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Entscheidung 2 U 1/23


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 2. Zivilsenat Entscheidungsdatum 28.08.2023
Aktenzeichen 2 U 1/23 ECLI ECLI:DE:OLGBB:2023:0828.2U1.23.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Potsdam – Einzelrichterin – vom 16. Dezember 2022 zum Aktenzeichen 4 O 343/20 aufgehoben, soweit es die Klage gegen die Beklagte betrifft.

2. Die gegen die Beklagte gerichtete Klage ist dem Grunde nach gerechtfertigt.

3. Die Beklagte ist verpflichtet, die Klägerin von denjenigen künftigen immateriellen und materiellen Schäden aufgrund des Unfalls vom 23. Januar 2017 an der Nordwestseite des Platzes E. in P., genauer: Ostseite der F.-Straße, an der Bushaltestelle (Busspur aus Richtung Bahnhof) freizustellen, die nicht von den untenstehenden Anträgen zu 1 und 2 der Klägerin erfasst sind, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

4. Für das Betragsverfahren wird die Sache zur weiteren Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Berufung, an das Landgericht Potsdam zurückverwiesen.

5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Beschluss

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 27.569,20 € festgesetzt.

Gründe

I.

Die Klägerin begehrt Schmerzensgeld und Schadensersatz nach einem Glatteisunfall im Bereich der vergleichsweise stark frequentierten Straßenbahn- und Bushaltestelle Platz E. West im Zentrum P.´s. Nach mittlerweile rechtskräftiger Abweisung ihrer Klage gegen den Verkehrsbetrieb steht nur noch die Haftung der Stadt – als jetzt alleinige Beklagte – in Rede.

Am 23. Januar 2017 warnte der Deutsche Wetterdienst um 06:30 Uhr vor Dauerfrost und vereinzelt strengem Frost. Örtlich bestehe Glättegefahr wegen überfrierendem Nebel, Schneegriesel und gefrierendem Sprühregen; örtliches Glatteis sei wenig wahrscheinlich. Um 10:30 Uhr wiederholte er diese Einschätzung. Um 14:30 Uhr und um 17:30 Uhr warnte er vor Glättegefahr; örtliches Glatteis wurde nicht mehr ausgeschlossen. Um 17:59 Uhr gab er eine amtliche Warnung vor Glätte durch überfrierende Nässe sowie geringfügigen Schneefall aus, um 21:09 Uhr sowie 22:29 Uhr eine amtliche Warnung vor Glatteis aufgrund von gefrierendem Regen oder Sprühregen. In der Stunde vor 21 Uhr wurde an einer zwei Kilometer von der Haltestelle entfernten Wetterstation – als einzigem Niederschlag des Tages – 0,1 mm Niederschlag gemessen; die Lufttemperatur betrug durchgehend zwischen -4,9 und -2,4 °C. Nach den „Augenbeobachtungen“ des DWD fielen den ganzen Tag über immer wieder Schneegriesel und Schneeflocken sowie ab 20:12 Uhr leichter Sprühregen mit Glatteisbildung.

Die Klägerin stieg ihrem Vortrag zufolge gegen 21:45 Uhr an der Haltestelle aus der Straßenbahn und ging zur dortigen Bushaltestelle über die Straße. Die Straßenbahnplattform sei ebenso problemlos zu nutzen gewesen wie die Busspur zu überqueren. Der Bürgersteig an der Bushaltestelle sei dagegen so glatt gewesen, dass sie nach zwei bis drei Schritten ausgerutscht und gestürzt sei. Sie habe sich mit einer Oberarmkopffraktur rechts eine schwere Schulterverletzung zugezogen, die operativ versorgt habe werden müssen und noch immer mit Schmerzen verbunden sei. Ihr sei ein mit 4.140 € zu bemessender Haushaltsführungsschaden entstanden, da sie fünf Monate lang nicht zur Haushaltsführung in der Lage gewesen sei. Ihren verletzungsbedingten Verdienstausfall beziffert sie mit 4.382,40 €. An weiteren materiellen Schäden macht sie gesamt 4.021,80 € geltend, sowie eine Unfallpauschale von 25 €.

Das Landgericht hat die Klage durch Urteil vom 16. Dezember 2022 abgewiesen, auf dessen tatsächlichen Feststellungen im Übrigen gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen wird. Zur Begründung heißt es, zwar stehe nach der Beweisaufnahme fest, dass die Klägerin wie von ihr angegeben zu Fall gekommen sei und sich die behaupteten Verletzungen zugezogen habe. Auch sei die Beklagte als Stadt verkehrssicherungspflichtig für die Sturzstelle auf dem Bürgersteig ungeachtet der Einschränkung in der Straßenreinigungssatzung, nach der Haltestellen nicht zu den Gehwegen im Sinne der Satzung zähle. Die Klägerin habe aber nicht nachgewiesen, dass die Unterlassung gebotener Maßnahmen zur Umsetzung der Verkehrssicherungspflicht zu dem Sturz geführt habe. Der Anscheinsbeweis spreche nur dann für die Unfallursächlichkeit der Verletzung der Pflicht, wenn der Sturz nicht erst längere Zeit nach dem Ende der Streupflicht eingetreten ist. Die Streupflicht ende nach der maßgeblichen Satzung um 20 Uhr. Dass zu diesem Zeitpunkt schon zu streuen gewesen wäre, ergebe sich aus den Wetterdaten nicht. Erst 21:09 Uhr habe es eine Warnung vor Glatteis gegeben. Auch an einem Verkehrsschwerpunkt sei dem Sicherungspflichtigen eine gewisse Reaktionszeit zuzubilligen. Ohnehin könne vom Pflichtigen nicht sinnloses Tätigwerden verlangt werden, insbesondere kein Abstumpfen während andauerndem überfrierendem Nieselregen.

Das am 16. Dezember 2022 verkündete Urteil ist der Klägerin am 30. Dezember 2022 zugestellt worden. Sie hat am 16. Januar 2023 Berufung erhoben und diese am 13. Februar 2023 begründet.

Die Klägerin ist der Auffassung, die Streupflicht der Beklagten habe an der zentralen Straßenbahn- und Bushaltestelle als vergleichsweisem Verkehrsschwerpunkt auch nach der in der Satzung bestimmten allgemeinen Zeitgrenze bestanden. Die Gefahr sei auch nicht erst wenige Minuten vor dem Sturz entstanden, sondern habe sich schon seit längerer Zeit angekündigt, jedenfalls ab 18:00 Uhr und spätestens ab 21:09 Uhr. Bei zweifelhafter Kausalität hätte ein Sachverständigengutachten eingeholt werden müssen. Bei fortdauerndem Niederschlag entfalle die Sicherungspflicht nicht, sondern verstärke sich vielmehr, wenn das Streugut die Gefahr des Auszurutschens wenigstens vermindern könne. Gegebenenfalls ist mehrfach hintereinander zu streuen. Für die Sinnlosigkeit derartiger Bemühungen sei der Pflichtige beweisbelastet.

Die Klägerin beantragt der Sache nach:

1. Die Beklagte wird unter Abänderung des am 16.12.2022 verkündeten Urteils des Landgerichts Potsdam (4 O 343/20) verurteilt, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld, welches in das Ermessen des erkennenden Gerichts gestellt wird, das einen Betrag i. H. v. 10.000 € jedoch nicht unterschreiten sollte, nebst Zinsen i. H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit 23.1.2017, hilfsweise seit Rechtshängigkeit, zu zahlen;

2. Die Beklagte wird unter Abänderung des am 16.12.2020 verkündeten Urteils des Landgerichts Potsdam (4 O 343/20) verurteilt, an die Klägerin weitere 12.569,20 € nebst Zinsen i. H. v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit 23.1.2017, hilfsweise seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

3. Es wird unter Abänderung des am 16.12.2022 verkündeten Urteils des Landgerichts Potsdam (4 O 343/20) festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin von künftigen immateriellen und materiellen Schäden aufgrund des Unfalls vom 23.1.2017 an der Nordwestseite des Platzes E. in P., genauer: Ostseite der F.-Straße, an der Bushaltestelle (Busspur aus Richtung Bahnhof) freizustellen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger und sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden;

4. Die Beklagte wird unter Abänderung des am 16.12.2022 verkündeten Urteils des Landgerichts Potsdam (4 O 343/20) verurteilt, die Klägerin von vorgerichtlichen Anwaltskosten i. H. v. 691,33 € nebst Zinsen i. H. v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zur Zahlung an Rechtsanwalt … freizustellen

hilfsweise Aufhebung des landgerichtlichen Urteils und Zurückverweisung.

Die Beklagte beantragt

die Zurückweisung der Berufung.

Sie ist weiterhin der Auffassung, sie sei nach ihrer Straßenreinigungssatzung für die Haltestellen nicht sicherungspflichtig. Deren Herausnahme aus dem Begriff des Gehweges stehe der Übertragung auf den Verkehrsbetrieb als Betreiber der Haltestellen und denjenigen gleich, der den Verkehr dort eröffne. Eine Doppelzuständigkeit sei weder praktikabel noch haftungsrechtlich wünschenswert. Die Angaben der Klägerin zu ihrer Verkehrszählung seien richtigerweise mit Nichtwissen bestritten worden. Die Klage sei aber im Ergebnis insgesamt zu Recht abgewiesen worden. Nach 20 Uhr habe für sie keine Streupflicht mehr bestanden. Die Haltestelle sei kein absoluter Verkehrsknotenpunkt, für den anderes gelten möge. Ein Tätigwerden binnen einer halben Stunde nach Auftreten der Glätte sei ihr nicht zuzumuten gewesen.

Der Senat hat die Sache nach Anhörung der Parteien mit Beschluss vom 19. Juni 2023 auf den Einzelrichter übertragen.

II.

Die zulässige Berufung, soweit sie noch geführt wird, ist begründet. Das Landgericht hat die gegen sie gerichtete Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Klägerin steht gegen die Beklagte dem Grunde nach ein Anspruch auf Schadensersatz zu. Zur Höhe des Schmerzensgeldes und der geltend gemachten materiellen Schäden ist der Rechtsstreit noch nicht entscheidungsreif. Insoweit bedarf es der ‒ beantragten ‒ Zurückverweisung gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 ZPO.

1.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte zu 1 einen Anspruch aus Amtshaftung, § 839 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG. Voraussetzung der auf die Körperschaft übergeleiteten Haftung ist, dass ein Beamter im haftungsrechtlichen Sinne in Ausübung eines ihm von der Beklagten anvertrauten Amtes schuldhaft eine der Klägerin gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt und so der Klägerin einen Schaden verursacht hat, für den sie – bei nur fahrlässigem Handeln des Beamten – nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag.

Diese Voraussetzungen liegen vor.

a)

aa)

Zu den die Beklagte treffenden Amtspflichten gehört insbesondere das Gebot, Dritten gegenüber keine unerlaubten Handlungen im Sinne der §§ 823 ff BGB zu begehen, mithin tatbestandliche und rechtswidrige Eingriffe in die Rechte, Rechtsgüter oder rechtlich geschützten Interessen des Bürgers zu unterlassen. Dem Beamten obliegt daher unter anderem die Einhaltung einer kraft Gesetzes öffentlich-rechtlich ausgestalteten Verkehrssicherungspflicht, namentlich der Straßenverkehrssicherungspflicht (BGH, Urteil vom 18. Dezember 1972 – III ZR 121/70, BGHZ 60, 54 = NJW 1973, 460; Reinert, in: Beck‘scher Online-Kommentar zum BGB, 65. Edition mit Stand 1. Februar 2023, § 839 BGB Rdnr. 70). Das ist in Brandenburg der Fall (Senat, Beschluss vom 26. Oktober 2020 – 2 U 103/20 –, Rdnr. 7 bei juris): Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 des Brandenburgischen Straßengesetzes (BbgStrG) obliegen die mit dem Bau und der Unterhaltung sowie der Erhaltung der Verkehrssicherheit der Straßen einschließlich der Bundesfernstraßen zusammenhängenden Aufgaben den Bediensteten der damit befassten Körperschaften als Amtspflichten in Ausübung hoheitlicher Tätigkeit.

Daneben verpflichtet § 49a Abs. 1 BbgStrG die Beklagte als Gemeinde zur Reinigung aller öffentlichen Straßen innerhalb der geschlossenen Ortslage; dies umfasst nach Absatz 2 die Verpflichtung der Gemeinden, die Gehwege und Fußgängerüberwege vom Schnee zu räumen und bei Glätte zu streuen. Obzwar diese – ohne weiteres hoheitlich aufzufassende (vgl. Senat, Urteil vom 30. September 2014 – 2 U 7/14 –, Rdnr. 34 bei juris; Urteil vom 2. März 2010 – 2 U 6/08 –, MDR 2010, 809, Rdnr. 24 bei juris; Urteil vom 5. August 2008 – 2 U 15/07 –, VersR 2009, 221, Rdnr. 14 bei juris) „ordnungsmäßige Reinigungspflicht“ der „verkehrsmäßigen Reinigungspflicht“ ausweislich Absatz 1 Satz 4 der Vorschrift vorgeht, gelten für sie keine anderen Maßstäbe. Ihre Art und ihr Umfang richten sich gemäß Absatz 1 Satz 3 nach den örtlichen Erfordernissen und gemäß Absatz 4 Satz 2 nach Maßgabe der Leistungsfähigkeit der Gemeinde. Hierüber hinausgehende Leistungspflichten bestehen weder für die Gemeinde noch können solche kraft Satzung den Anliegern oder sonstigen Grundeigentümern auferlegt werden (Senat, Urteil vom 30. September 2014 – 2 U 7/14 –, Rdnr. 36 bei juris; Urteil vom 5. August 2008 – 2 U 15/07 –, VersR 2009, 221; Urteil vom 5. August 2008 – 2 U 15/07 –, VersR 2009, 221, Rdnr. 14 bei juris; BGH, Urteil vom 14. Februar 2017 – VI ZR 254/16 –, NJW-RR 2017, 858 = MDR 2017, 454 Rdnr. 9; Urteil vom 23. Juli 2015 – III ZR 86/15 –, VersR 2016, 63 = MDR 2015, 1001, Rdnr. 12 ff).

bb)

Die Beklagte hat die originär sie treffende Pflicht weder durch Satzung noch kraft Vertrages in einer Weise auf die vormalige Beklagte zu 2, den Verkehrsbetrieb, übertragen, die sie von ihrer eigenen Pflichtenstellung befreite.

Die Straßenreinigungssatzung der Beklagten vom 9. November 2015 überträgt die Reinigungspflicht für die Haltestellen nicht dem Verkehrsbetrieb. Hierfür besteht schon keine Rechtsgrundlage. Nach § 49a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 BbgStrG sind die Gemeinden berechtigt, durch Satzung die Winterdienstpflicht nach § 49a Abs. 2 Satz 1 BbgStrG ganz oder teilweise den Eigentümerinnen und Eigentümern der erschlossenen Grundstücke aufzuerlegen. Der Verkehrsbetrieb gehört nicht zu dieser Gruppe. Ihn soll die Reinigungspflicht auch nicht wegen der Begünstigung treffen, die mit der Erschließung seiner Grundstücke durch die Straße verbunden wäre, sondern vielmehr wegen der auf ihn zurückzuführenden Verkehrseröffnung an den Haltestellen. § 2 der Satzung setzt dies um. Zudem beschränkt sich die Satzung hinsichtlich der Haltestellen auf ihre Herausnahme aus dem Begriff des Gehwegs, § 1 Abs. 4 Anstrich 3 der Satzung. Eine Übertragung der Reinigungspflicht insoweit enthält sie in keiner Weise. Damit verbleibt die Reinigungspflicht bei der Beklagten als Gemeinde, § 49a Abs. 4 Satz 2 BbgStrG.

Auch vertraglich hat die Beklagte die Verpflichtung nicht haftungsbefreiend auf den Verkehrsbetrieb übertragen.

Anerkanntermaßen ist es rechtlich möglich und auch zulässig, Verkehrssicherungspflichten auf Dritte zu übertragen, wobei es im Ergebnis unerheblich ist, ob dies als echte Delegation der Verkehrssicherungspflicht aufzufassen ist oder als deren Erfüllung durch Einschaltung eines – dann nach allgemeinen Regeln haftenden – Dritten. Das gilt auch für die als Amtspflicht ausgestaltete Verkehrssicherungspflicht der öffentlichen Hand. Nach den insoweit auch für sie geltenden allgemeinen Grundsätzen kann eine Übertragung den originär Verkehrssicherungspflichtigen nur dann entlasten, wenn sie umfassend und eindeutig ist und keine Lücken und Unklarheiten lässt. Nur eine eindeutige und vertraglich bindende Übernahme der Sicherungspflichten rechtfertigt es, den an sich Sicherungspflichtigen aus seiner Haftung mit Wirkung gegenüber Dritten zu entlassen und diese mit ihren Haftpflichtansprüchen an den Übernehmer zu verweisen. Der Sicherungspflichtige kann sich daher auf eine Entlastung Dritten gegenüber nur berufen, wenn und soweit sichergestellt ist, dass der Übernehmende kraft Vertrages die Pflichten in gleichem Umfang wahrzunehmen hat wie der originär Sicherungspflichtige selbst. Zweifel hinsichtlich Umfang und Ausgestaltung der Übertragung gehen dabei zu Lasten des Übertragenden, der sich darauf beruft, er habe seinen Sicherungspflichten schon mit der Delegation an einen Dritten und dessen Überwachung genügt. Erfolgt die Übertragung in einem Vertrag, muss dieser klar bestimmen oder wenigstens erkennen lassen, hinsichtlich welcher Bereiche die Übertragung erfolgt und wie diese zu behandeln sind. Auch der zeitliche Rahmen der Räum- und Streupflichten muss sich im Einzelnen aus ihm ergeben. Das kann dadurch erfolgen, dass der Vertrag auf eine Straßenreinigungssatzung verweist, die diese Angaben im Einzelnen enthält (Senat, Urteil vom 12. Februar 2009 – 2 U 10/07 –, VersR 2009, 682; Urteil vom 5. August 2008 – 2 U 15/07 –, VersR 2009, 221).

Die Beklagte hat keinen derartigen Vertrag vorgetragen. Sie hat sich vielmehr auf die seit Jahren gelebte Praxis bezogen, die Grundlage auch der genannten Satzungsbestimmung sei: Für alle Beteiligten selbstverständlich obliege dem Verkehrsbetrieb die Sicherung der Haltestellen auch hinsichtlich des Winterdienstes. Das ist keine klare und eindeutige Übertragung der Verpflichtung im genannten Sinne.

cc)

Dass auch der zunächst ebenfalls beklagte Verkehrsbetrieb verkehrssicherungspflichtig für die von ihm betriebenen und unterhaltenen Haltestellen sein mag, an denen er den Verkehr maßgeblich eröffnet, ändert hieran nichts. Zwar gilt auch für ihn, dass derjenige, der Gefahrenquellen schafft, auch die notwendigen Vorkehrungen zum Schutze anderer zu treffen hat. Das ist bei dem Betrieb der Haltestellen und des Nahverkehrs der Fall. Entsprechend muss er im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren die Sicherheit ihrer Passagiere auch an den Haltestellen sichern (vgl. BGH, Urteil vom 13. Juli 1967 – III ZR 165/66 –, MDR 1967, 822 = VersR 1967, 981, Rdnr. 20 bei juris). Allerdings beseitigt diese Sicherungspflicht des Unternehmers nicht die des für die Fläche als solche Verantwortlichen, sondern tritt nur neben sie. Denn bei der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht, zu der auch die Streupflicht gehört, gilt der Grundsatz, dass der Verkehrssicherungspflichtige nicht dadurch von seiner Pflicht befreit wird, dass ein anderer die Gefahr verursacht und deshalb seinerseits zur Beseitigung der Gefahr verpflichtet ist (Senat, Urteil vom 30. September 2014 – 2 U 7/14 –, Rdnr. 36 bei juris, unter Verweis auf BGH ebd.)

b)

Der Inhalt der Straßenverkehrssicherungspflicht geht dahin, die öffentlichen Verkehrsflächen – wie alle sonstigen einem Verkehr eröffneten Räume oder Sachen – möglichst gefahrlos zu gestalten und zu erhalten, sowie im Rahmen des Zumutbaren alles zu tun, um den Gefahren zu begegnen, die den Verkehrsteilnehmern aus einem nicht ordnungsgemäßen Zustand der Verkehrsflächen drohen (BGH, Urteil vom 18. Dezember 1972 – III ZR 121/70, BGHZ 60, 54 = NJW 1973, 460). Das erfordert nicht, dass die Straße praktisch völlig gefahrlos sein muss. Das ist mit zumutbaren Mitteln nicht zu erreichen und kann deshalb von dem Verkehrssicherungspflichtigen nicht verlangt werden. Vielmehr muss sich auch der Straßenbenutzer den gegebenen Straßenverhältnissen anpassen und die Straße so hinnehmen, wie sie sich ihm erkennbar darbietet. Der Verkehrssicherungspflichtige muss dagegen in geeigneter und in objektiv zumutbarer Weise alle, aber auch nur diejenigen Gefahren ausräumen und erforderlichenfalls vor ihnen warnen, die für den Benutzer, der die erforderliche Sorgfalt walten lässt, nicht erkennbar sind und auf die er sich nicht einzurichten vermag. Ob danach eine Straße in einem dem regelmäßigen Verkehrsbedürfnis entsprechenden Zustand ist, entscheidet sich im Einzelnen nach der allgemeinen Verkehrsauffassung. Art und Häufigkeit der Benutzung des Verkehrsweges und seine Bedeutung sind dabei zu berücksichtigen (Reinert ebd. Rdnr. 51 m. w. N.; Senat, Urteil vom 17. Juli 2012 – 2 U 56/11, DAR 2012, 578 = BeckRS 2012, 15693; KG, Urteil vom 30. November 2018 – 9 U 22/17 –, NJ 2019, 67, Rdnr. 21 bei juris).

Das gilt auch für die winterliche Räum- und Streupflicht auf öffentlichen Wegen und Straßen. Sie besteht bei Vorliegen einer allgemeinen Glätte und wird nicht schon durch das Vorhandensein ganz vereinzelter Glättestellen ausgelöst. Ihr Inhalt und ihr Umfang richten sich nach den Umständen des Einzelfalls. Art und Wichtigkeit des Verkehrswegs sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie seine Gefährlichkeit und die Stärke des zu erwartenden Verkehrs. Die Streupflicht besteht also nicht uneingeschränkt. Sie steht vielmehr unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, wobei es auf die Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen ankommt. Dieser hat im Rahmen und nach Maßgabe der vorgenannten Grundsätze durch Bestreuen mit abstumpfenden Mitteln die Gefahren zu beseitigen, die infolge winterlicher Glätte für den Verkehrsteilnehmer bei zweckgerechter Wegebenutzung und trotz Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt bestehen (BGH, Urteil vom 23. Juli 2015 – III ZR 86/15 –, VersR 2016, 63 = MDR 2015, 1001, Rdnr. 10; Urteil vom 12.  Juni 2012 − VI ZR 138/11 –, NJW 2012, 2727; Reinert ebd. Rdnr. 82).

Gehwege innerhalb geschlossener Ortschaften sind nach diesen Maßstäben zu bestreuen, soweit auf ihnen ein nicht unbedeutender Verkehr stattfindet. Die gemeindliche Räum- und Streupflicht gilt demzufolge weder räumlich noch zeitlich uneingeschränkt. Örtlich ist sie auf verkehrswesentliche Bereiche beschränkt. Zeitlich ist sie grundsätzlich auf die Hauptverkehrszeit beschränkt. Wer außerhalb dieses Zeitraums unterwegs ist, muss etwaige Gefahrensituationen als Teil des allgemeinen Lebensrisikos selbst tragen und kann nicht verlangen, dass auch zur Nachtzeit Räum- und Streumaßnahmen durchgeführt werde (Tassarek-Schröder/Rönsberg, in: Rotermund/Krafft, Kommunales Haftungsrecht, 5. Auflage 2013, Rdnr. 649). Sie beginnt prinzipiell allenfalls kurz vor dem Einsetzen des Haupt- und Berufsverkehrs (Reinert ebd. Rdnr. 86 unter Hinweis auf OLG München Beschluss vom 16. April 2012 – 1 U 940/12 –, BeckRS 2012, 11592; Staudinger/J Hager (2021) § 823 BGB Rdnr. E 130). Sie endet abends nach den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten mit dem Ende des allgemeinen Tagesverkehrs. Zu dessen Bestimmung wird teils auf Ortssatzungen zurückgegriffen, die die zeitlichen Grenzen der Anliegerpflicht zur Räumung konkretisieren (J. Hager ebd. Rdnr. E 130). Innerhalb dieser allgemeinen Grenzen ist auch ein vorbeugendes Streuen in dem Sinne erforderlich, dass vor dem Ende der Streupflicht durch Streuen Vorsorge dafür getroffen werden muss, dass es in Kürze absehbar zu gefährlicher Glättebildung kommen wird; die Gefahr muss sich als konkret und naheliegend darstellen (BGH, Urteil vom 12. Juni 2012 – VI ZR 138/11 –, NJW 2012, 2727; Beschluss vom 11. Juli 1985 – III ZR 137/84 –, VersR 1985, 973 = ZfSch 1986, 37; Urteil vom 29. September 1970 – VI ZR 51/69 –, VersR 1970, 1130; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil vom 18. Januar 2007 – 5 U 86/06 –; Tassarek-Schröder/Rönsberg ebd. Rdnr. 641; Rotermund/Krafft, Verkehrssicherungspflichten, 6. Auflage 2016, Rdnr. 163). Eine gesteigerte Sicherungspflicht trifft die Gemeinde bei besonderen Gefahrenstellen, wo regelmäßig oder zu bestimmten Zeiten starker Fußgängerverkehr herrscht. Vornehmlich zu nennen sind hier neben Gasthäusern vor allem Bahnhöfe und Haltestellen. Derartige für Fußgänger besonders verkehrswichtige und gefährliche Stellen müssen vorrangig und nötigenfalls auch wiederholt geräumt und bestreut werden; hiermit verbunden ist die Pflicht zu engmaschigeren Kontrollen zur weiteren Wirksamkeit der getroffenen Sicherungsmaßnahmen (BGH, Urteil vom 1. Juli 1993 – III ZR 88/92 –, NJW 1993, 2802; Urteil vom 27. Januar 1987 – VI ZR 114/86 –, NJW 1987, 2671 = MDR 1987, 656; Beschluss vom 11. Juli 1985 – III ZR 137/84 –, VersR 1985, 973 = ZfSch 1986, 37; Urteil vom 21. Februar 1972 – III ZR 134/68 –, NJW 1972, 903; Urteil vom 21. November 1963 – III ZR 148/62 –, BGHZ 40, 379; Senat, Urteil vom 30. September 2014 – 2 U 7/14 –, Rdnr. 43; Urteil vom 12. Februar 2009 – 2 U 10/07 –, Rdnr. 21 bei juris; Urteil vom 5. August 2008 – 2 U 15/07 –, Rdnr. 25 bei juris; Reinert ebd. Rdnr. 89; J. Hager ebd. Rdnr. E 130; Tassarek-Schröder/Rönsberg ebd. Rdnr. 673; Rotermund/Krafft ebd. Rdnr. 203).

Zur Feststellung einer die Räum- und Streupflicht begründenden Glätte sind die Wettervorhersagen zu beachten und Kontrollfahrten durchzuführen. Bei Auftreten von Glätte im Laufe des Tages ist dem Streupflichtigen eine gewisse Zeit zuzubilligen, um die notwendigen Maßnahmen einzuleiten, so dass das Streuen erst eine angemessene Zeit nach Eintritt der Glätte zu beginnen braucht (BGH, Urteil vom 12. Juni 2012 – VI ZR 138/11 –, NJW 2012, 2727; Beschluss vom 8. März 1990 – III ZR 27/89 –, BeckRS 1990, 31062991, Rdnr. 2 bei juris; Urteil vom 27. November 1984 – VI ZR 49/83 –, NJW 1985, 484 = MDR 1985, 311, Rdnr. 21 bei juris; Senat, Urteil vom 28. September 1999 – 2 U 11/99 –, OLGR Brandenburg 1999, 419 = MDR 2000, 159; Tassarek-Schröder/Rönsberg ebd. Rdnr. 641; Rotermund/Krafft ebd. Rdnr. 163). Das Streuen ist in angemessener Zeit zu wiederholen, wenn das Streugut seine Wirkung verloren hat. Bei nachhaltigem Dauerschneefall oder fortdauerndem eisbildenden Regen darf das Streuen unterbleiben, falls es wirkungslos wäre und die Durchführung von Streumaßnahmen nicht wenigstens wirksame Erleichterungen für den Verkehr bewirken; der Pflichtige braucht keine zwecklosen Maßnahmen zu ergreifen. Das bedeutet aber nicht, dass er bei außergewöhnlichen Glätteverhältnissen regelmäßig von der Streupflicht befreit wäre. Vielmehr erfordern gerade solche Verhältnisse besonders intensive Streumaßnahmen, und zwar auch im Hinblick auf die zeitliche Folge. Es genügt insoweit, dass das Streugut die Gefahr des Ausgleitens wenigstens vermindert, mag seine abstumpfende Wirkung auch durch weitere Eisbildung abgeschwächt werden (BGH, Urteil vom 1. Juli 1993 – III ZR 88/92 –, NJW 1993, 2802 = MDR 1994, 673, Rdnr. 13 bei juris; Beschluss vom 8. März 1990 – III ZR 27/89 –, BeckRS 1990, 31062991, Rdnr. 2 bei juris; Senat, Urteil vom 26. Februar 2008 – 2 U 48/06 –, Rdnr. 29 bei juris; Urteil vom 28. September 1999 – 2 U 11/99 –, OLGR Brandenburg 1999, 419 = MDR 2000, 159; OLG Hamm, Urteil vom 14. Januar 2005 – 9 U 116/03 –, OLGR Hamm 2005, 437 = NZV 2005, 526; OLG Hamburg, Urteil vom 24. März 2000 – 11 U 45/98 –, OLGR Hamburg 2000, 422 m. u. N.; OLG Hamm, Urteil vom 15. Oktober 1981 – 27 U 73/81 –, VersR 1982, 1081; Urteil vom 2. Juli 1996 – 27 U 80/96 –, r + s 1997, 285 = ZfS 1998, 6; Tassarek-Schröder/Rönsberg ebd. Rdnr. 643; Rotermund-Kraft ebd. Rdnr. 165). Diese Ausnahmesituation darzulegen und zu beweisen obliegt dem Sicherungspflichtigen (BGH, Beschluss vom 7. Juni 2005 – VI ZR 219/04 –, NJW-RR 2005, 1185; Urteil vom 27. November 1984 – VI ZR 49/83 –, NJW 1985, 484 = MDR 1985, 311, Rdnr. 22 bei juris; OLG Hamm, Urteil vom 14. Januar 2005 – 9 U 116/03 –, OLGR Hamm 2005, 437 = NZV 2005, 526).

c)

Die Beklagte hat ihrer so verstandenen Pflicht zur Sicherung der Bushaltestelle und ihres Umfeldes nicht genügt.

Nach den nicht erheblich bestrittenen und deshalb zu Recht dem landgerichtlichen Urteil zugrunde gelegten Angaben der Klägerin ist die – dem Senat aus eigener Anschauung bekannte – in Rede stehende Haltestelle im Zentrum P.´s ein hoch frequentierter Umsteigepunkt des öffentlichen Nahverkehrs. An ihm laufen – vergleichbar mit dem Hauptbahnhof – die weitaus überwiegende Zahl der Straßenbahn- und Buslinien zusammen. Auch in den späten Abendstunden wird die Haltestelle noch von einer großen Anzahl an Linien angefahren und von vielen Fahrgästen frequentiert. Das zeigt die Zählung der Klägerin ein Jahr nach dem hier in Rede stehenden Tag, wonach in der Stunde zwischen 21:30 Uhr und 22:30 an einem vergleichbaren Wintertag mehr als etwa 200 Personen aus Bussen und Straßenbahnen aus- oder in sie einstiegen. Hinzu kam eine gewisse Anzahl an Personen, die den Übergang ohne Bezug zum Nahverkehr querten. Die Haltestellen und ihre unmittelbare Umgebung, die zum Erreichen und Verlassen sowie zum Wechsel der Verkehrsmittel benutzt werden müssen, sind mithin auch außerhalb der in § 4 Abs. 3 der örtlichen Straßenreinigungssatzung vom 9. November 2015 (ABl. 12/2015 vom 26. November 2015) bestimmten Zeiten (6 Uhr bis 20 Uhr, sonn- und feiertags 9 Uhr bis 20 Uhr) hoch frequentiert. Sie bedürfen daher unabhängig von der mit der Satzung den Anliegern übertragenen Winterdienstpflicht und ihren zeitlichen Grenzen der Sicherung. Jedenfalls in dem hier in Rede stehenden Zeitraum war die Beklagte verpflichtet, die für den Verkehr noch immer wesentlichen Bereiche an der und um die Haltestelle vor den mit winterlicher Glätte verbundenen Gefahren für die Passagiere zu sichern. Es musste auch die – mindestens eine, klar erkennbare – Zuwegung gesichert sein (vgl. Senat, Urteil vom 5. August 2008 – 2 U 15/07 –, VersR 2009, 221, Rdnr. 16 bei juris). Hierzu gehört sicherlich der Bereich zwischen der Fußgängerfurt, die die Haltestellen beiderseits der Straße und die Straßenbahnplattformen verbindet, und der eigentlichen Bushaltestelle.

Am fraglichen Abend bestand – für die Beklagte erkennbar – Glättegefahr. Die Wetterberichte und amtlichen Wetterwarnungen des Deutschen Wetterdienstes ergaben ab den Nachmittagsstunden konkrete Hinweise auf eine Glättegefahr in P., auch örtliches Glatteis wurde ab 14:30 Uhr nicht mehr ausgeschlossen. Ab 18:00 Uhr galt eine amtliche Warnung vor Glätte durch überfrierende Nässe sowie geringfügigen Schneefall, ab 21:09 Uhr eine amtliche Warnung vor Glatteis aufgrund von gefrierendem Regen oder Sprühregen. Die Beklagte hatte damit ab 14:30 Uhr damit zu rechnen, wenigstens an besonders gefährdeten Stellen auch kurzfristig geeignete Maßnahmen zur Verkehrssicherung treffen zu müssen. Ab 18 Uhr manifestierte sich die Pflicht zum Tätigwerden aufgrund der amtlichen Warnung vor Glätte, welche sich noch einmal um 21:09 Uhr verstärkte durch die amtliche Warnung vor Glatteis. Mit Blick hierauf kann dahinstehen, welcher Vorbereitungszeit die Beklagte zu 1 nach dem Erkennbarwerden einer Glättegefahr allgemein für den Einsatz des Winterdienstes bedarf; sie hat hierzu nichts vorgetragen. Entscheidend ist, dass die Gefahr hier keinesfalls plötzlich auftauchte. Sie wurde vielmehr mit deutlichem zeitlichen Vorlauf angekündigt. Jedenfalls ab 18 Uhr hätten Maßnahmen zur Kontrolle auf tatsächliche Glatteisbildung wenigstens an den gefahrenträchtigsten Stellen und Bereichen und zu ihrer Sicherung getroffen werden müssen, verstärkt ab 21:09 Uhr. Es ist nicht erkennbar, dass die Beklagte zu 1 hierzu – zumal bei dem hier in Rede stehenden, zentral gelegenen und gut erreichbaren – Haltepunkt nicht in der Lage gewesen wäre.

Es bestand darüber hinaus auch allgemeine Glätte. Sie beschränkte sich nicht auf nur vereinzelte glatte Stellen, die keinen Winterdienst erforderten. Zwar trägt die Klägerin vor, sie habe an einer anderen Haltestelle und auf der Straßenbahnplattform problemlos ein- und aussteigen können. Dass aber wenigstens auf dem Bürgersteig an der Bushaltestelle auch außerhalb ihres unmittelbaren Umfeldes gefährliche Glätte herrschte, ergibt sich aus den Bekundungen des erstinstanzlich vernommenen Zeugen Eh.. Dieser gab an, es sei so glatt gewesen, dass „jeder Schritt mit einer gewissen Gleichgewichtsarbeit verbunden war“, und er sich von der Haltestelle auf der Straße und nicht auf dem zu glatten Bürgersteig entfernte. Auch der hinzugerufene Notarzt habe deutliche Schwierigkeiten gehabt, bei der Glätte Halt zu finden.

Die Beklagte hat an der fraglichen Stelle keine Winterdienstmaßnahmen vorgenommen.

Sie waren auch nicht deshalb entbehrlich, weil sie angesichts der besonderen Wetterlage wirkungslos gewesen wären. Wie erwähnt ist besonders an zentralen Bushaltestellen ein verstärkter Winterdienst erforderlich. Auch außergewöhnliche Glätteverhältnisse befreien damit den Pflichtigen nicht von vornherein, sondern verlangen im Gegenteil vielmehr besonders intensive Streumaßnahmen, und zwar auch im Hinblick auf die zeitliche Folge. Es genügt insoweit, dass das Streugut die Gefahr des Ausgleitens wenigstens vermindert, mag seine abstumpfende Wirkung auch durch weitere Eisbildung abgeschwächt werden. Nur wenn auch dies auszuschließen ist, dürfen weitere Maßnahmen als sinnlos unterbleiben. Die hierzu darlegungs- und beweisbelastete Beklagte hat keine solchen außergewöhnlichen Umstände dargelegt. Der durch den Deutschen Wetterdienst ab 20:12 Uhr verzeichnete „leichte Sprühregen mit Glatteisbildung“ mag angesichts des Dauerfrostes auf gefrorenen Boden getroffen sein und damit tatsächlich auch an dieser Haltestelle zu weiterem Glatteis geführt haben. Dass deswegen aber jegliche Maßnahmen von vornherein aussichtslos gewesen wären, die Gefahr auch nur zu mindern, ist damit noch nicht gesagt. Angesichts der nur geringen Mengen gemessenen Niederschlages erscheint etwa ein Abstumpfen der gefährdeten Flächen mit grobem Splitt oder ähnlichem Material nicht von vornherein als vergebens. Die Beklagte hat hierzu jedenfalls nichts vorgetragen.

d)

Die Pflichtverletzung der Beklagten war unfallursächlich. Das Landgericht hat ohne erkennbare Rechtsfehler und unter ohne weiteres nachvollziehbarer Würdigung der erhobenen Beweise festgestellt, dass die Klägerin zu dem von ihr angegebenen Zeitpunkt glättebedingt gestürzt ist und sie sich hierbei wie angegeben verletzt hat. Dass Ursache hierfür die Pflichtverletzung der Beklagten ist, ist allerdings entgegen der Annahme des Landgerichts nach den Regeln des Anscheinsbeweises anzunehmen.

Bei Glatteisunfällen sind die Regeln über den Anscheinsbeweis anwendbar, wenn der Verletzte innerhalb der zeitlichen Grenzen der Streupflicht zu Fall gekommen ist. In einem solchen Fall spricht – ähnlich wie bei einem Verstoß gegen konkret gefasste Unfallverhütungsvorschriften – nach dem ersten Anschein eine Vermutung dafür, dass es bei Beachtung der Vorschriften über die Streupflicht nicht zu den Verletzungen gekommen wäre, dass sich also in dem Unfall gerade diejenige Gefahr verwirklicht hat, deren Eintritt die Schutzvorschriften verhindern wollten. Die Regeln über den Anscheinsbeweis können dagegen keine Anwendung finden, wenn der Sturz auf dem Glatteis erst längere Zeit nach dem Ende der Streupflicht eingetreten ist. Ein solcher Sachverhalt entspricht nicht mehr einem typischen Geschehensablauf, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache hinweist. Dem steht schon die Erfahrung entgegen, dass es nicht selten nach dem Ende der Streupflicht aufgrund weiterer Niederschläge oder infolge einer Änderung der Bodentemperatur zu – erneuter – Glatteisbildung kommt (BGH, Beschluss vom 19. Dezember 1991 – III ZR 2/91 –, Rdnr. 4 bei juris; Urteil vom 4. Oktober 1983 – VI ZR 98/82 –, NJW 1984, 432 = MDR 1984, 219, Rdnr. 15 bei juris; Staudinger/J. Hager (2021) § 823 BGB, Rdnr. E 144).

Vorliegend geschah der Unfall wie dargelegt innerhalb der für die Streupflicht an der konkreten Haltestelle geltenden zeitlichen Grenzen. Auf die allgemeine Winterdienstpflicht im gesamten Stadtgebiet nach der Straßenreinigungssatzung kommt es angesichts der besonderen Verkehrsbedeutung dieses Bereichs und des besonderen Sicherungsbedürfnisses der auch zu dieser Stunde noch zahlreichen Bus- und Straßenbahnpassagiere nicht an. Mit Blick hierauf ist anzunehmen, dass eine rechtzeitige und ausreichende Erfüllung des Winterdienstes den gerade auf die Glätte zurückzuführenden Sturz ebenso verhindert hätte wie die durch ihn eingetretene Verletzung.

e)

Die Bediensteten der Beklagten zu 1 handelten schuldhaft. Gründe für den Ausschluss des nach dem Beweis des ersten Anscheins anzunehmenden (vgl. nur BGH, Urteil vom 20. Oktober 2016 – III ZR 278/15 –, NJW 2017, 397 Rdnr. 40; Dörr, in: (BeckOnline-Großkommentar mit Stand 1. April 2023, § 839 BGB Rdnr. 450) bestehen nicht.

Der Klägerin ist auch kein Mitverschulden zuzurechnen.

Nach der Rechtsprechung ist ein Fußgänger bei erkennbarer Eisglätte zu erhöhter Sorgfalt verpflichtet. Kann der Fußgänger erkennen, dass der Gehweg nur teilweise gestreut ist, so trifft ihn ein Mitverschulden, wenn er den nicht gestreuten Teil des Gehwegs benutzt. Auch ein kleinerer Umweg ist in diesem Fall zumutbar; auf die Straße muss ein Fußgänger aber prinzipiell nicht ausweichen. Bestehen keine Alternativen, muss er wenigstens besondere Vorsicht walten lassen. Das Mitverschulden des Fußgängers kann auch darauf gestützt werden, dass er sich durch die Benutzung eines nicht gestreuten Fuß- oder Gehwegs einer von ihm erkannten Gefahr ausgesetzt hat, ohne dass hierfür eine zwingende Notwendigkeit bestand. Das Mitverschulden wiegt hier aber im Allgemeinen nicht so schwer, dass die Verantwortlichkeit des Streupflichtigen vollständig zurücktreten müsste (vgl. BGH, Urteil vom 20. Juni 2013 – III ZR 326/12 – NZV 2013, 534; Urteil vom 6. Mai 1997 – VI ZR 90/96 –, NZV 1997, 430; Looschelders, in: BeckOnline-Großkommentar mit Stand 1. Juni 2023, § 254 Rdnr. 201).

Die Beklagte hat nicht konkret vorgetragen, dass die Klägerin die Eisglätte auf dem Bürgersteig an der Bushaltestelle erkannt hatte oder erkennen musste. Entsprechend ist nicht festzustellen, dass die Klägerin sich sorgfaltswidrig verhielt, als sie – ihrem Vortrag zufolge mit wettergerechtem Schuhwerk – diesen Bereich betrat. Das Wetter allein mag zwar im Nachhinein als naheliegend erscheinen lassen, dass leichter Niederschlag auf gefrorenem Boden überfror und Glattstellen bildete. Warum dies der Klägerin offenbar sein musste, ist aber nicht zwanglos einsichtig. Sie hat vorgetragen, der Boden sei nicht glatt gewesen, als sie aus der Straßenbahn gestiegen sei. Gleiches gilt für die Straße, die sie auf ihrem Weg querte. Sonstige für sie offenbare Anhaltspunkte für die Glattstelle an der Bushaltestelle sind nicht vorgetragen.

2.

Zur Schadenshöhe ist der Rechtsstreit nicht zur Entscheidung reif. Er bedarf vielmehr weiteren Vortrags der Parteien und gegebenenfalls einer umfangreichen Beweisaufnahme.

Das betrifft zunächst das von der Klägerin begehrte Schmerzensgeld. Der Grundsatz der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes gebietet eine ganzheitliche Betrachtung und Bemessung, in die die künftige Entwicklung des Schadensbildes miteinbezogen werden muss. Dabei steht die mit der Verletzung verbundene Lebensbeeinträchtigung im Verhältnis zu den anderen zu berücksichtigenden Umständen stets an der Spitze. Denn Heftigkeit und Dauer der Schmerzen und Leiden bilden das ausschlaggebende Moment für den angerichteten immateriellen Schaden (vgl. nur BGH, Urteil vom 20. Januar 2004 – VI ZR 70/03 –, NJW 2004, 1243 = MDR 2004, 701, Rdnr. 7; Urteil vom 20. März 2001 – VI ZR 325/99 –, NJW 2001, 3414 = MDR 2001, 764, Rdnr. 9). Entscheidend ist damit das Maß der Lebensbeeinträchtigung, die bei Schluss der mündlichen Verhandlung bereits eingetreten war oder als künftige erkennbar und objektiv vorhersehbar ist (OLG Hamm, Urteil vom 21. Dezember 2012 – I-9 U 38/12 –, NJW 2013, 1375 = MDR 2013, 593, Rdnr. 34). Die Klägerin hat fortbestehende verletzungsbedingte Einschränkungen ihrer Beweglichkeit behauptet, die sich im Alltag und auf ihr Möglichkeiten auswirken, Sport zu treiben; die Beklagte ist dem entgegen getreten. Die Klägerin ist weiterer Vortrag und nötigenfalls der entsprechende Nachweis zu ermöglichen.

Gleiches gilt für die geltend gemachten materiellen Schäden. Der Haushaltsführungsschaden – richtigerweise: der Schaden wegen vermehrter Bedürfnisse – ist bestritten und noch nicht nach den hierfür durch den Bundesgerichtshof aufgestellten Maßstäben dargestellt. Erforderlich ist die Feststellung, welche Hausarbeiten die Verletzte vor dem Schadensfall zu verrichten pflegte, wieweit ihr diese Arbeiten nun nicht mehr möglich (oder zumutbar) sind und für wie viele Stunden folglich eine Hilfskraft benötigt wird oder – bei anderweitigem Ausgleich des Hausarbeitsdefizits – benötigt würde (BGH, Urteil vom 6. Juni 1989 – VI ZR 66/88 –, NJW 1989, 2539; BGH, Urteil vom 3. Februar 2009 – VI ZR 183/08 –, NJW 2009, 2060/2061 Rdnr. 4). Der ebenfalls bestrittene Verdienstausfall ist nunmehr zwar prinzipiell nachvollziehbar dargelegt. Nicht erläutert ist allerdings der durch die Beklagte zu Recht aufgezeigte Umstand, dass die Klägerin für Zeiten Krankengeld erhielt, die bereits vor dem Unfall lagen. Möglicherweise war sie schon durch ihre Tumorerkrankung arbeitsunfähig, und wurde dies nicht erst durch den Sturz. Das ist aufzuklären. Die medizinische Notwendigkeit der in Anspruch genommenen Osteopathie ist nicht selbstverständlich. Die Feststellungen zum Wert der bei dem Unfall beschädigten Kleidung bedürfen auch im Rahmen des § 287 ZPO gewisser Anhaltspunkte.

Vor diesem Hintergrund hält der Senat in Ausübung des ihm nach § 538 Abs. 1 und 2 ZPO eingeräumten Ermessens eine eigene abschließende Sachentscheidung nach § 538 Abs. 1 ZPO für nicht sachgerecht, sondern vielmehr eine Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz zur Durchführung des Betragsverfahrens für geboten. Der Erlass eines Grundurteils ist im Streitfall zulässig. Der noch offene Klageanspruch ist nach Grund und Höhe streitig, alle Fragen, die zum Grund des Anspruchs gehören, sind erledigt, und nach dem Sach- und Streitstand besteht der geltend gemachte Anspruch mit hoher Wahrscheinlichkeit in irgendeiner Höhe (vgl. dazu BGH, Urteil vom 10. März 2005 – VII ZR 220/03 –, NJW-RR 2005, 928). Der mit einer Zurückverweisung grundsätzlich verbundene Nachteil einer gewissen Verzögerung und Verteuerung des Prozesses fällt hier angesichts des sachlichen Umfangs der anstehenden Beweisaufnahme über die zahlreichen von der Klägerin angeführten Schadenspositionen nicht erheblich ins Gewicht. Umso mehr gewinnt demgegenüber der Gesichtspunkt an Bedeutung, ein ordnungsgemäßes Verfahren zunächst in erster Instanz durchzuführen und den Parteien die vom Gesetz grundsätzlich zur Verfügung gestellten zwei Tatsachenrechtszüge voll zu erhalten (vgl. auch Senat, Urteil vom 23. Februar 2021 – 2 U 64/20 –, Rdnr. 11 bei juris).

3.

Da der endgültige Erfolg der Berufung noch nicht feststeht, sondern vom Ausgang des Betragsverfahrens abhängt, ist die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens dem Landgericht vorzubehalten.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10, § 711, § 775 Nr. 1, § 776 ZPO. Die vorläufige Vollstreckbarkeit ist anzuordnen. Zwar tritt die vorläufige Vollstreckbarkeit des angefochtenen Urteils gemäß § 717 Abs. 1 ZPO bereits mit der Verkündung des aufhebenden Urteils außer Kraft, weshalb es der Anordnung einer Abwendungsbefugnis nach § 711 ZPO nicht bedarf. Eine eventuell aufgrund des angefochtenen Urteils bereits eingeleitete Zwangsvollstreckung darf jedoch gemäß § 775 Nr. 1, § 776 ZPO erst eingestellt werden und bereits getroffene Vollstreckungsmaßregeln aufgehoben werden, wenn eine vollstreckbare Ausfertigung des aufhebenden Urteils vorgelegt wird (vgl. OLG Bamberg, Urteil vom 28. April 2021 – 3 U 272/20 –, NJW-RR 2021, 815 Rdnr. 39 bei juris; Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 4. Januar 2018 – 7 U 146/15 –, SchlHA 2018, 98 Rdnr. 61 bei juris; OLG Stuttgart, Urteil vom 17. Oktober 2017 – 10 U 55/17 –, BeckRS 2017, 159709, Rdnr. 98 bei juris; OLG München, Urteil vom 18. September 2002 – 27 U 1011/01 –, NZM 2002, 1032 Rdnr. 75 bei juris).

Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne des § 543 Abs. 2 ZPO sind nicht ersichtlich.

Die Streitwertentscheidung folgt aus den §§ 47 und 48 GKG.