Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 10. Senat | Entscheidungsdatum | 02.11.2023 | |
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Aktenzeichen | OVG 10 N 53/23 | ECLI | ECLI:DE:OVGBEBB:2023:1102.OVG10N53.23.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 53 S 1 VwGO, § 53 S 3 VwGO, § 60 Abs 1 VwGO, § 124a Abs 4 S 4 VwGO, § 53 S 4 VwGO |
Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 31. März 2023 wird verworfen.
Die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens trägt der Beklagte.
Der Streitwert wird für die zweite Rechtsstufe auf 15.000,00 EUR festgesetzt.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung war zu verwerfen, weil er unzulässig ist.
Der Beklagte hat die Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO versäumt, derzufolge innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils die Gründe darzulegen sind, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Das vollständige und mit einer zutreffenden Rechtsmittelbelehrung versehene Urteil des Verwaltungsgerichts vom 31. März 2023 ist dem Beklagten ausweislich seines Empfangsbekenntnisses am 30. Juni 2023 zugestellt worden, die vorstehend genannte Frist damit am 30. August 2023 abgelaufen, § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB, §§ 222 Abs. 2 ZPO. Innerhalb dieser Frist hat der Beklagte eine Begründung seines am 29. Juli 2023 gestellten Zulassungsantrages jedoch weder als elektronisches Dokument (§ 55d Satz 1 VwGO) noch ersatzweise nach den allgemeinen Vorschriften (§ 55d Satz 3 und 4 VwGO) übermittelt. Diese Begründung und ein Wiedereinsetzungsantrag sind vielmehr erst am 31. August 2023 als elektronisches Dokument beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eingegangen.
Die beantragte Wiedereinsetzung in die Begründungsfrist kommt nicht in Betracht. Die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand setzt gemäß § 60 Abs. 1 VwGO voraus, dass der Betroffene ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Dies ist vorliegend nicht der Fall.
Ein Verschulden, das eine Wiedereinsetzung nach § 60 Abs. 1 VwGO ausschließt, liegt vor, wenn ein Beteiligter diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten ist und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falls zuzumuten war. Wird die Frist bis zum letzten Tag ausgeschöpft, so treffen den Verfahrensbeteiligten erhöhte Sorgfaltspflichten; d. h. er muss alle gebotenen und zumutbaren Maßnahmen treffen, um die Gefahr einer Fristversäumnis zu vermeiden (BVerwG, Beschluss vom 25. September 2023 – BVerwG 1 C 10. 23 –, juris Rn. 12 und 15 m.w.N.).
Die für einen Rechtsanwalt geltenden Sorgfaltspflichten bei der persönlichen Bearbeitung des Mandats und der Organisation des Kanzleibetriebes gelten sinngemäß auch für die Prozessvertretung von Behörden durch den in § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO genannten Personenkreis, denn das in dieser Vorschrift eingeräumte "Behördenprivileg" besteht ausschließlich darin, dass auch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt vertretungsberechtigt sind, bezweckt jedoch keine Besserstellung der Behörde im Hinblick auf die von einem Vertretungsberechtigten im Rahmen seiner Prozessführung zu wahrenden Sorgfaltspflichten (OVG Bln-Bbg, Urteil des Senats vom 1. Juni 2022 – OVG 10 B 3.17 –, juris Rn. 27).
Die anwaltlichen bzw. behördlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs entsprechen denen bei Übersendung von Schriftsätzen per Telefax. Für Telefaxübersendungen ist anerkannt, dass der Nutzer das seinerseits zur Fristwahrung Erforderliche getan hat, wenn er so rechtzeitig mit der Übermittlung beginnt, dass unter normalen Umständen mit ihrem Abschluss am Tag des Fristablaufs bis 24:00 Uhr zu rechnen ist. Dabei muss er vorhersehbare Verzögerungen einkalkulieren – beispielsweise schwankende Übertragungsgeschwindigkeiten oder die Belegung des gerichtlichen Telefaxempfangsgeräts durch andere in den Nachtstunden eingehende Sendungen – und hat diesen durch einen zur geschätzten Übermittlungszeit hinzuzurechnenden zeitlichen Sicherheitszuschlag in einer Größenordnung von 20 Minuten Rechnung zu tragen. Ebenso muss im elektronischen Rechtsverkehr mit einer nicht jederzeit reibungslosen Übermittlung und Verzögerungen gerechnet werden – beispielsweise durch Schwankungen bei der Internetverbindung und eine hohe Serverbelastung kurz vor Mitternacht aufgrund vieler eingehender Nachrichten oder der Durchführung von Software-Updates – die aufgrund ihrer Vorhersehbarkeit einzukalkulieren sind (zum Ganzen: BVerwG, Beschluss vom 25. September 2023 – BVerwG 1 C 10. 23 –, juris Rn. 13-18 m.w.N.). Ob diesbezüglich ebenfalls eine zeitliche Reserve in einer Größenordnung von 20 Minuten zu fordern ist, bedarf vorliegend indes keiner Entscheidung.
Für die Frage fehlenden Verschuldens ferner in den Blick zu nehmen ist nämlich, ob die Partei mit den nach der jeweiligen prozessualen Lage gegebenen Möglichkeiten und zumutbaren Anstrengungen die Wahrung ihres rechtlichen Gehörs zu erlangen vermocht hätte. Nach dieser Maßgabe ist zwar grundsätzlich nicht zu verlangen, dass ein Rechtsanwalt bzw. eine Behörde innerhalb kürzester Zeit eine andere als die gewählte Zugangsart sicherstellt, wenn die Übersendung auf dem ursprünglich intendierten Weg aus einem von ihm nicht zu vertretenden Grund scheitert. Zumutbar ist ihnen indes die Inanspruchnahme solcher Übermittlungsalternativen, die sich aufdrängen und deren Nutzung mit einem nur geringfügigen Aufwand verbunden ist (zum Ganzen: BGH, Beschluss vom 29. September 2021 – VII ZB 12/21 –, juris Rn. 29 f. m.w.N.; zur damals noch freiwilligen Nutzung des elektronischen Anwaltspostfachs bei Telefaxausfall).
Nach dieser Maßgabe stellt sich die Versäumung der Zulassungsbegründungsfrist durch den Beklagten im vorliegenden Fall als verschuldet dar, weil dieser es unterlassen hat, den Begründungsschriftsatz per Telefax zu übersenden, nachdem sich seinen Angaben zufolge gegen 23.30 Uhr gezeigt hatte, dass eine elektronische Übersendung über das besondere Behördenpostfach unmöglich war. Dass eine solche Übersendungsmöglichkeit tatsächlich gegeben war, ergibt sich daraus, dass der Briefkopf des Begründungsschriftsatzes eine individuelle Faxverbindung der unterzeichnenden Bearbeiterin ausweist. Auch hat der Beklagte ungeachtet der entsprechenden gerichtlichen Nachfrage nicht dargetan, dass eine Nutzung dieses Telefaxanschlusses vorliegend nicht bzw. nicht rechtzeitig möglich oder mit einem unzumutbaren Aufwand verbunden gewesen wäre. Schließlich musste sich die Inanspruchnahme der Telefaxoption für den Beklagten auch aufdrängen, denn bis zum Eintritt der elektronischen Übersendungspflicht (vgl. § 55d Satz 1 VwGO i.d.F. ab 1. Januar 2022) hatte der Beklagte von dieser Übersendungsmöglichkeit regelmäßig zwecks Fristwahrung Gebrauch gemacht, und seither obliegt ihm, die vom Gesetzgeber ausdrücklich eröffnete Möglichkeit zu kennen, bei technischen Störungen des elektronischen Übermittlungswegs eine fristwahrende Ersatzeinreichung nach den allgemeinen Vorschriften vorzunehmen (§ 55d Satz 3 und 4 VwGO).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG, sie folgt der erstinstanzlichen Festsetzung.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).