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43-Jährige; Assoziationsberechtigte; Ausländerrecht; Türkei; Ausweisung; Assoziationsberechtigte; 43-Jährige; in Deutschland geborgen; Inhaberin einer Niederlassungserlaubnis; Betäubungsmittelabhängigkeit; fortwährende (Laden-)Diebstähle; einmalige Geldfälschung; Grundinteresse der Gesellschaft nicht berührt; leichte Kriminalität ohne schwerwiegende Rechtsgutsverletzungen; Ausweisung nicht unerlässlich; Stattgabe


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 11. Senat Entscheidungsdatum 25.10.2023
Aktenzeichen OVG 11 B 19/20 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2023:1025.OVG11B19.20.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen Art 8 MRK, Art 7 S 1 EWGAssRBes 1/80, § 53 Abs 1 AufenthG, § 54 Abs 1 Nr 1 Buchst a AufenthG, § 146 Abs 1 Nr 3 StGB, § 243 Abs 1 S 2 Nr 3 StGB, § 53 Abs 3 AufenthG

Leitsatz

1. Eine schwerwiegende Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 3 AufenthG berührt ein Grundinteresse der Gesellschaft, wenn dem Ausweisungsanlass ein besonderes Gewicht zukommt, dass sich bei Straftaten aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergibt. Dabei muss ein wichtiges Schutzgut gefährdet sein.

2. Die Begehung – auch wiederholter – leichter Kriminalität ohne schwerwiegende Rechtsgutsverletzungen rechtfertigt eine Ausweisung Assoziationsberechtigter grundsätzlich nicht.

3. Die Begehung von Eigentums- und Vermögensdelikten kann ein Grundinteresse der Gesellschaft insbesondere berühren, wenn beträchtliche Schäden für eine Vielzahl von Personen drohen, die Taten gewerbsmäßig begangen werden oder sonstige erschwerende Umstände vorliegen.

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 17. Februar 2020 wird geändert.

Der Bescheid des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten vom 27. März 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides derselben Behörde vom 5. Juli 2019 wird aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.

Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen ihre Ausweisung aus dem Bundesgebiet.

Sie ist türkische Staatsangehörige, wurde 1980 in I... geboren und lebt seitdem dauerhaft im Bundesgebiet. Sie ist ledig und kinderlos. Ihr Vater ist verstorben. Ihre Mutter und drei Schwestern leben in T..., eine weitere Schwester in T...und zwei Brüder in I... und S....

Jedenfalls vom 1. Januar 1981 bis zum 31. Dezember 1983 stand der Vater der Klägerin, der ebenfalls türkischer Staatsangehöriger war und bei dem sie in diesem Zeitraum bei rechtmäßigem Aufenthalt im Bundesgebiet ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz hatte, in einem ununterbrochenen unselbständigen Beschäftigungsverhältnis. Im Jahre 1996 absolvierte die Klägerin in T...den Hauptschulabschluss. Im Jahre 1997 erteilte ihr das Landratsamt S...eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Um diese Zeit begann die Klägerin, Drogen zu konsumieren. Sie ist opiatabhängig (Heroin), erhielt mehrmals Substitutionsbehandlungen, die sie jeweils abbrach, und schloss eine Drogentherapie bislang nicht erfolgreich ab. Sie befindet sich derzeit in Strafhaft.

Die Klägerin trat strafrechtlich wie folgt in Erscheinung:

2002: Erschleichen von Leistungen in drei Fällen (Amtsgericht Tiergarten, 4. September 2002, 9..., 15 Tagessätze zu je 10,00 Euro)

2002: Erschleichen von Leistungen in drei Fällen (Amtsgericht Tiergarten, 17. März 2003, 9..., 15 Tagessätze zu je 10,00 Euro, nachträglich gebildete Gesamtstrafe 25 Tagessätze zu je 10,00 Euro)

2003: Diebstahl (Amtsgericht Tiergarten, 12. Juni 2003, 9..., 40 Tagessätze zu je 10,00 Euro)

2003: Diebstahl (Amtsgericht Tiergarten, 27. November 2003, 9..., zwei Monate Freiheitsstrafe, Bewährungszeit zwei Jahre, Strafaussetzung widerrufen)

2004: Diebstahl (Amtsgericht Tiergarten, 12. Oktober 2004, 9..., zwei Monate Freiheitsstrafe)

2004: Diebstahl (Amtsgericht Tiergarten, 18. Januar 2005, 9..., vier Monate Freiheitsstrafe)

2006: Diebstahl in drei Fällen (Amtsgericht Tiergarten, 25. September 2006, 9..., drei Monate Freiheitsstrafe, Bewährungszeit drei Jahre)

2006: unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln (Amtsgericht Tiergarten, 11. Juni 2007, 9..., drei Monate Freiheitsstrafe, Bewährungszeit drei Jahre, nachträglich gebildete Gesamtstrafe fünf Monate Freiheitsstrafe, Bewährungszeit drei Jahre, Strafaussetzung widerrufen)

2007: Diebstahl (Amtsgericht Tiergarten, 29. Februar 2008, 9..., vier Monate Freiheitsstrafe, Strafaussetzung widerrufen)

2008: Diebstahl in zwei Fällen und Erschleichen von Leistungen (Amtsgericht Tiergarten, 18. Februar 2009, 9..., vier Monate Freiheitsstrafe, Strafrest zur Bewährung ausgesetzt, Strafaussetzung widerrufen)

Am 6. Juli 2010 erteilte der Beklagte der Klägerin eine Niederlassungserlaubnis. Danach trat sie strafrechtlich wie folgt in Erscheinung:

2010: Diebstahl (Amtsgericht Tiergarten, 28. November 2011, 9..., 100 Tagessätze zu je 15,00 Euro)

2011: Erschleichen von Leistungen in drei Fällen (Amtsgericht Tiergarten, 28. November 2011, 9..., 60 Tagessätze zu je 15,00 Euro, nachträglich gebildete Gesamtstrafe 140 Tagessätze zu je 15,00 Euro)

2012: Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Beleidigung (Amtsgericht Tiergarten, 18. Juni 2013, 9..., 90 Tagessätze zu je 15,00 Euro)

2013: Diebstahl (Amtsgericht Tiergarten, 23. September 2014, 9..., 60 Tagessätze zu je 15,00 Euro)

2014: Erschleichen von Leistungen in drei Fällen (Amtsgericht Tiergarten, 14. Juli 2014, 9..., 60 Tagessätze zu je 15,00 Euro)

2014: Diebstahl (Amtsgericht München, 17. März 2015, 7..., zwei Monate Freiheitsstrafe, nachträglich gebildete Gesamtstrafe zwei Monate Freiheitsstrafe und 110 Tagessätze zu je 15,00 Euro)

2015: fahrlässiger Vollrausch, Diebstahl in vier Fällen (Amtsgericht Tiergarten, 27. April 2015, 9..., neun Monate Freiheitsstrafe)

2016: Diebstahl in sieben Fällen (Amtsgericht Tiergarten, 8. März 2017, 9..., zehn Monate Freiheitsstrafe)

2017: Geldfälschung in Tateinheit mit versuchtem Betrug, Diebstahl in drei Fällen (Amtsgericht Tiergarten, 9. April 2018, 9..., ein Jahr und fünf Monate Gesamtfreiheitsstrafe unter Einbeziehung der Taten aus dem Jahr 2016, weitere elf Monate separate Gesamtfreiheitsstrafe für den Diebstahl in drei Fällen)

2020: Diebstahl (Amtsgericht Tiergarten, 31. August 2020, 9..., drei Monate Freiheitsstrafe, Bewährungszeit drei Jahre, Strafaussetzung widerrufen)

2020: Diebstahl (Amtsgericht Tiergarten, 6. Mai 2021, 9..., drei Monate Freiheitsstrafe, Bewährungszeit drei Jahre, Strafaussetzung widerrufen)

2021: Beleidigung, Nötigung (Amtsgericht Tiergarten, 27. Mai 2021, 9..., 90 Tagessätze zu je 5,00 Euro)

2022: Diebstahl in zwei Fällen (Amtsgericht Düsseldorf, 1. Dezember 2022, 8..., ein Jahr Freiheitsstrafe)

Mit Bescheid des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten vom 27. März 2019 wies der Beklagte die Klägerin nach vorheriger Anhörung aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziffer 1), drohte ihr die Abschiebung in die Türkei an (Ziffer 2), befristete die Sperrwirkung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf sieben Jahre (Ziffer 3) und ordnete für den Fall der Abschiebung ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von zwei Jahren an (Ziffer 4). Anlasstat hierfür war die Verurteilung der Klägerin wegen Geldfälschung in Tateinheit mit versuchtem Betrug sowie Diebstahls in drei Fällen durch Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 9. April 2018 (Az.: 9...). Die Klägerin habe die Schule nicht abgeschlossen, nur gelegentlich gearbeitet und sei etwa die Hälfte ihres Lebens drogenabhängig gewesen. Sie sei mehrfach und schwerwiegend strafrechtlich in Erscheinung getreten. Schwerpunktmäßig habe sie Eigentumsdelikte im Rahmen der Beschaffungskriminalität begangen. Die Drogenabhängigkeit sei offenkundig strafursächlich. Die Sonderregelung des § 53 Abs. 3 AufenthG komme ihr nicht zugute. Es bestünden besonders schwerwiegende Ausweisungsinteressen wegen einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr wegen vorsätzlicher serienmäßiger Begehung von Eigentumsdelikten. Zudem lägen schwere Ausweisungsinteressen im Sinne des § 54 Abs. 2 AufenthG vor. Die Bleibeinteressen der Klägerin überwögen nicht.

Gegen die Ziffern 1 und 2 des Bescheides hat die Klägerin am 16. April 2019 und gegen die Ziffern 3 und 4 des Bescheides in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 5. Juli 2019 am 8. Juli 2019 Klage erhoben.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 17. Februar 2020, zugestellt am 26. Februar 2020, abgewiesen. Die Ausweisung der Klägerin sei an den erhöhten Anforderungen des § 53 Abs. 3 AufenthG zu messen, da der Klägerin jedenfalls über die Erwerbstätigkeit ihres Vaters Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zukämen. Das persönliche Verhalten der Klägerin stelle aufgrund der von ihr begangenen Straftaten jedoch eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, und die Ausweisung sei im Ergebnis einer Abwägung des Bleibeinteresses mit dem Ausweisungsinteresse unerlässlich. Auch der Schutz von Vermögen und Eigentum stelle ein Grundinteresse der Gesellschaft dar. Jedenfalls wenn dagegen gerichtete Straftaten gewerbsmäßig begangen würden oder sonstige erschwerende Umstände vorlägen, werde dieses Grundinteresse schwer gefährdet. Solche erschwerenden Umstände könnten auch in der Häufung von der Beschaffungskriminalität zuzuordnenden Delikten liegen.

Mit Beschluss vom 11. September 2020 hat der Senat auf den Antrag der Klägerin vom 18. März 2020, begründet mit Schriftsatz vom 20. April 2020, die Berufung zugelassen.

Die Klägerin trägt vor, ihre Eltern hätten untereinander Kurdisch gesprochen, sie und ihre Geschwister untereinander Deutsch. Im Jahre 1992 hätten sich die Eltern getrennt, woraufhin sie bei ihrem Vater verblieben sei, der fortan mit ihr und ihren Geschwistern überwiegend Deutsch gesprochen habe. Familiäre Beziehungen bzw. Kontakte in die Türkei habe sie nicht. Sie macht geltend, das Verwaltungsgericht habe unrichtig unter die Tatbestandsvoraussetzungen des § 53 Abs. 3 AufenthG subsumiert. Es sei vorliegend nicht ersichtlich, dass die von ihr begangenen Taten die notwendige Schwere erreichten. Die Mehrzahl der Verurteilungen sei wegen Diebstahls erfolgt, nur in einem Fall wegen gewerbsmäßigen Diebstahls (Beutewert: 650,47 Euro). Ein beträchtlicher Schaden für eine Vielzahl von Personen sei durch die von der Klägerin begangenen Diebstahltaten nicht eingetreten. Die Taten spielten sich ausschließlich im Feld der Klein- und Beschaffungskriminalität ab. Zwar sei die Klägerin auch wegen „Geldfälschung“ verurteilt worden und habe deshalb gegen einen als Verbrechenstatbestand ausgestalteten Tatbestand verstoßen, jedoch könne dies wegen der absolut geringfügigen Schadenswerte nicht zu einer schwerwiegenden Gefahr hochstilisiert werden. Zudem überwögen die Bleibeinteressen der Klägerin als faktische Inländerin. Bei der Entscheidung über ihre Ausweisung sei ihr Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens zu beachten. Art. 8 EMRK könne als Abwehrrecht gegenüber dem Staat nicht allein Personen schützen, deren Aufenthalt aufgrund einer gelungenen Integration für die deutsche Wirtschaft nützlich sei. Das Verwaltungsgericht lasse offen, inwieweit es der Klägerin auch nur ansatzweise möglich sein soll, in der Türkei ihre sozio-kulturelle und ökonomische Existenz zu sichern. Insbesondere könne die Suchtmittelabhängigkeit der Klägerin nicht nur eindimensional als Variable der Delinquenz Berücksichtigung finden, sondern müsse an dieser Stelle in die Prognose einfließen, um zu prüfen, inwiefern es der Klägerin möglich sein wird, die türkische Sprache zu erlernen und sich im Alltag zurecht zu finden.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 17. Februar 2020 zu ändern und die Ziffern 1 und 2 des Bescheides des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten vom 27. März 2019 sowie die Ziffern 3 und 4 desselben Bescheides in der Gestalt des Widerspruchsbescheides derselben Behörde vom 5. Juli 2019 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG lägen vor. Die Klägerin gefährde die Grundinteressen der Gesellschaft. Dies gelte in Bezug auf den Schutz von Eigentum und Vermögen. Würden hiergegen gerichtete Taten gewerbsmäßig begangen, werde das gesellschaftliche Grundinteresse schwer gefährdet. Zudem habe die Klägerin bereits Taten gegen staatliche Vollzugsbeamte und gegen die Integrität von staatlich herausgegebenen Bankwertzeichen begangen. Dies stelle ein Verbrechen von erheblicher Bedeutung dar. Die Ausführungen zu einer versuchten gefährlichen Körperverletzung vom 12. Juni 2017 in dem Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 9. April 2018 (Az.: 9...) sowie die jüngst geführten Ermittlungsverfahren zeigten zudem, dass die Klägerin auch eine Gefahr für die körperliche Unversehrtheit Dritter darstelle. Bei der Klägerin bestehe ein fortdauernder Hang zur Delinquenz. Sie sei bereits als Jugendliche im Alter von 17 Jahren strafrechtlich in Erscheinung getreten. Nach eigenen Angaben ab ihrem 16. Lebensjahr, nach Feststellungen des Verwaltungsgerichts mit Eintritt der Volljährigkeit habe sie mit dem Konsum von Heroin begonnen. Die anfängliche Straffälligkeit der Klägerin habe noch nicht im Zusammenhang mit einem verfestigten Suchtmittelkonsum gestanden. Bei ihrer Straffälligkeit handele es sich um einen lebensumspannenden Persönlichkeitsmangel, der sich bereits in frühen Jahren gezeigt habe. Ein Bewusstsein für das Verbot, fremdes Eigentum an sich zu nehmen, scheine bei der Klägerin nicht vorhanden zu sein. Die Schäden seien auch nicht stets gering gewesen. Vielmehr ergebe sich aus den strafrechtlichen Verurteilungen mehrfach ein Schaden von bis zu mehreren hundert Euro. Es bestehe eine erhebliche Wiederholungsgefahr. Schließlich sei die Ausweisung der Klägerin unerlässlich für die Wahrung der Grundinteressen der Gesellschaft. Sie habe zwar seit etwa 40 Jahren im Bundesgebiet gelebt, jedoch wiege ihr Alter weder zu ihren Gunsten noch zu ihren Lasten. Unabhängig von möglichen Verwandten in der Türkei sei für sie auch keine soziale Not zu erwarten. Ferner stehe zur Überzeugung des Beklagten fest, dass die Klägerin zumindest über Kenntnisse einer Sprache ihres Herkunftslandes verfüge. Auf Grundlage der Angaben der Klägerin stehe jedenfalls zu vermuten, dass die Klägerin über Grundkenntnisse des Kurdischen verfüge. Eine Drogentherapie müsse nicht in Deutschland erfolgen. Folgen für Angehörige seien nicht erkennbar. Besondere Bindungen der Klägerin bestünden weder zur Türkei noch zur deutschen Gesellschaft. Die familiäre Situation der Klägerin vermöge nur in geringem Maße ein Bleiberecht zu begründen. Ein näherer Kontakt zu den Geschwistern und der Mutter, welche in T... lebe, feste persönliche und nähere zwischen menschliche Beziehungen seien nicht erkennbar. Die soziale und gesellschaftliche Integration der Klägerin fehle fast vollständig.

Dem Senat haben neben den Gerichtsakten in diesem Verfahren die Ausländerakte sowie die von den Staatsanwaltschaften Berlin und Düsseldorf übersandten Strafakten zu den seit dem Jahre 2017 begangenen Straftaten der Klägerin vorgelegen. Auf die Auskunft aus dem Bundeszentralregister vom 30. August 2023, auf den Führungsbericht der Justizvollzugsanstalt T...vom 19. September 2023 und auf deren Vollzugsplan vom 26. September 2023, die dem Senat ebenfalls vorgelegen haben, wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Über die Berufung der Klägerin entscheidet im Einverständnis der Beteiligten der Berichterstatter anstelle des Senats und ohne mündliche Verhandlung (§ 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 87a Abs. 2 und 3 und § 101 Abs. 2 VwGO).

Die zulässige Berufung ist begründet.

Der Bescheid des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten vom 27. März 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides derselben Behörde vom 5. Juli 2019 ist rechtswidrig und die Klägerin dadurch in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das diese Bescheide bestätigende Urteil des Verwaltungsgerichts ist deshalb zu ändern.

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung ist vorliegend die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 – C-371/08 – juris, Rn. 84; BVerwG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 1 C 28/16 – juris, Rn. 16; Urteil des Senats vom 27. Juli 2017 – OVG 11 B 12.16 – juris, Rn. 28).

1. Ermächtigungsgrundlage für die verfügte Ausweisung ist § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG i.V.m. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80.

Nach dem Grundtatbestand der Ausweisung in § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Die Ausweisung setzt eine umfassende und ergebnisoffene Abwägung aller Umstände des Einzelfalls auf Tatbestandsseite voraus, die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitet wird und gerichtlich voll überprüfbar ist. Der Grundsatz des § 53 Abs. 1 AufenthG erhält durch die §§ 54 und 55 AufenthG weitere Konkretisierungen. Einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen wird von vornherein ein spezifisches, bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen, wobei neben den explizit angeführten Interessen noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Ausweisungs- und Bleibeinteressen denkbar sind (BVerwG, Urteil vom 27. Juli 2017, a.a.O., Rn. 17 m.w.N.; vgl. zur Struktur der Vorschrift BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2017 – 1 C 3/16 – juris, Rn. 21 ff.). Dabei ist nicht nur von Belang, wie der Gesetzgeber das Ausweisungsinteresse abstrakt einstuft. Vielmehr ist das dem Ausländer vorgeworfene Verhalten, das den Ausweisungsgrund bildet, im Einzelnen zu würdigen und weiter zu gewichten, da gerade bei prinzipiell gleichgewichtigem Ausweisungs- und Bleibeinteresse das gefahrbegründende Verhalten des Ausländers näherer Aufklärung und Feststellung bedarf (BVerwG, Urteil vom 27. Juli 2017, a.a.O., Rn. 39).

Bei der Abwägung sind gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalls insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Bei diesem Kriterienkatalog hat sich der Gesetzgeber an den Maßstäben orientiert, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zur Bestimmung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung im Rahmen von Art. 8 Abs. 2 EMRK als maßgeblich ansieht („Boultif/Üner-Kriterien“). Nach Auffassung des Gesetzgebers sollen die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Umstände sowohl zugunsten als auch zulasten des Ausländers wirken können und sind nicht als abschließend zu verstehen (Urteil des Senats vom 27. Juli 2017, a.a.O., Rn. 31).

Der Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG wird durch die Vorschrift des § 53 Abs. 3 AufenthG ergänzt, wobei die grundlegende Systematik der §§ 53 ff. AufenthG auch auf die Fälle besonderen Ausweisungsschutzes anwendbar bleibt. Für den Grundtatbestand hat der Gesetzgeber mit den Qualifizierungen in den §§ 54 und 55 AufenthG bei der Abwägung zu berücksichtigende Konkretisierungen bereits vorgegeben, die auch für die Abwägung im Rahmen des § 53 Abs. 3 AufenthG berücksichtigt werden dürfen (BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2017, a.a.O., Rn. 46: „den Grundtatbestand … ergänzende Vorschrift“; Beschluss des Senats vom 17. Juli 2020 – OVG 11 N 24.18 – juris, Rn. 15). Die Vorschrift legt erhöhte Ausweisungsvoraussetzungen für mehrere rechtlich privilegierte Personengruppen fest, unter anderem für Ausländer, denen nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht (BVerwG, Urteil vom 27. Juli 2017, a.a.O., Rn. 32). Sie stellt in dreifacher Hinsicht erhöhte Anforderungen, und zwar an die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung („gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr“), an das öffentliche Ausweisungsinteresse („Grundinteresse der Gesellschaft“) und an die Abwägung zwischen dem öffentlichen Ausweisungsinteresse und dem privaten Bleibeinteresse („Ausweisung für die Wahrung dieses [Grund-]Interesses unerlässlich“) (so auch OVG Niedersachsen, Urteil vom 11. Juli 2018 – 13 LB 44/17 – juris, Rn. 48).

Die Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG liegen hier nicht vor. Die Klägerin gehört zu einer rechtlich privilegierten Personengruppe (a). Zwar begründet ihr persönliches Verhalten teilweise gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (b). Soweit diese Gefahr reicht, berührt sie jedoch kein Grundinteresse der Gesellschaft (c). Überdies ist die Ausweisung nicht unerlässlich (d).

a) Die Klägerin fällt unter den besonderen Ausweisungsschutz des § 53 Abs. 3 AufenthG. Unstreitig hat sie über ihren Vater Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erworben. Sie wurde im Bundesgebiet als Tochter eines nach Deutschland eingewanderten türkischen Arbeitnehmers geboren, ist hier aufgewachsen und erfüllt jedenfalls die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1, 1. Spiegelstrich ARB 1/80, nachdem ihr Vater, der ebenfalls türkischer Staatsangehöriger war und bei dem sie in den Jahren 1981 bis 1983 bei rechtmäßigem Aufenthalt im Bundesgebiet durchgängig ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz hatte, jedenfalls in diesem Zeitraum in einem ununterbrochenen unselbständigen Beschäftigungsverhältnis stand. Dass sie nicht zu ihrem Vater gezogen, sondern in Deutschland geboren ist, ist unbeachtlich (EuGH, Urteil vom 7. Juli 2005 – C-373/03 – juris, Rn. 22; BVerwG, Urteil vom 6. Oktober 2005 – 1 C 5/04 – juris, Rn. 11).

b) Das persönliche Verhalten der Klägerin stellt teilweise gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar.

Die nach dem Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 Halbsatz 1 AufenthG erforderliche Feststellung, dass der Aufenthalt eines Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, bedarf einer Prognose zur Wiederholungsgefahr. Die Prognose ist von den Ausländerbehörden und den Verwaltungsgerichten eigenständig zu treffen, ohne dass diese an die Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind. Bei der Prognose sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe einer verhängten Strafe, die Schwere einer konkret begangenen Straftat und die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Hierfür gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen. An die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden (BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2013 – 1 C 10/12 – juris, Rn. 16; OVG Niedersachsen, Urteil vom 11. Juli 2018, a.a.O., Rn. 49; VGH Bayern, Beschluss vom 7. Februar 2018 – 10 ZB 17.1386 – juris, Rn. 8).

Nach § 53 Abs. 3 AufenthG sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts erhöhte Anforderungen zu stellen. Neue Verfehlungen des Ausländers müssen ernsthaft und konkret drohen. Es genügt nicht, dass lediglich eine entfernte Möglichkeit neuer Störungen besteht, weil sich nicht ausschließen lässt, dass der Ausländer erneut strafbare Handlungen begehen könnte (so auch OVG Niedersachsen, Urteil vom 11. Juli 2018, a.a.O., Rn. 51 m.w.N.).

aa) Gemessen daran begegnet es keinen Zweifeln, dass aufgrund des Verhaltens der Klägerin in der Vergangenheit gegenwärtig eine ernsthafte und konkrete Wiederholungsgefahr mit Blick auf von ihr nach Haftentlassung zu erwartende Diebstähle, insbesondere Ladendiebstähle, besteht. Sie ist diesbezüglich in den Jahren 2003 bis 2022 in insgesamt 31 Fällen strafrechtlich verurteilt worden, davon in zehn Fällen noch bevor ihr der Beklagte im Jahre 2010 eine Niederlassungserlaubnis erteilt hat. Die Diebstähle dienten nach den strafgerichtlichen Feststellungen in den meisten Fällen dem Endziel der Beschaffung von Betäubungsmitteln zum Eigenkonsum bei chronischer Betäubungsmittelabhängigkeit. Die letzte Tat beging die Klägerin am 7. September 2022, wobei das Strafgericht feststelle, dass sie „unter einem gewissen Suchtdruck gehandelt haben dürfte“. Sie habe sich nicht von der Begehung der neuen Taten abhalten lassen, obwohl sie unter zweifacher Bewährung gestanden habe, „was auch durch ihre Drogensucht bedingt sein dürfte“ (Urteil des Amtsgerichts Düsseldorf vom 1. Dezember 2022 – 8... – Urteilsabschrift, S. 3 f.). Die ernsthafte und konkrete Gefahr der Wiederholung ihres strafbaren Verhaltens im Bereich der Beschaffungskriminalität liegt danach schon darin begründet, dass eine grundlegende Verhaltensänderung der Klägerin nicht ersichtlich ist. Nachhaltige Bemühungen, sich durch geeignete Therapiemaßnahmen aus der Betäubungsmittelabhängigkeit zu lösen, sind bislang nicht erkennbar. Gerade bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Betäubungsmitteltherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines zukünftigen betäubungsmittel- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (so auch VGH Bayern, Beschluss vom 25. Oktober 2022 – 19 CS 22.1755 – juris, Rn. 18; VGH Bayern, Beschluss vom 7. Februar 2018, a.a.O., Rn. 10; vgl. zur Wiederholungsgefahr bei Betäubungsmittelabhängigkeit auch BVerwG, Urteil vom 14. Mai 2013 – 1 C 13/12 – juris, Rn. 14). Auf die etwaige Absicht, zukünftig eine Therapie durchführen zu wollen, und dahingehende aktuelle Bemühungen, hierfür eine Strafaussetzung zu erreichen, kommt es danach nicht an, sondern auf die erfolgreiche Durchführung einer solchen Therapie selbst.

bb) Keine ernsthafte und konkrete Wiederholungsgefahr besteht gegenwärtig im Hinblick auf Geldfälschung und Betrug. Zwar erlangte die Klägerin nach den Feststellungen des Strafgerichts im Januar 2017 eine gefälschte 50,00-Euro-Banknote und brachte diese als echt in Verkehr, wodurch sie zugleich den Straftatbestand des versuchten Betruges verwirklichte (Amtsgericht Tiergarten, Urteil vom 9. April 2018 – 9... – Urteilsabschrift, S. 4 f.). Es handelt sich beim Schutz der Sicherheit und Zuverlässigkeit des Zahlungsverkehrs und beim Vertrauen in diesen (vgl. zum Schutzgut der Geldwäsche Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl., § 146 Rn. 1) auch um ein hohes Schutzgut. Hat die Klägerin dadurch auch ein Verbrechen begangen, liegt jedoch nur eine einmalige Verfehlung gegen dieses Schutzgut vor, die mehr als sechs Jahre zurückliegt, nur eine einzelne gefälschte Banknote im Nennwert von 50,00 Euro betraf, nicht zu einem Schaden führte und mit einer am untersten Rand des Strafrahmens angesiedelten Freiheitsstrafe (ein Jahr und einen Monat) in die Gesamtstrafenbildung eingestellt wurde. Die Klägerin ist nicht einschlägig rückfällig geworden. Es gibt auch keine hinreichend gewichtigen Anhaltspunkte dafür, dass sie selbst überhaupt in der Lage oder willens wäre, gefälschte Banknoten herzustellen, sich solche erneut zu verschaffen oder sie erneut in den Verkehr zu bringen. Die Gefahr einer erneuten Straftatbegehung in diesem Bereich ist danach nur eine entfernte und nicht in die Gefahrenprognose einzustellen.

cc) Soweit die Klägerin darüber hinaus wegen Erschleichens von Leistungen (14 Fälle), unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln (ein Fall), Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (ein Fall), Beleidigung (zwei Fälle), Nötigung (ein Fall) und fahrlässigen Vollrausches (ein Fall) verurteilt worden ist, kommt es auf eine ernsthafte und konkrete Wiederholungsgefahr schon deshalb nicht an, weil diese Taten die qualifizierten Anforderungen des § 53 Abs. 3 AufenthG an eine schwerwiegende Gefahr, die die Grundinteressen der Gesellschaft berührt, von vornherein nicht erfüllen (dazu sogleich).

dd) Keine Wiederholungsgefahr lässt sich schließlich in Bezug auf Körperverletzungsdelikte feststellen. Die Klägerin ist insoweit bereits nicht einschlägig vorbestraft. Es ist auch nicht aktenkundig geworden, dass in der Vergangenheit je eine andere Person durch die Klägerin körperlich misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt worden wäre. Soweit der Beklagte den Tatverdacht einer versuchten gefährlichen Körperverletzung am 2. Juli 2017 anspricht (Staatsanwaltschaft Berlin, Anklageschrift vom 20. Dezember 2017 – 9...), hinsichtlich derer das Strafgericht das Verfahren vorläufig eingestellt hat (Amtsgericht Tiergarten, Urteil vom 9. April 2018 – 9... – Urteilsabschrift, S. 5 f.), ist nicht mit der erforderlichen Sicherheit erwiesen, dass diese, im Rahmen einer häuslichen Auseinandersetzung zur Anzeige gebrachte, angebliche Versuchstat sich überhaupt wie angeklagt zugetragen hat. Sonstige Anhaltspunkte für körperverletzende Gewalttätigkeit der Klägerin gibt es nicht.

c) Soweit die Wiederholungsgefahr reicht, berührt sie kein Grundinteresse der Gesellschaft.

Die Gefahr berührt ein Grundinteresse der Gesellschaft, wenn dem Ausweisungsanlass ein besonderes Gewicht zukommt, dass sich bei Straftaten aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergibt. Dabei muss ein wichtiges Schutzgut gefährdet sein (BVerwG, Urteil vom 13. Januar 2009 – 1 C 2/08 – juris, Rn. 26; BVerwG, Urteil vom 28. Januar 1997 – 1 C 17/94 – juris, Rn. 19; OVG Niedersachsen, Urteil vom 11. Juli 2018, a.a.O., Rn. 52). Die vom Gerichtshof der Europäischen Union geforderte gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 – C-371/08 – juris, Rn. 80, 82) rechtfertigt eine Ausweisung wegen – auch wiederholter – leichter Kriminalität ohne schwerwiegende Rechtsgutsverletzungen grundsätzlich nicht (vgl. auch OVG Niedersachsen, Urteil vom 11. Juli 2018, a.a.O., Rn. 63; BT-Drs. 15/538, S. 104, zum gleich gelagerten § 6 Abs. 2 FreizügG/EU). Die Begehung von Eigentums- und Vermögensdelikten kann ein Grundinteresse der Gesellschaft insbesondere berühren, wenn beträchtliche Schäden für eine Vielzahl von Personen drohen, die Taten gewerbsmäßig begangen werden oder sonstige erschwerende Umstände vorliegen (so auch OVG Bremen, Urteil vom 15. November 2019 – 2 B 243/19 – juris, Rn. 10).

aa) Gemessen an diesem Maßstab berührt die Gefahr der erneuten Begehung von (Laden-)Diebstählen kein Grundinteresse der Gesellschaft.

(1.) Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts und des Beklagten liegt bereits kein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse vor. Dies wäre gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1a Buchst. d AufenthG der Fall, wenn die Klägerin rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Eigentum, sofern das Gesetz für die Straftat eine im Mindestmaß erhöhte Freiheitsstrafe vorsieht oder die Straftaten serienmäßig begangen wurden, verurteilt worden wäre. Für das Erfordernis einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer Freiheitstrafe von mindestens einem Jahr muss es sich um eine einzige Strafe handeln. Sie kann auch durch nachträgliche Gesamtstrafenbildung erreicht werden. Aus dem Urteil muss in diesem Fall aber eindeutig hervorgehen, dass eine solche zeitige Strafe wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Eigentum festgesetzt worden ist (so auch OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 29. Oktober 2021 – 4 MB 50/21 – juris, Rn. 13; vgl. ferner Bergmann/Dienelt/Bauer, AufenthG, 14. Aufl. 2022, § 54 Rn. 13, 16). Dies ergibt sich bereits unmittelbar und eindeutig aus dem Wortlaut des Gesetzes, welcher die Verurteilung zu „einer“ Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr fordert. Ferner liegt eine serienmäßige Begehung von Straftaten gegen das Eigentum bei zwei Diebstahlsdelikten noch nicht vor, sondern kommt erst ab mindestens drei Taten in Betracht (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15. November 2017 – 11 S 1555/16 – juris, Rn. 39 ff., mit dezidierter und überzeugender Begründung; ebenso Bergmann/Dienelt/Bauer, a.a.O., § 54 Rn. 20 m.w.N.).

Diese Voraussetzungen sind mit Blick auf die von der Klägerin verübten Diebstahltaten nicht erfüllt. Es kommt entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts und des Beklagten nicht darauf an, ob der durch das Amtsgericht Tiergarten mit Urteil vom 8. März 2017 (Az.: 9...) abgeurteilte Diebstahl in sieben Fällen und der mit Urteil vom 9. April 2018 (Az.: 9...) abgeurteilte Diebstahl in drei Fällen serienmäßig begangen wurden. Denn jedenfalls wurde die Klägerin in keinem dieser Urteile wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Eigentum zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt. Das Urteil vom 8. März 2017 verhängte für sieben Taten eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten, aus der zusammen mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einem Monat wegen Geldfälschung in dem Urteil vom 9. April 2018 eine nachträglich Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und fünf Monaten gebildet worden war, worin keine Verurteilung wegen Straftaten gegen das Eigentum zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr liegt, da Geldfälschung keine gegen das Eigentum gerichtete Straftat darstellt. Soweit die Klägerin in dem Urteil vom 9. April 2018 darüber hinaus wegen drei weiterer Taten zu einer separat gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt wurde, liegt darin ebenso wenig eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr. Eine Gesamtbetrachtung der in diesem Urteil enthaltenen zwei separat ausgeurteilten Gesamtstrafen scheidet aus, weil es sich dabei nicht um „eine“ (einzige) Freiheitsstrafe handelt.

Für den durch das Amtsgericht Düsseldorf mit Urteil vom 1. Dezember 2022 (Az.: 8...) abgeurteilten Diebstahl in zwei Fällen verhängte das Strafgericht zwar eine Freiheitsstrafe von einem Jahr. Diese Strafe betrifft aber nur zwei Taten und damit keine serienmäßige Begehung. Soweit das Strafgericht insoweit wegen Gewerbsmäßigkeit auf Diebstahl in besonders schwerem Fall erkannt hat (§ 243 Abs. 1 Nr. 3 StGB), führt dies auch nicht zu einer im Mindestmaß erhöhten Freiheitsstrafe (vgl. zu diesem Begriff § 46b Abs. 1 StGB, § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO), da § 243 StGB keine Qualifikation des Diebstahls, sondern lediglich eine Strafzumessungsregel darstellt („in der Regel“; Schönke/Schröder/Bosch, a.a.O., § 243 Rn. 1; Karlsruher Kommentar-StPO/Diemer, 9. Aufl. 2023, § 153 Rn. 21). Der Gesetzgeber hat der gesamten Neufassung des § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG bewusst eine strafrechtliche Prägung gegeben, was einer gefahrenrechtlich geprägten Auslegung unter Erfassung auch der Strafzumessungsregel nach § 243 StGB entgegensteht (überzeugend Bergmann/Dienelt/Bauer, a.a.O., § 54 Rn. 18 m.w.N.).

(2.) Zwar liegt mit Blick auf die hier relevanten Diebstahltaten ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG vor, da die Klägerin jedenfalls dreimal wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt worden ist. Dieses Interesse allein rechtfertigt eine Ausweisung jedoch im vorliegenden Fall nicht.

Der Senat verkennt nicht, dass die von Eigentums- und Vermögensdelikten ausgehenden Gefahren schwerwiegend sein und ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren können. Die von der Klägerin begangenen Diebstähle stellen ohne Zweifel Unrecht dar, verletzen strafbewehrte gesellschaftliche Verhaltensregeln und sind deshalb zu missbilligen. Unter Berücksichtigung der konkreten Tatumstände, der Art und Schwere der Rechtsgutsverletzungen und der Höhe der verhängten Strafen erreichen sie jedoch nicht ein solches Gewicht, dass sie eine Ausweisung der assoziationsberechtigten Klägerin rechtfertigen. Ihre Taten sind überwiegend der leichten Kriminalität zuzuordnen, namentlich der Beschaffungskriminalität zum Eigenkonsum, haben ihre Ursache überwiegend in ihrer Betäubungsmittelabhängigkeit und führten zu allenfalls überschaubaren Schäden, wobei sie häufig geringwertige Sachen betrafen.

Namentlich die von dem Beklagten zum Anlass seines Bescheides genommenen Diebstahltaten ab dem Jahr 2017 rechtfertigen eine Ausweisung nicht:

Am 13. März 2017 entwendete die Klägerin in einer Drogeriefiliale Kosmetika, Schmuck, Drogerieartikel, Brillen und einen Wecker im Wert von insgesamt 465,08 Euro, wobei sie beabsichtigte, aus dem geplanten Verkaufserlös ihre Betäubungsmittelabhängigkeit zu befriedigen. Am 27. Juli 2017 entwendete die Klägerin in einer Supermarktfiliale sieben Kaffeepackungen im Wert von insgesamt 59,43 Euro, um die Ware zur Befriedigung ihrer Betäubungsmittelabhängigkeit zu veräußern. Am 11. September 2017 entwendete sie Alkoholika, Lebensmittel und Kosmetika für insgesamt 125,96 Euro. In allen Fällen wurde die entwendete Ware unbeschädigt zurückgegeben und konnte wieder in den Verkauf gelangen (Amtsgericht Tiergarten, Urteil vom 9. April 2018 – 9... – Urteilsabschrift, S. 5).

Am 10. Januar 2020 entwendete die Klägerin in einer Supermarktfiliale insgesamt zehn Packungen Kaffeebohnen im Gesamtwert von 69,90 Euro, wobei sie die Ware freiwillig herausgab, nachdem sie gestellt wurde (Amtsgericht Tiergarten, Urteil vom 31. August 2020 – 9... – Urteilsabschrift, S. 5).

Am 4. November 2020 entwendete die zu diesem Zeitpunkt einkommenslose Klägerin in einer Supermarktfiliale Lebensmittel und einen Klebefilm im Gesamtwert von 39,95 Euro, um sie sich zu verschaffen und ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, wobei das Diebesgut sichergestellt wurde (Amtsgericht Tiergarten, Urteil vom 6. Mai 2021 – 9... – Urteilsabschrift, S. 5).

Am 7. September 2022 entwendete die Klägerin in einer Bekleidungskettenfiliale Kleidungsstücke im Gesamtwert von 227,95 Euro, wobei das Strafgericht dahin erkannte, die Klägerin habe sich aus dieser und anderen Taten ihren Lebensunterhalt und ihren Drogenkonsum jedenfalls anteilig finanzieren wollen. Ferner entwendete sie im Personalraum ein Mobiltelefon, um es für sich zu behalten und wieder mit ihrer Familie, die in Süddeutschland lebt, in Kontakt treten zu können, nachdem ihr ihr eigenes Mobiltelefon während eines Überfalls entwendet worden war (Amtsgericht Düsseldorf, Urteil vom 1. Dezember 2022 – 8... – Urteilsabschrift, S. 3).

Bei all diesen Taten sind weder beträchtliche Schäden für eine Vielzahl von Personen entstanden noch sind sonstige erschwerende Umstände erkennbar. Der Senat hat auch nicht die Überzeugung gewonnen, dass die Taten der Klägerin gewerbsmäßig begangen worden wären. Hiervon könnte ausgegangen werden, wenn die Klägerin sich aus einer wiederholten Begehung eine Einnahmequelle von einer gewissen Dauer und Erheblichkeit geschaffen hätte (Schönke/Schröder/Bosch, a.a.O. § 243 Rn. 31), sie also erwerbsmäßig oder berufsähnlich vorgegangen wäre. Die strafrechtlichen Urteile vom 9. April 2018 und von 1. Dezember 2022 gehen zwar von gewerbsmäßigem Diebstahl aus, treffen hierzu jedoch keine hinreichenden tatsächlichen Feststellungen, um diese Beurteilungen nachvollziehen zu können. Dies gilt umso mehr, als die von der Klägerin gestohlenen Sachen auf der anderen Seite nichtselten als geringwertig angesehen worden sind (§ 248a StGB) und auch nach Auffassung der Strafgerichte überwiegend der kurzfristigen Finanzierung ihres Betäubungsmittelkonsums gedient haben. Für die Annahme einer dauerhaften, erheblichen Einnahmequelle fehlt es auch mit Blick auf den Wert der entwendeten Sachen an hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkten, insbesondere soweit das Amtsgericht Düsseldorf feststellt, die Klägerin habe „aus dieser und anderen Taten ihren Lebensunterhalt und auch ihren Drogenkonsum jedenfalls anteilig“ finanzieren wollen. Welche „anderen Taten“ damit angesprochen sind, lässt sich dem Strafurteil nicht mit hinreichender Sicherheit entnehmen. Zudem haben die Strafgerichte in der Mehrzahl der sonstigen Verurteilungen auf einfachen Diebstahls erkannt. Zu einer wesentlich geänderten Sachlage enthalten die demgegenüber auf gewerbsmäßigen Diebstahl erkennenden Urteile keine hinreichenden Feststellungen.

bb) Ohne dass es darauf mangels Wiederholungsgefahr noch ankäme, rechtfertigte auch das mit der einmaligen Verurteilung wegen Geldfälschung einhergehende schwerwiegende Ausweisungsinteresse – auch kumulativ – keine Ausweisung der Klägerin, berührte nämlich in der konkret verübten Weise mit Blick auf Schwere und Häufigkeit offensichtlich nicht das Grundinteresse der Gesellschaft.

cc) Im Hinblick auf Art, Schwere und Häufigkeit der gegen andere Rechtsgüter gerichteten Straftaten gilt Ähnliches, insbesondere für die früheren Verurteilungen wegen Erschleichens von Leistungen (14 Fälle, überwiegend Geldstrafen), unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln (ein Fall, drei Monate Freiheitsstrafe), Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte (ein Fall, Geldstrafe), Beleidigung (zwei Fälle, Geldstrafen), Nötigung (ein Fall, Geldstrafe) und fahrlässigen Vollrausches (ein Fall, sechs Monate eingestellt in eine Gesamtstrafe von neun Monaten Freiheitsstrafe). Diese überwiegend der Bagatellkriminalität, jedenfalls weit überwiegend der leichten Kriminalität zuzuordnenden, länger bis weit zurückliegenden und teilweise schon vor Erteilung der Niederlassungserlaubnis abgeurteilten Straftaten rechtfertigen – auch kumulativ mit den zuvor angesprochenen Straftaten – eine Ausweisung der assoziationsberechtigten Klägerin nicht.

d) Die Ausweisung der Klägerin ist überdies nicht unerlässlich.

Die Ausweisung eines Ausländers, der den größten Teil oder gar die Gesamtheit seiner Kindheit und Jugend rechtmäßig im Aufenthaltsstaat verbracht hat, bedarf nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mit Blick auf das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 Abs. 1 EMRK sehr gewichtiger Gründe. Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist zu berücksichtigen, inwiefern über das Aufwachsen und den langen rechtmäßigen Aufenthalt hinaus familiäre, soziale und wirtschaftliche Bindungen zum Gastland vorhanden sind und eine Entwurzelung vom Land der Staatsangehörigkeit vorliegt (EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2006 – 46410/99 – juris, Rn. 61 ff.; BVerfG, Beschluss vom 10. August 2007 – 2 BvR 535/06 – juris, Rn. 29 f.). Diese Umstände bestimmen maßgeblich, wie schwerwiegend die Ausweisungsgründe im konkreten Fall sein müssen, um die Ausweisung rechtfertigen zu können. Die Gewichtung des Bleibeinteresses darf auch bei Ausländern, die den ganzen oder weit überwiegenden Teil ihres Lebens im Aufenthaltsstaat gelebt haben, nicht schematisch-abstrakt erfolgen. Sie ist nicht bei allen Personen, die zu dieser Gruppe zählen, stets dieselbe (so auch OVG Bremen, Beschluss vom 29. März 2022 – 2 B 44/22 – juris, Rn. 26 ff.; OVG Bremen Urteil vom 15. Dezember 2021 – 2 LB 379/21 – juris, Rn. 48 f.).

Gemessen daran erweist sich die Ausweisung der assoziationsberechtigten Klägerin vorliegend als unverhältnismäßig.

Dem (lediglich) schwerwiegenden Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG steht ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber, weil die Klägerin Inhaberin einer Niederlassungserlaubnis ist. Hinreichende Umstände, die im Rahmen der Abwägung gleichwohl für eine Ausweisung streiten könnten, sind weder dargelegt noch ersichtlich.

Die Klägerin hat nie im Land ihrer Staatsangehörigkeit gelebt und sich dort nur im Rahmen von wenigen Reisen kurzzeitig aufgehalten. Sie hat dort nach ihrem Vortrag auch keinerlei familiäre und sonstige soziale Anknüpfungspunkte. Zwar kann aufgrund ihrer Angaben in der Klageschrift, aber auch aufgrund des Vortrags im Übrigen – worauf der Beklagte zutreffend hinweist – mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Klägerin im familiären Umfeld zumindest bis zu ihrem 12. Lebensjahr (auch) Kurdisch gesprochen hat und zumindest Grundkenntnisse verblieben sind. Es gibt aber keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin in relevantem Ausmaß der türkischen Sprache mächtig ist. Wesentliche Bindungen an die Türkei sind danach kaum feststellbar. Unter besonderer Berücksichtigung ihrer voraussichtlich dauerhaft substitutionspflichtigen und therapiebedürftigen Betäubungsmittelabhängigkeit kann bei dieser Sachlage derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin in der Türkei ohne jede familiäre Anbindung und damit voraussichtlich auf sich allein gestellt in hinreichendem Maße in der Lage wäre, sozial, familiär und wirtschaftlich Fuß zu fassen und für ihre Gesundheit zu sorgen, insbesondere erfolgreich die erforderliche Betäubungsmitteltherapie anzugehen.

Demgegenüber ist die Klägerin in Deutschland geboren und hat ihr ganzes Leben hier gelebt. In Deutschland lebt weiterhin ihr einzig verbliebener Elternteil, ihre Mutter, sowie alle ihrer sechs Geschwister. Entgegen der Annahme des Beklagten steht sie zu ihrer Familie auch in Kontakt. Insbesondere ergibt sich aus dem aktuellen Führungsbericht der Justizvollzugsanstalt T..., dass die Klägerin als Anschrift nach ihrer Haftentlassung die Anschrift ihrer Mutter angegeben hat. Auch besteht ausweislich des aktuellen Vollzugsplans schriftlicher und telefonischer Kontakt zur Familie. Zudem gab die Klägerin im Strafvollzug an, sechs Monate vor ihrer Inhaftierung zu ihrer Mutter gezogen zu sein. Ein Bruder der Klägerin wurde ferner in der Vergangenheit von ihr bevollmächtigt, nicht mehr benötigte Beweisstücke aus ihrem Besitz bei der Asservatenkammer abzuholen. Der Kontakt der Klägerin zu ihrer Familie wird nicht zuletzt und anschaulich dadurch bestätigt, dass zwei ihrer Schwestern in der erstinstanzlichen Verhandlung unaufgefordert als präsente Zeuginnen aufgetreten sind und nicht unerhebliche Angaben zur Klägerin zu machen in der Lage waren, woran deutlich wird, dass sie mit ihr zumindest in einem gewissen Kontakt stehen und sich um die Klägerin sorgen. Dass – wie der Beklagte meint – nähere zwischenmenschliche Beziehungen in Deutschland nicht erkennbar sein sollen und die soziale und gesellschaftliche Integration der Klägerin fast vollständig fehlen soll, ist danach nicht feststellbar.

Der Senat verkennt bei alledem nicht, dass die Integration der Klägerin bislang nicht gelungen ist, sie insbesondere straffällig und betäubungsmittelabhängig geworden ist, sie keine Berufsausbildung abgeschlossen hat, sie auch keiner geregelten Erwerbstätigkeit nachgegangen ist und sie vor der derzeitigen Haftverbüßung keinen eigenen festen Wohnsitz gehabt hat. Nachdem die assoziationsberechtigte Klägerin 1980 in Deutschland geboren wurde und seitdem immer rechtmäßig in Deutschland gelebt hat, hier als Jugendliche bzw. Heranwachsende betäubungsmittelabhängig geworden ist, daraufhin Straftaten meist im Bereich der leichten Kriminalität begangen hat und ihr gleichwohl im Jahre 2010 eine Niederlassungserlaubnis erteilt worden ist, wird es im Rahmen einer Gesamtschau aller für und gegen die Ausweisung streitenden Umstände nunmehr jedoch weiterhin eine im Inland zu bewältigende Aufgabe der Klägerin, ihrer in Deutschland lebenden Familienangehörigen und der zuständigen Stellen sein, weitere Integrationsanstrengungen – etwa die schnellstmögliche Veranlassung einer wirksamen Betäubungsmitteltherapie – zielgerichtet voranzutreiben, um die von dem Beklagten geltend gemachte Gefahr, die nach derzeitiger Sach- und Rechtslage keine hinreichende Grundlage für eine Ausweisung bietet, mittelfristig abzuwehren.

2. Auf dieser Grundlage liegen auch die Voraussetzungen für die Abschiebungsandrohung (Ziffer 2 des Bescheides) nach den §§ 58, 59 AufenthG nicht vor. Mit der Aufhebung der Ausweisung bestehen die Niederlassungserlaubnis der Klägerin und ihr Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei fort, womit es an der Ausreisepflicht (§ 50 Abs. 1 AufenthG) fehlt. Damit gibt es auch keine Grundlage für die auf § 11 AufenthG beruhende Entscheidung zur Befristung der Sperrwirkung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (Ziffer 3 des Bescheides) und für die Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots für den Fall der Abschiebung (Ziffer 4 des Bescheides).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 709 Satz 1 und 2 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.