitglieder im Libanon betreffen, keine endgültigen Feststellungen getroffen hat. Das Gericht hielt es stattdessen für zweckmäßiger, die weitere Verhandlung der Rechtssache zunächst auszusetzen, um ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu richten (a.a.O. Rn. 25). Die im Ausgangsverfahren zu entscheidende Fallkonstellation und die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Frage nach dem zu betrachtenden Zeitpunkt bleibt daher unklar.

Die von dem vorlegenden Gericht formulierte erste Vorlagefrage (EuGH, Urteil vom 3. März 2022 - C-349/20 -, juris Rn. 28) lautete:

Wenn zu prüfen ist, ob das UNRWA, was den Beistand für Menschen mit Behinderung betrifft, nicht länger Schutz oder Beistand im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2004/83 für einen beim UNRWA registrierten staatenlosen Palästinenser gewährt, handelt es sich dann bei dieser Prüfung lediglich um eine historische Bewertung der Umstände, die einen Antragsteller zum Zeitpunkt seiner Abreise angeblich gezwungen haben, das UNRWA-Einsatzgebiet zu verlassen, oder ist auch eine in die Zukunft gerichtete Beurteilung ex nunc anzustellen, ob der Antragsteller diesen Schutz oder diesen Beistand gegenwärtig in Anspruch nehmen kann?

Diese Frage zielt nach Auslegung des Gerichtshofs (Rn. 43) darauf ab, ob nur die relevanten Umstände zu dem Zeitpunkt zu berücksichtigen sind, zu dem diese Person das UNRWA-Einsatzgebiet verlassen hat, oder auch die Umstände zu dem Zeitpunkt zu berücksichtigen sind, zu dem die zuständigen Behörden einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft prüfen oder die zuständigen Gerichte über den Rechtsbehelf gegen eine die Anerkennung als Flüchtling versagende Entscheidung entscheiden. Gegenstand der Frage ist also, welche Umstände in die behördliche oder gerichtliche Prüfung einzustellen sind („zu berücksichtigen“, in der englischen Verfahrenssprache „account must be taken (…) of the relevant circumstances“).

Vor dem Hintergrund dieser weiten und nicht unmittelbar auf die zeitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der ipso facto-Flüchtlingseigenschaft abzielenden Frage referiert das Urteil zunächst die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs (Rn. 44 ff.). Anknüpfend an die Formulierung des Generalanwalts in Rn. 52 seiner Schlussanträge lässt der Gerichtshof in Rn. 52 im Rahmen des maßgebenden Zeitpunktes eine klare Präferenz für die Betrachtung ec nunc erkennen. Die englische Fassung („favours an assessment that seeks to determine whether that assistance or protection has actually ceased, within the meaning of Article 12(1)(a) of Directive 2004/83“) bringt dies klarer zum Ausdruck als die deutsche Übersetzung („sprechen (…) für eine Beurteilung dahin, ob der Beistand oder Schutz im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83 tatsächlich nicht länger gewährt wird“). Daran schließt in Rn. 53 die Schlussfolgerung an, dass die Beurteilung auf der Grundlage der Umstände zum Zeitpunkt des Wegzugs aus dem UNRWA Einsatzgebiet zu erfolgen hat, wobei auch die Umstände zum Zeitpunkt der behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung zu berücksichtigen sind. Dies stehe im Einklang mit dem Erfordernis einer umfassenden ex nunc Prüfung (Rn. 54 f.) und gewährleiste, dass in dem Fall einer unfreiwilligen Ausreise und einer späteren Verbesserung der Situation im UNRWA Einsatzgebiet die ipso facto Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen sei (Rn. 56). Dies führt auf die Beantwortung der ersten Vorlagefrage in den Rn. 57 und 58 hin, wonach bei der Feststellung, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wird, im Rahmen einer individuellen Beurteilung die relevanten Umstände nicht nur zu dem Zeitpunkt, zu dem diese Person das UNRWA-Einsatzgebiet verlassen hat, sondern auch zu dem Zeitpunkt zu berücksichtigen sind, zu dem die zuständigen Verwaltungsbehörden einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft prüfen oder die zuständigen Gerichte über den Rechtsbehelf gegen eine die Anerkennung als Flüchtling versagende Entscheidung entscheiden.

Korrespondierend zur Vorlagefrage hat der Gerichtshof damit den zeitlichen Rahmen der zu prüfenden und zu berücksichtigenden Umstände hinsichtlich des Wegfalls des UNRWA-Schutzes weit gezogen. Eine Aussage zu der – vom First-tier Tribunal nicht vorgelegten und sich auch nicht aus dem noch nicht ausermittelten Sachverhalt im Ausgangsverfahren zwingend stellenden – Frage, zu welchem Zeitpunkt oder zu welchen Zeitpunkten der Schutz des UNRWA weggefallen sein muss, damit die Flüchtlingseigenschaft ipso facto zuzuerkennen ist, hat der Gerichtshof auch hier nicht getroffen.

Im Ergebnis hat der Gerichtshof in der Rechtssache Karem El Kott (Urteil vom 19. Dezember 2012 - C-364/11 -, juris) zunächst allein auf den Zeitpunkt der Ausreise abgestellt. Im Urteil vom 3. März 2022 (C-349/20 -, juris) hat der Gerichtshof die Annahme des Bundesverwaltungsgerichts bestätigt, dass im Falle eines Schutzwegfalls im Zeitpunkt der Ausreise und späterer Verbesserung der Verhältnisse nicht der Zeitpunkt der Ausreise, sondern der behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung den Ausschlag gibt für die (Nicht-) Zuerkennung des ipso facto-Flüchtlingsschutzes. Einen Anlass, seine vom Bundesverwaltungsgericht vermeintlich missverstandene Rechtsprechung klarzustellen, bestand für den Gerichtshof daher überhaupt nicht (so aber VG Berlin, Urteil vom 27. April 2023 - 34 K 69/21 A -, juris Rn. 82).

ff. Die Annahme einer Sperrwirkung im Fall der freiwilligen Ausreise und des späteren Wegfalls des UNRWA-Schutzes war bisher nicht Gegenstand der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Wie bereits ausgeführt, wird die Zuerkennung der ipso facto-Flüchtlingseigenschaft sowohl im Urteil vom 27. April 2021 (- 1 C 2.21 -, juris Rn. 18, 24) und in dem Vorlagebeschluss vom 14. Mai 2019 (- 1 C 5.18 -, juris Rn. 41) unmissverständlich davon abhängig gemacht, dass dem Betroffenen nicht nur im Zeitpunkt des Verlassens des Mandatsgebietes der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wurde. Zusätzlich muss es ihm auch in dem nach § 77 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts unmöglich sein, in das Einsatzgebiet zurückzukehren und sich dem Schutz oder Beistand des UNRWA erneut zu unterstellen. Dieser Rechtssatz wird aber – wie sich aus der unmittelbar anschließenden Begründung ergibt – erkennbar für den Fall aufgestellt, dass die betroffene Person zum Zeitpunkt der Entscheidung (wieder) in der Lage ist, in das Einsatzgebiet des UNRWA zurückzukehren und sich dessen Schutz zu unterstellen. Den umgekehrten – hier vorliegenden – Fall der freiwilligen Ausreise und Wegfall des UNRWA-Schutzes zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung hatte das Bundesverwaltungsgericht nicht vor Augen und war auch nicht streitgegenständlich. Ohne zusammen mit der Begründung gelesen zu werden, kann der Rechtssatz selbstverständlich auch auf den Fall eines späteren Schutzwegfalls angewendet werden. Dies stellt jedoch keine einfache Anwendung des vom Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten Rechtssatzes dar, sondern überträgt ihn auf eine sachlich anders gelagerte Fallkonstellation. Wie vorstehend unter a. ausgeführt, führt dies jedoch zu schweren Verwerfungen im unionsrechtlich geregelten Flüchtlingsschutz für UNRWA-Palästinenser und ist durch die Rechtsprechung des EuGH nicht gedeckt.

Die sich auf die vorstehend zitierte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beziehenden Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 9. Januar 2023 - OVG 3 N 7/20 -, n.v. EA S. 3 f.) und des VGH Mannheim (Beschluss vom 3. Februar 2023 - A 12 S 2575/21 -, juris Rn. 10) übertragen den vom Bundesverwaltungsgericht für eine andere Fallkonstellation aufgestellten Rechtssatz ebenso wie das Verwaltungsgericht Berlin (VG Berlin, Urteil vom 27. April 2023 - 34 K 69/21 A -, juris Rn. 82) ohne Begründung auf einen anders gelagerten und aus den vorstehenden Gründen auch anders zu beurteilenden Sachverhalt.

gg. Ob darüber hinaus eine „eingeschränkte Sperrwirkung“ des freiwilligen Verlassens anzunehmen ist, wenn die nachträgliche Veränderung auf Gründen beruht, die von dem Antragsteller kontrolliert werden können bzw. von seinem Willen abhängig sind bzw. wenn er auf der Grundlage ihm vorliegender konkreter Informationen vernünftigerweise mit dem Eintritt dieser Umstände rechnen musste (vgl. VG Minden, Urteil vom 18. März 2022 - 1 K 662/18.A -, juris Rn. 56), bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung, weil derartige Umstände von den Beteiligten nicht vorgetragen worden und auch sonst nicht ersichtlich sind.

In räumlicher Hinsicht ist auf das gesamte – die fünf Operationsgebiete Gazastreifen, Westjordanland (einschließlich Ost-Jerusalem), Jordanien, Libanon und Syrien umfassende – Einsatzgebiet des UNRWA abzustellen. Die Feststellung, der Schutz oder Beistand würden i.S.d. § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG nicht länger gewährt, ist daher nicht schon dann gerechtfertigt, wenn dieser in einem bestimmten Operationsgebiet des UNRWA nicht in Anspruch genommen werden kann. Vielmehr bedarf es zusätzlich der Feststellung, dass der Staatenlose den Schutz und Beistand auch in keinem anderen Operationsgebiet des UNRWA konkret in Anspruch nehmen kann (BVerwG, Urteil vom 27. April 2021 - 1 C 2.21 -, juris Rn. 19; EuGH, Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 -, juris Rn. 67).

2. Auf der Grundlage dieser Maßstäbe gilt hier folgendes: Die Klägerin hat vor ihrer Ausreise den Schutz bzw. Beistand des UNRWA genossen; insoweit reicht die Registrierung als Nachweis aus (BVerwG, Urteil vom 27. April 2021- 1 C 2.21 -, juris Rn. 14 mit weiteren Nachweisen zur EuGH-Rechtsprechung). Sie hat einen Ausdruck eines „Family Record“ des UNRWA vorgelegt, der offenbar ihren verstorbenen Vater als Hauptberechtigten ausweist und auf dem auch sie selbst eingetragen ist. Das Gericht hat keinen Anlass, an der Echtheit und inhaltlichen Richtigkeit der im Original in der mündlichen Verhandlung eingesehenen Bescheinigung zu zweifeln. Insbesondere ist es nach den Erfahrungen der Kammer nicht ungewöhnlich und begründet keinen Zweifel an der Personenidentität, dass als Geburtsdatum der Klägerin auf der Bescheinigung der 1. August 1977 angegeben ist, während sie nach den Daten der Asylakte am 4. August 1977 geboren wurde. Dies entspricht der Beurkundungspraxis des UNRWA. So sind auch die Geburtsdaten der beiden Schwestern und des Bruders der Klägerin auf der Bescheinigung jeweils mit dem Monatsersten angegeben.

Das Gericht geht davon aus, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in den Libanon weiterhin Leistungen des UNRWA in Anspruch nehmen könnte. Das hätte grundsätzlich zur Folge, dass sie von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen ist. In ihrem Fall trifft dies jedoch nicht zu, weil die Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG („Einschlussklausel“) erfüllt sind.

Ob die Klägerin auf der Grundlage der vorstehend unter 1. ausgeführten Maßstäbe gezwungen war, im Jahr 2015 das UNRWA-Einsatzgebiet im Libanon zu verlassen, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Jedenfalls ist es ihr im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht möglich und zumutbar, in den Libanon zurückzukehren und sich dem Schutz der UNRWA erneut zu unterstellen. Das Gericht geht zwar davon aus, dass sie in den Libanon einreisen und sich in das UNRWA-Einsatzgebiet begeben könnte. Das UNRWA ist auch weiterhin im Libanon tätig und es dürfte der Klägerin bei einer Rückkehr in das Einsatzgebiet erneut Schutz gewähren (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Libanon - Rückkehr für staatenlose Palästinenser, 5. Juni 2018, S. 3 f.). Die Klägerin kann auch erwarten, im UNRWA-Einsatzgebiet sicher vor Verfolgung zu sein, weil sie nicht vorverfolgt ausgereist ist und ihr bei einer Rückkehr in den Libanon nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung droht (dazu im Folgenden a.). Sie kann jedoch angesichts ihrer individuellen Umstände als auch der sich aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln ergebenden allgemeinen Lage nicht erwarten, sich im UNRWA-Einsatzgebiet im Libanon unter menschenwürdigen Lebensbedingungen aufhalten zu können, da sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein wird, angesichts der gegenwärtigen schweren Versorgungskrise im Libanon gemeinsam mit ihrem Ehemann  das absolutes Existenzminimum insbesondere hinsichtlich Ernährung und Trinkwasser für sich und ihre zwei minderjährigen Kinder – den Klägern in den Verfahren VG 8 K 187/21.A und VG 8 K 436/21.A – zu sichern (b.).

a. Die Klägerin kann erwarten, sich in Sicherheit im Einsatzgebiet des UNRWA im Libanon aufzuhalten. Ihr droht weder Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG (im Folgenden aa) noch ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 AsylG (bb).

aa. Eine asylrelevante Verfolgung hat die Klägerin weder im Verfahren beim Bundesamt noch im gerichtlichen Verfahren behauptet. Dass sie im Fragebogen für Geflüchtete aus Syrien die Frage bejaht hat, eine Verfolgung in Syrien zu befürchten, war erkennbar der Annahme geschuldet, dass dies notwendig sei, um Schutz in Deutschland zu erhalten und wurde nicht weiter konkretisiert. In der mündlichen Verhandlung haben die Klägerin und ihr Ehemann sich auf die Frage nach den Gründen für die Ausreise im Jahr 2015 vor allem auf die bereits damals schlechten Lebensbedingungen berufen. Die zudem angeführte auch rechtliche Benachteiligung der Palästinenser im Libanon ist der Kammer bekannt, erreicht aber nicht die für eine asylrelevante Gruppenverfolgung notwendige Schwere (vgl. VG Potsdam, Urteil vom 18. Juni 2020 - 8 K 3961/17.A -, juris Rn. 38 ff.).

bb. Der Klägerin droht auch erkennbar kein ernsthafter Schaden bei einer Rückkehr in den Libanon (zu diesem Erfordernis vgl. BVerwG, Urteil vom 25. April 2019 - 1 C 28.18 -, juris Rn. 28). Dass sie die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe befürchten müsste (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Ihr droht auch keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG). Eine möglicherweise auf der schlechten allgemeinen humanitären Lage beruhende Beeinträchtigung ist nicht an § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu messen, da die Vorschrift nur Fälle erfasst, in denen eine notwendige humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten wird (BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 - 1 C 11.19 -, juris Rn. 9 ff., 15; Beschluss vom 13. Februar 2019 - 1 B 2.19 -, juris Rn. 13). Die Klägerin hat auch ersichtlich keine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) zu befürchten.

b. Der Klägerin drohen jedoch menschenunwürdige Lebensbedingungen bei einer Rückkehr in das UNRWA-Einsatzgebiet im Libanon, weil sie sich dort aufgrund der humanitären Lage in einer existenzbedrohenden wirtschaftlichen Situation befinden würde.

aa. Menschenunwürdige Lebensbedingungen drohen, wenn der Betroffene sich unabhängig von seinem Willen und seiner persönlichen Entscheidung in einer Situation extremer materieller Not befinden wird, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (zu diesem zu Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - bzw. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union - GRC - entwickelten Maßstab vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a., Ibrahim -,  juris Rn. 89 ff. und - C-163/17, Jawo -, juris Rn. 90 ff.; BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 - 1 C 10.21 -, juris Rn. 16; Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 = juris Rn. 25). Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich die betroffene Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2020 - 1 C 35.19 -, juris Rn. 27; Urteil vom 20. Mai 2020 - 1 C 34.19 -, juris Rn. 19 jeweils m.w.N. aus der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 4 GRC und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - EGMR - zu Art. 3 EMRK). Ein ernsthaftes Risiko eines Verstoßes gegen Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK besteht nur für den Fall, dass die Befriedigung eines der bezeichneten Grundbedürfnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten ist und der Drittstaatsangehörige dadurch Gefahr läuft, erheblich in seiner Gesundheit beeinträchtigt zu werden oder in einen menschenunwürdigen Zustand der Verelendung versetzt zu werden. Diese Schwelle der Erheblichkeit kann in Bezug auf vulnerable Personen schneller erreicht sein als etwa in Bezug auf gesunde und erwerbsfähige erwachsene Personen (BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 - 1 C 10.21 -, juris Rn. 16).

Für die Erfüllung der vorbezeichneten Grundbedürfnisse gelten – gerade bei nicht vulnerablen Personen – nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. Das wirtschaftliche Existenzminimum ist immer dann gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den im vorstehenden Sinne zumutbaren Arbeiten zählen auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, selbst wenn diese im Bereich der sogenannten „Schatten- oder Nischenwirtschaft" angesiedelt sind. Können extrem schlechte materielle Lebensverhältnisse, welche die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK begründen, somit durch eigene Handlungen oder die Inanspruchnahme der Hilfe- oder Unterstützungsleistungen Dritter abgewendet werden, besteht schon nicht mehr die ernsthafte Gefahr einer Situation extremer materieller Not (BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 - 1 C 10.21 -, juris Rn. 17).

Der dabei anzulegende Prognosemaßstab entspricht dem der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für menschenunwürdige Lebensbedingungen sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Ein gewisser Grad an Mutmaßung ist dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent, so dass ein eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis dafür, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre, nicht verlangt werden kann (BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 - 1 C 10.21 -, juris Rn. 13 f.).

Für die Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei der Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, ist bei einer in Deutschland gelebten familiären Gemeinschaft mit der Kernfamilie grundsätzlich von einer Rückkehr im Familienverband – Eltern mit ihren minderjährigen Kindern – auszugehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris Rn. 17 zu § 60 Abs. 5 AufenthG), vorliegend also der aus der Klägerin, ihrem Ehemann und den beiden 2016 und 2018 geborenen Kindern – den Klägern in den Verfahren VG 8 K 187/21.A und VG 8 K 436/21.A – bestehenden Familie.

bb. Nach diesen Maßstäben ist der Einzelrichter davon überzeugt, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nach Abwägung aller Umstände wie dem Alter, dem Geschlecht, dem Gesundheitszustand, der Volkszugehörigkeit, der Ausbildung, dem Vermögen und familiären oder freundschaftlichen Verbindungen eine solche außergewöhnliche humanitäre Lage individuell für die Klägerin vorliegt. Angesichts der unverändert desolaten Versorgungskrise im Libanon und vor dem Hintergrund der besonderen individuellen persönlichen Umstände der Klägerin wird diese mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein, gemeinsam mit ihrem Ehemann das absolute Existenzminimum für sich, die siebenjährige Mariam und den fünfjährigen Ahmad sicherzustellen und damit dem Zustand der Verelendung ausgesetzt sein.

Die allgemeine Lebenssituation palästinensischer Flüchtlinge im Libanon stellt sich nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln im Wesentlichen wie folgt dar: In den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon – die Klägerin lebte mit ihrer Familie bis zur Ausreise im Jahr 2015 nach eigenen Angaben allerdings neben einem Flüchtlingslager – herrschen prekäre Lebensbedingungen. Die Verhältnisse in den Flüchtlingslagern sind geprägt von Armut, Arbeitslosigkeit, teilweise desaströsen Wohnverhältnissen, fehlender Infrastruktur und Überbelegung (Auswärtiges Amt, Lagebericht Libanon, 5. Dezember 2022, S. 12 f.; Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BfA), Länderinformationsblatt Libanon, 1. März 2023, S. 57 f.). Alle Lager sind massiv von den Hilfeleistungen der chronisch unterfinanzierten UNRWA abhängig (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 12). Deren finanzielle Situation hatte sich seit Mitte 2018 durch die massive Kürzung der Unterstützung der USA zwischenzeitlich verschlechtert, doch leistet das UNRWA registrierten palästinensischen Flüchtlingen weiterhin grundlegende Unterstützung, welche die Grund- und Berufsausbildung, die medizinische Grundversorgung, Hilfs- und Sozialdienste, die Verbesserung der Infrastruktur der Lager sowie ein Härtefallhilfsprogramm umfassen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Libanon: Unterstützung von palästinensischen Flüchtlingen durch UNRWA, 23. März 2022, S. 10 f.; UNRWA, Palestine Refugees in Lebanon: Struggling to survive, 18. Januar 2022, S. 13; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Libanon: sozioökonomische Lage von palästinensischen Flüchtlingen mit UNRWA-Registrierung und ohne UNRWA-Registrierung; Zugang zu Leistungen der UNRWA, Zugang zu Wohnraum, medizinischer Versorgung, Nahrungsmittelversorgung, sozialer Unterstützung, 29. Juni 2021; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Würzburg u.a. zu den Lebensverhältnissen in den Lagern für palästinensische Flüchtlinge, 2. März 2021, S. 3 f.; BfA, Länderinformationsblatt Libanon, Stand 1. März 2023, S. 54 ff..; Danish Immigration Service, Palestinian Refugees Access to registration and UNRWA services, documents, and entry to Jordan, Juni 2020, S. 26 ff.; US-Außenministerium, Country Report on Human Rights Practices 2019 - Lebanon, 11. März 2020, S. 25; Antwort der Bundesregierung vom 18. August 2020 auf eine Kleine Anfrage mehrerer Bundestagsabgeordneter, BT-Drs. 19/21707, S. 14).

Die erheblichen finanziellen Schwierigkeiten des UNRWA führten zu Leistungskürzungen, dagegen gerichteten Protesten palästinensischer Aktivisten und vorübergehend dazu, dass das UNRWA nicht mehr in der Lage war, seinen Mitarbeitern die Löhne auszuzahlen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, 23. März 2022, S. 12 f.; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Libanon: sozioökonomische Lage von palästinensischen Flüchtlingen, 29. Juni 2021, S. 3, 5). Das UNRWA rief am 19. Januar 2022 die internationale Gemeinschaft zur Bereitstellung dringend benötigter finanzieller Mittel auf (BAMF Briefing Notes 24. Januar 2022). Danach seien immer mehr palästinensische Flüchtlinge in absolute Armut abgerutscht, weil die Bargeldleistungen des UNRWA aufgrund des massiven Wertverlust des libanesischen Pfunds an Kaufkraft verloren hätten. Die USA stellten im Jahr 2021 zunächst 150 Millionen USD (UNRWA, United States Announces Restoration of U.S. $150 Million to Support Palestine Refugees, 7. April 2021) und später weitere 135 Millionen USD für das UNRWA zur Verfügung (UNRWA, United States Announces Additional Support for Palestine Refugees, 17. Juli 2021). Gleichwohl ist das UNRWA weiterhin unterfinanziert (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, 23. März 2022, S. 13; BAMF, Briefing Notes, 24. Januar 2022; UNRWA, International community overwhelmingly reaffirms support for UNRWA at annual pledging conference – but funds still insufficient, 16. November 2021). Im Januar 2023 hat das UNRWA die Lücke zur Finanzierung seiner Kernaufgabe der Versorgung der palästinensischen Bevölkerung im Libanon mit 1,6 Milliarden US-Dollar beziffert (BAMF Briefing Notes 30. Januar 2023).

Das UNRWA war und ist trotz der zwischenzeitlich unzureichenden Finanzmittel in der Lage, eine grundlegende Gesundheitsversorgung (primäre Gesundheitsversorgung) zu gewährleisten. So unterhält das UNRWA 27 oder 28 Gesundheitseinrichtungen im Libanon und übernimmt die Kosten für die medizinische Grundversorgung (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Libanon: sozioökonomische Lage von palästinensischen Flüchtlingen, 29. Juni 2021, S. 3 f.). Das Härtefallhilfsprogramm stellt bedürftigen Flüchtlingen Nahrung und Geldmittel zur Verfügung (Schweizerische Flüchtlingshilfe, 23. März 2022, S. 15 f.; UNRWA, Palestine Refugees in Lebanon: Struggling to survive, 18. Januar 2022, S. 13; ACCORD, a.a.O., S. 5).

Die anhaltende Versorgungskrise im gesamten Libanon führt zu einer weiteren Verschärfung der Situation. Der Wertverlust des libanesischen Pfunds, die dadurch ausgelöste Inflation sowie das Schwinden der Devisenreserven der libanesischen Zentralbank haben zu erheblichen Engpässen bei der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, Medikamenten, Strom und Treibstoff geführt (BfA, Länderinformationsblatt Libanon, 1. März 2023, S. 59 ff.; Auswärtiges Amt, Lagebericht Libanon, 5. Dezember 2022, S. 23; Schweizerische Flüchtlingshilfe, 23. März 2022, S. 5 ff.; BAMF, Briefing Notes 22. Mai 2023, 15. Mai 2023, 24. April 2023, 17. April 2023, 3. April 2023, 27. März 2023, 20. März 2023; 16. Januar 2023; 21. November 2022, 31. Oktober 2022, 29. August 2022, 8. August 2022, 27. Juni 2022, 20. Juni 2022, 30. Mai 2022,23. Mai 2022, 14. März 2022, 7. März 2022, 10. Januar 2022; Süddeutsche Zeitung, 6. Februar 2023, Land im freien Fall; FAZ, 6. Februar 2023, Im Land der schlafenden Hunde). Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen zählt den Libanon zu den 20 am schwersten betroffenen Hungerregionen der Welt (Schweizerische Flüchtlingshilfe, 23. März 2022, S. 6) und geht – gemeinsam mit der Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) und dem libanesischen Landwirtschaftsministerium – davon aus, dass rund zwei Millionen Menschen – bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 5,6 Millionen Menschen – auf Unterstützung bei der Lebensmittelversorgung angewiesen sind (BAMF Briefing Notes 23. Januar 2023; BfA, Länderinformationsblatt Libanon, 1. März 2023, S. 61; vgl. auch Auswärtiges Amt, Lagebericht Libanon, 5. Dezember 2022, S. 23). Die Preissteigerung für Lebensmittel betrug im Jahr 2022 243 % (BAMF Briefing Notes 13. Februar 2023), nachdem sich die Preise im Vorjahr verdreifacht hatten (BAMF Briefing Notes 15. Mai 2023, vgl. auch American University Beirut, Lebanon Food Security Portal – Food Security Brief #22, 7. Januar 2022 und #14, 7. Mai 2021). Der Krieg in der Ukraine hat die Lebensmittelknappheit im Libanon noch einmal deutlich verschärft. Das Land importiert Lebensmittel zu über 80 % (BAMF Briefing Notes, 7. März 2022), rund 60 % der Weizeneinfuhren stammten in der Vergangenheit aus der Ukraine (BAMF Briefing Notes 28. Februar 2022). Der Libanon ist inzwischen auf Nahrungsmittellieferungen des Welternährungsprogramms angewiesen (BAMF Briefing Notes 28. März 2022). Grundnahrungsmittel sind infolgedessen für viele Menschen unerschwinglich geworden. Der Preis für Weizenmehl hat sich seit Beginn des Krieges in der Ukraine verdreifacht (BAMF Briefing Notes 8. August 2022). Libanon ist derzeit das am stärksten von Lebensmittelinflation betroffene Land der Welt (BAMF Briefing Notes 15. Mai 2023). Die überwiegende Mehrheit der Waren und Dienstleistungen muss inzwischen in US-Dollar bezahlt werden (BAMF Briefing Notes 3. April 2023, 20. März 2023, 20. Februar 2023). Hunger und der Verzicht auf Mahlzeiten ist inzwischen auch bei libanesischen Staatsangehörigen und sogar bei Kindern verbreitet (BfA, Länderinformationsblatt Libanon, 1. März 2023, S. 60 f.).

Zudem haben Treibstoff- und Stromknappheit zu einer schweren Krise der öffentlichen Wasserversorgung geführt. Insbesondere Flüchtlinge haben häufig keinen Zugang zu teuren alternativen Wasserquellen und sind mitunter gezwungen, auf unsauberes Wasser zurückzugreifen. Es kam zu einem Cholera-Ausbruch, der inzwischen offenbar unter Kontrolle gebracht wurde (Schweizerische Flüchtlingshilfe, 23. März 2022, S. 6 f.; taz, Die Cholera ist unter Kontrolle, 14. Dezember 2022; BAMF Briefing Notes 15. November 2022, 7. November 2022, 31. Oktober 2022, 24. Oktober 2022).

Das UNRWA und die von dessen Leistungen abhängigen palästinensischen Flüchtlinge im Libanon sind von dieser negativen Entwicklung in besonderer Weise betroffen (BfA, Länderinformationsblatt Libanon, 1. März 2023, S. 61; BAMF Briefing Notes 24. Oktober 2022; Schweizerische Flüchtlingshilfe, 23. März 2022, S. 13; UNRWA, Palestine Refugees in Lebanon: Struggling to survive, 18. Januar 2022, S. 4; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Libanon: sozioökonomische Lage von palästinensischen Flüchtlingen, 29. Juni 2021, S. 5). Nach einer Umfrage des UNRWA im Juli 2021 haben 58 % bzw. 56 % der palästinensischen Familien im Libanon die Zahl oder den Umfang ihrer Mahlzeiten reduziert. Ein Viertel der erwachsenen Familienangehörigen hat zugunsten der Kinder weniger gegessen (UNRWA, Palestine Refugees in Lebanon: Struggling to Survive, 18. Januar 2022).

cc. Bei dieser Sachlage geht das Gericht davon aus, dass es beachtlich wahrscheinlich ist, dass die Klägerin und ihr in diesem Zusammenhang mit in den Blick zu nehmender Ehemann aufgrund ihrer individuellen Situation bei einer Rückkehr in den Libanon nicht in der Lage sein werden, das absolute Existenzminimum – insbesondere ausreichende Ernährung und Versorgung mit Trinkwasser – für sich und ihre zwei minderjährigen Kinder – Mariam und Ahmad – zu sichern und ihnen ein Zustand der Verelendung droht.

(1) Zwar ist davon auszugehen, dass die Klägerin mit ihrer Familie im Falle der Rückkehr in den Libanon jedenfalls vorübergehend Aufnahme bei ihren dort lebenden Familienmitgliedern (Mutter und ein Bruder) oder den dort lebenden Geschwistern ihres Ehemannes (drei Brüder, eine Schwester) finden und daher keine Obdachlosigkeit zu befürchten hat. Zudem hat sie angegeben, ihre seit diesem Jahr in den USA lebende Schwester verfüge noch über eine Wohnung im Libanon.

Die Klägerin dürfte jedoch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein, durch eine Erwerbstätigkeit substantiell zur Sicherung des absoluten Existenzminimums für sich und ihre Familie beizutragen. Zwar handelt es sich bei der Klägerin um eine gesunde Frau mittleren Alters. Allerdings hat sie nach eigenen Angaben keine weiterführende Schule besucht. Zudem ist der Betreuungsbedarf der minderjährigen Kinder zu berücksichtigen. Schließlich dürfte die Klägerin erhebliche Schwierigkeiten haben, überhaupt eine Arbeitsstelle zu finden. Für Palästinenser im Libanon gibt es hinsichtlich der Berufsausübung rechtliche Hindernisse und gesellschaftliche Diskriminierung. So sind sie z.B. von der Ausübung zahlreicher Berufe ausgeschlossen und es wird von ihnen stets eine Arbeitserlaubnis verlangt (BfA, Länderinformationsblatt Libanon, 1. März 2023, S. 56 f.; Auswärtiges Amt, Lagebericht Libanon, 5. Dezember 2022, S. 12). Ein Vorstoß des Arbeitsministers, die Beschränkungen für im Libanon geborene und registrierte Palästinenser zu lockern, blieb erfolglos (BfA, Länderinformationsblatt Libanon, 1. März 2023, S. 57). Somit kommen vorwiegend ungelernte, einfache (körperliche) Tätigkeiten für die Klägerin in Betracht. Die Arbeitslosigkeit in den Flüchtlingslagern ist mittlerweile auf 90 % angestiegen, die Anzahl der Arbeitsstellen ist – auch coronabedingt – erheblich zurückgegangen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, 23. März 2022, Seite 14). Die Arbeitslosigkeit unter Libanesen lag im Jahr 2022 bei ca. 30 %, unter libanesischen Jugendlichen bei rund 48 %. De facto dürfte die Unterbeschäftigung im Libanon noch sehr viel höher sein (Auswärtiges Amt, Lagebericht Libanon, 5. Dezember 2022, S. 23). Eine Umfrage im Jahr 2022 ergab, dass nur knapp 34,84 % der befragten Libanesen durchgehend erwerbstätig sind, während 17,74 % einer Gelegenheitsarbeit nachgehen (BfA, Länderinformationsblatt Libanon, 1. März 2023, S. 60).

Das Gericht ist davon überzeugt, dass durch – die demnach allenfalls noch für die Klägerin erreichbaren – Gelegenheitsarbeiten ein substantieller Beitrag zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe des absoluten Existenzminimums für eine vierköpfige Familie im Libanon gegenwärtig nicht erzielt werden kann.

Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch nicht unter der Berücksichtigung des Umstandes, dass der Ehemann der Klägerin bei einer gemeinsamen Rückkehr einer Erwerbstätigkeit nachgehen könnte und als libanesischer Staatsangehöriger nicht den rechtlichen Beschränkungen für Palästinenser unterliegt. Er lebt seit 1998 in Deutschland und dürfte mit den Gegebenheiten im Libanon nur noch eingeschränkt vertraut sein. Vor seiner Ausreise nach Deutschland hat er nach eigenen Angaben im Libanon als Tagelöhner gearbeitet, zum Beispiel in einer Ziegelei. In Deutschland arbeitet er gegenwärtig als Reinigungskraft in einem Altenheim. Für ihn dürften nach einer Rückkehr in den Libanon daher ebenfalls ausschließlich einfache körperliche Arbeiten in Betracht kommen. Wie vorstehend bereits ausgeführt, ist die Arbeitsmarktlage auch für libanesische Staatsangehörige prekär. Der 50jährige Kläger stünde zudem in Konkurrenz mit deutlich jüngeren Arbeitskräften. Schließlich dürfte er – außer seinen Geschwistern – nicht über ein soziales Netzwerk im Libanon verfügen. Im Ergebnis geht das Gericht davon aus, dass der Ehemann der Klägerin zwar eine realistische Chance hätte, durch Gelegenheitsarbeiten bzw. einfache körperliche Tätigkeiten ein Erwerbseinkommen zu erzielen, dies jedoch aufgrund der gegenwärtigen Lage nicht dauerhaft verlässlich und lediglich in einem Umfang, der zur Sicherung des absoluten Existenzminimums einer vierköpfigen Familie mit zwei Kindern im Grundschulalter nicht ausreicht. Angesichts der beschriebenen allgemeinen und individuellen Bedingungen hält es der Einzelrichter auch für beachtlich wahrscheinlich, dass der Ehemann der Klägerin durch ein für ihn erzielbares Erwerbseinkommen das absolute Existenzminimum zwar teilweise, aber nicht in einem Umfang sichern könnte, so dass ergänzt durch erreichbare familiäre, staatliche oder karitative Unterstützungsleistungen (zu deren Verfügbarkeit noch im Folgenden) das absolute Existenzminimum vollständig gesichert wäre.

(2) Die Klägerin kann hinsichtlich der Sicherung des Existenzminimums ihrer Familie auch nicht oder nur sehr eingeschränkt auf familiäre Unterstützungsleistungen verwiesen werden. Zwar leben nach ihren Angaben noch ihre Mutter und ein Bruder im Libanon. Dass diese Familienmitglieder in der Lage wären, durch Unterstützungsleistungen den Lebensunterhalt einer vierköpfigen Familie maßgeblich zu sichern, hat die Klägerin nicht vorgetragen und ist auch sonst nicht ersichtlich. Das Gleiche gilt für die drei Brüder und eine Schwester des Ehemanns der Klägerin, die nach seinen Angaben im Libanon leben. Angesichts der beschriebenen Lage, welche sich aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln auch für libanesische Staatsangehörige ergibt, ist das Vorbringen des Ehemannes der Klägerin glaubhaft, dass diese Geschwister nicht in der Lage wären, ihn zu unterstützen. Vielmehr ist nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon auszugehen, dass diese Familienmitglieder ebenso wie ein Großteil der libanesischen Bevölkerung selbst mit drohender Verelendung zu kämpfen haben.

Auch die in Deutschland lebenden Geschwister der Klägerin – zwei Brüder, zwei Schwestern – sowie des Ehemanns der Klägerin – zwei Brüder – sowie die in den USA lebende Schwester der Klägerin dürften allenfalls zu einer punktuellen Unterstützung in der Lage sein. Zwar soll einer der Schwager der Klägerin gut situiert, aber nicht hilfsbereit sein. Es kann jedoch dahingestellt, bleiben, ob die Klägerin und ihr Ehemann darauf verwiesen werden könnten, diesen Bruder zu Unterstützungsleistungen zu bewegen. Eine Unterstützung durch im Ausland lebende Familienangehörige ist in Anbetracht der im libanesischen Bankensystem „eingefrorenen Konten“ (BfA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Libanon, 1. März 2023, Seite 60) faktisch kaum möglich (vgl. zu dieser Bewertung auch VG Dresden, Urteil vom 15. Dezember 2021 - 11 K 359/19.A -, juris Rn. 45; VG Hamburg, Urteil vom 9. September 2021 - 14 A 6163/21 -, juris Rn. 51). Zuletzt häufen sich im Libanon Banküberfälle mit dem Ziel, das eigene Guthaben – insbesondere in US-Dollar – abzuheben (BfA, a.a.O.; BAMF Briefing Notes 16. Januar 2023, 6. Dezember 2022, 28. November 2022, 7. November 2022).

(3) Auch unter Berücksichtigung der der Klägerin dem Grunde nach zustehenden Unterstützungsleistungen des UNRWA ist eine Befriedigung des absoluten Existenzminimums ihrer Familie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten. Dabei ist bereits fraglich, ob auch die beiden Kinder und der Ehemann als libanesische Staatsangehörige diese Hilfsleistungen beanspruchen könnten. Während dem Gericht aus seiner Praxis Fälle bekannt sind, in denen die libanesische Ehefrau eines UNRWA-Palästinensers mit auf der UNRWA-Karte registriert worden ist, ist dies bei dem Ehemann und den Kindern tatsächlich nicht der Fall und dürfte auch nicht möglich sein, weil – anders als im umgekehrten Fall – davon ausgegangen werden wird, dass der libanesische Ehemann grundsätzlich in der Lage ist, seine staatenlose, palästinensische Ehefrau mit zu versorgen.

Letztlich kann dies jedoch dahingestellt bleiben. Wie dargelegt, sind die Unterstützungsleistungen des UNRWA aufgrund mangelnder finanzieller Mittel sehr beschränkt. Das UNRWA beschreibt im Januar 2022, dass die Fähigkeit des Hilfswerks, die Schutz- und Hilfsfunktion aufrecht zu erhalten und auszubauen sowie qualitativ hochwertige Dienstleistungen zu erbringen, ständig gefährdet sei (Schweizerische Flüchtlingshilfe, 23. März 2022, Seite 13). So bekämen die meisten palästinensischen Flüchtlinge im Libanon keine regelmäßige monatliche finanzielle Hilfe von UNRWA. Eine Ausnahme seien etwa 62.000 Menschen, die als „extrem gefährdet“ gelten und den Gegenwert von 130 Dollar pro Jahr erhielten. Der Betrag von 130 Dollar pro Jahr werde als sehr klein bewertet, auch im Vergleich zu den bereits geringen Beträgen, von denen andere arme libanesische Bevölkerungsteile leben müssten. Zudem könnten vierteljährlich Sachleistungen in Form von Nahrungsmitteln und Bargeld zur Verfügung gestellt werden; außerdem habe UNRWA im Jahr 2021 eine einmalige Bargeldunterstützung i.H.v. 40 US-Dollar für besonders bedürftige Menschen gewährt. Ob sich weitere geplante Hilfsprogramme trotz der knappen Ressourcen von UNRWA tatsächlich umsetzen ließen, sei offen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, a.a.O., Seite 16).

(4) Unterstützungsleistungen durch den libanesischen Staat dürften für den Ehemann der Klägerin nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erreichbar sein. Es besteht lediglich ein rudimentäres System der sozialen Sicherung in Form des Nationalen Armutsprogramms (NPTP). Derzeit erhalten darüber lediglich knapp 64.000 Familie Nahrungsmittelhilfe i.H.v. 20 USD pro Kopf und Monat. Es war geplant, die Anzahl der Haushalte im Jahr 2023 auf 75.000 zu erhöhen. Es existiert weder eine allgemeine Arbeitslosen- noch eine Rentenversicherung. Wesentliches Element sozialer Sicherung ist die Familie, daneben karitative und religiöse Einrichtungen. Während der Covid-19-Pandemie initiierte die Regierung außerdem das Programm Emergency Social Safety Net (ESSN), das mit einem Weltbankdarlehen in Höhe von 246 Millionen USD für drei Jahre finanziert wurde, um den Schutz und die Bereitstellung von Sozialleistungen für extrem arme Haushalte auszuweiten. Die Einführung des Programms begann im März 2022 mit dem Ziel, bis 2025 786.000 Personen, etwa 11,6 % der Bevölkerung, mit Bargeld zu unterstützen. Die Einführung eines weiteren sozialen Sicherungsprogramms „ratio card“-System der Regierung für etwa 500.000 Haushalte wurde 2021 angekündigt, aber bislang nicht umgesetzt. (BfA, Länderinformationsblatt Libanon, 1. März 2023, S. 62 f.; Auswärtiges Amt, Lagebericht Libanon, 5. Dezember 2023, S. 23). Die jüngsten Zusagen für internationale Hilfen für die Bevölkerung des Libanon (EU, BAMF Briefing Notes 16. Januar 2023, 6. Dezember 2022; World Food Programme, BAMF Briefing Notes 28. November 2022; USAID, BAMF Briefing Notes 15. November 2022; Weltbank, BAMF Briefing Notes 31. Oktober 2022) zeigen jedoch, dass erhebliche Teile der Bevölkerung des Libanon gegenwärtig nicht in der Lage sein dürften, ihr absolutes Existenzminimum hinsichtlich Nahrung und Trinkwasser selbstständig zu sichern.

(5) Die staatlichen Unterstützungsleistungen im Rahmen des GARP/REAP Programms der Bundesregierung können im individuellen Fall der Klägerin und ihrer Familie nicht dazu führen, dass sie ihr Existenzminimum im Libanon wird sichern können. So können diese Hilfen insbesondere angesichts des inflationsbedingt extrem hohen Preisniveaus nicht als alleinige Lebensgrundlage dienen (vgl. zu dieser Bewertung auch VG Hamburg, Urteil vom 9. September 2021 - 14 A 6163/21 -, juris Rn. 51). Es ist daher im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 21. April 2022 - 1 C 10.21 -, juris Rn. 25) beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen nicht in der Lage sein wird, die elementarsten Bedürfnisse für sich und ihre Familie über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen.

Die Klägerin kann den Schutz und Beistand des UNRWA auch in keinem anderen Operationsgebiet (Gazastreifen, Westjordanland, Jordanien und Syrien) in Anspruch nehmen.  Bezugspunkte zu einem dieser Einsatzgebiete wurden von den Beteiligten weder vorgetragen noch sind diese sonst ersichtlich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidungen zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruhen auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.