Gericht | VG Cottbus 5. Kammer | Entscheidungsdatum | 01.12.2023 | |
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Aktenzeichen | 5 L 172/23.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2023:1201.5L172.23.A.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Der sinngemäße Antrag,
der Antragsgegnerin im Wegen einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO vorläufig aufzugeben, der zuständigen Ausländerbehörde zu untersagen, aus der bestandskräftigen Abschiebungsandrohung in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22. November 2019 (...) zu vollstrecken,
hat keinen Erfolg.
Der Antrag ist zulässig, insbesondere statthaft (vgl. Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 13. September 2018 – 3 B 1712/18.A – Juris), aber nicht begründet.
Eine einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO setzt sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes aufgrund Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) als auch einen Anordnungsanspruch voraus, d.h. die bei summarischer Überprüfung der Sach- und Rechtslage hinreichende Aussicht auf Erfolg oder zumindest auf einen Teilerfolg des geltend gemachten Begehrens in einem (etwaigen) Hauptsacheverfahren. Das Vorliegen eines derartigen Anordnungsgrunds und Anordnungsanspruchs ist vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Der Antragsteller hat die Voraussetzungen für die Annahme eines Anordnungsanspruchs nicht glaubhaft gemacht. Vielmehr erweist sich die Ablehnung, das Verfahren wiederaufzugreifen, als rechtmäßig.
Angesichts dessen, dass der Erstbescheid keine Sachentscheidung traf, ist hier § 71 AsylG nicht einschlägig, sondern § 51 VwVfG unmittelbar anwendbar (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. August 2021 – 1 C 55.20 – Juris Rn. 18; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. August 2020 – 3 B 35.19 – Juris Rn. 23).
Von den Wiederaufgreifensgründen des § 51 Abs. 1 VwVfG kommt nur eine nachträgliche Änderung der Sachlage i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG in Betracht.
Die gerichtliche Prüfung beschränkt sich auf die in dem Antrag angeführten Gründe. Denn weder das Bundesamt noch die Verwaltungsgerichte sind befugt, ihrer Entscheidung über die Wiederaufnahme andere als vom Antragsteller geltend gemachte Gründe zugrunde zu legen (BVerwGE 138, 289-301, Rn. 28).
Den Antrag auf Wiederaufgreifen stellte der Antragsteller beim Bundesamt schriftlich am 29. Juli 2022. Seine Begründung erschöpfte sich in dem Hinweis, dass „die Obergerichte u.a. OVG Sachsen zu 5 A 492/21.A festgestellt“ hätten, „dass anerkannte Antragsteller in Griechenland nur unter Verletzung von Art. 3 EMRK leben können.“
Der mit diesen Schriftsätzen unterbreitete Vortrag verfehlt in mehrfacher Hinsicht die sich aus § 51 VwVfG ergebenden Anforderungen.
Zunächst muss die Begründung Tatsachen aufzeigen, die sich im Verhältnis zu den tatsächlichen Annahmen im Bescheid als Änderung ausnehmen.
Der Antragsteller zeigt schon keine Tatsachen, also nachprüfbare Einzelschilderungen, aus denen die Möglichkeit einer positiven Einschätzung des Asylbegehrens folgt (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juni 1987 – 9 C 251.86 – BVerwGE 77, 323-331, Rn. 8), auf. Der Hinweis auf anderslautendende Urteile genügt nicht. Erforderlich wäre, zumindest darzulegen, dass und ggf. welche neuen Tatsachen diesen Urteilen zu Grunde liegen. Denn die bloße Änderung der Rechtsprechung, selbst höchstrichterlicher Rechtsprechung, begründet keinen Wiederaufnahmegrund (BVerwG, Beschluss vom 16. Februar 1993 – 9 B 241.92 – Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 29).
Wird eine nachträgliche Änderung der Sachlage zugunsten des Asylbewerbers (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) geltend gemacht, genügt es im Übrigen nicht, dass lediglich eine diesbezügliche Behauptung aufgestellt wird. Vielmehr muss substantiiert eine nachträgliche Änderung im Verhältnis zu dem früher geltend gemachten Sachverhalt dargelegt werden (BVerwG, Urteil vom 25. Juni 1991 – 9 C 33.90 – Buchholz 402.25 § 14 AsylVfG Nr. 10). Dazu muss nicht nur der Status quo, sondern vorliegend auch die Lage beim Erlass des verwaltungsgerichtlichen Urteils vom 10. November 2021 jedenfalls ansatzweise dargelegt werden (vgl. zu diesem Erfordernis Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 15. März 2022 – 4 A 154/19.A – Juris Rn. 26). Derartiges ist dem Vorbringen des Antragstellers nicht zu entnehmen.
Des Weiteren verfehlt das Vorbringen die mit Blick auf die einzuhaltende Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG geltenden Darlegungsobliegenheiten, die mangels einer Sachentscheidung im Ausgangsbescheid weiterhin Geltung beanspruchen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. August 2021 – 1 C 55.20 – Juris Rn. 18).
Danach obliegt es dem Asylsuchenden, innerhalb der Ausschlussfrist von drei Monaten (§ 51 Abs. 3 VwVfG) die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Antrags auf Wiederaufgreifen, zu denen auch die Fristwahrung selbst gehört, schlüssig darzulegen (OVG des Saarlandes, Beschluss vom 8. Juni 2006 – 2 Q 7/06 – Juris Rn. 17; Hessischer VGH, Beschluss vom 8. März 2000 – 12 UZ 1407/98.A – Juris Rn. 4). Dies gilt auch dann, wenn der jeweilige Wiederaufgreifensgrund - etwa eine Änderung der Sach- oder Rechtslage - allgemeinkundig oder gerichtskundig ist. Denn für jeden neuen Wiederaufgreifensgrund, der während eines bereits anhängigen Asylfolgeverfahrens eingetreten ist, läuft eine eigenständige Drei-Monats-Frist nach § 51 Abs. 3 VwVfG. Dies gilt nicht nur im Verfahren vor dem Bundesamt, sondern auch für während des gerichtlichen Verfahrens neu vorgebrachte Wiederaufgreifensgründe (BVerwG, Beschluss vom 31. Januar 2011 – 10 B 26.10 – Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 57; BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2010 – 10 C 13.09 – BVerwGE 138, 289-301, Rn. 28). Vorliegend enthält sich der Antragsteller indes jedweder Angabe dazu, wann ihm jene neuen obergerichtlichen Entscheidungen, wozu schon auch das Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 23. November 2021 – 3 B 53.19 – gehört, bekannt geworden sein sollen, die er vor dem Bundesamt zur Stützung seines Antrages auf Wiederaufgreifen ins Feld führt, wobei es auf die Kenntnis durch den Antragsteller oder seinen Prozessbevollmächtigten ankommt (BVerwG, Beschluss vom 31. Januar 2011 – 10 B 26.10 – Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 57). Bei Dauersachverhalten – wie etwa dem Ausbruch einer Epidemie oder dem Wandel der Lebensverkältnisse - ist grundsätzlich die erstmalige Kenntnisnahme von den Umständen für den Fristbeginn maßgeblich. Bei sich prozesshaft und kontinuierlich entwickelnden Sachverhalten ist entscheidend, wann sich die Entwicklung der Sachlage insgesamt so verdichtet hat, dass von einer möglicherweise entscheidungserheblichen Veränderung im Sinne eines Qualitätsumschlags gesprochen werden kann (Sächsisches OVG, Urteil vom 21. Juni 2017 – 5 A 109/15.A – Juris Rn. 20). Zu alledem verhält sich der Vortrag nicht ansatzweise.
Der Antragsteller hat auch keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiteren Sinne.
Gründe, die eine Ermessensentscheidung nach § 49 VwVfG rechtfertigten, sind insbesondere angesichts der Bestandskraft der Entscheidung über den vorausgegangenen Wiederaufgreifensantrag vom Bundesamt ermessensfehlerfrei verneint worden.
Schließlich verdichtet sich das dem Bundesamt nach § 51 Abs. 5 i.V.m. § 49 VwVfG eingeräumte Ermessen nicht dahin, dass der Antragsteller eine erneute Prüfung beanspruchen kann.
Es entspricht höchstrichterlicher Rechtsprechung, dass das Bundesamt bei Fehlen der Voraussetzungen von § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nach pflichtgemäßem Ermessen gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG zu entscheiden hat (BVerwG, Urteil vom 13. August 2020 – 1 C 23.19 – Juris Rn. 19 – 21: sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne), ob die bestandskräftige frühere Entscheidung zurückgenommen oder widerrufen wird. Insoweit besteht ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung. (BVerwG, Urteil vom 21. März 2000 – 9 C 41.99 –, BVerwGE 111, 77/82; BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 2004 – 1 C 15.03 –, BVerwGE 122, 103-109, Rn. 13). Fehlt es an einer behördlichen Ermessensentscheidung, etwa weil der Wiederaufgreifensgrund erst im gerichtlichen Verfahren vorgebracht wurde, ist das Gericht gehalten, die Sache nach Möglichkeit spruchreif zu machen und abschließend zu entscheiden (§ 113 Abs. 5 Satz 1, § 86 Abs. 1 VwGO, § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG; vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 2004 – 1 C 15.03 –, BVerwGE 122, 103-109, Rn. 14 - 15). Eine abschließende gerichtliche Entscheidung zugunsten des Ausländers ist nur dann geboten, wenn ein Festhalten an der bestandskräftigen negativen Entscheidung zu den Abschiebungsverboten zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde und das Ermessen der Behörde deshalb auf Null reduziert ist (BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 2004 – 1 C 15.03 –, BVerwGE 122, 103-109, Rn. 16).
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Aufrechterhaltung der Entscheidung ist nicht „schlechthin unerträglich“. Ob ein solcher Ausnahmefall angenommen werden kann, hängt von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte ab (BVerwG, Urteil vom 7. Oktober 2020 – 2 C 18.19 –, BVerwGE 169, 318-335, Rn. 42). Dies kommt in Betracht, wenn der Ausländer bei einer Abschiebung einer extremen individuellen Gefahrensituation - der Schwere nach vergleichbar einer extremen allgemeinen Gefahrensituation im Sinne der Rechtsprechung zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bzw. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG - ausgesetzt würde und das Absehen von einer Abschiebung daher verfassungsrechtlich zwingend geboten ist. Von einer solchen Ermessensreduzierung kann grundsätzlich nur bei einer Gefährdung mit dieser besonderen Intensität ausgegangen werden (BVerwG, Urteile vom 20. Oktober 2004 - 1 C 15.03 -, BVerwGE 122, 103 = Juris, Rn. 12 f., 16, m. w. N., und vom 7. September 1999 - 1 C 6.99 -, NVwZ 2000, 204 = Juris, Rn. 17).
Gemessen daran kann der Antragsteller Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm unabhängig von der versäumten Wiederaufgreifensfrist Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassung wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde". Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 2. August 2018 – 4 A 2385/14.A – Juris Rn. 12 – 15 unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteile vom 8. September 2011 - 10 C 14.10 -, BVerwGE 140, 319 = Juris, Rn. 22 f., und vom 17. Oktober 2006 - 1 C 18.05 -, BVerwGE 127, 33 = Juris, Rn. 16, jeweils zur verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei Fehlen einer ausländerpolitischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 AufenthG).
Eine solche Extremgefahr macht der Antragsteller schon selbst nicht geltend. Er beruft sich ausschließlich auf obergerichtliche Rechtsprechung, die mit dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU GR-Charta annimmt. Letztere Einschätzung impliziert aber nicht das Vorliegen einer Extremgefahr. Der Begriff der "Extremgefahr" wird im Zusammenhang mit dem nationalen Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG verwendet. Danach kann ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 Rn. 38). Dieser strengere Maßstab ist zur Rechtfertigung der Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG geboten, lässt sich jedoch nicht auf die in § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK getroffene Regelung übertragen (BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 – 1 B 25.18 – Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 AufenthG Nr. 58).
Das Ergebnis erweist sich auch mit Blick auf § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK bzw. Art 4 EU-GR-Charta nicht als „schlechthin unerträglich“. Der absolute Charakter dieser Vorschrift verlangt nicht, dass sie ungeachtet der Rechtskraft oder der Bestandskraft jederzeit umfassend neu geprüft werden muss. Ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht gebietet nicht in jedem Fall eine Überprüfung durch die nationalen Behörden (BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2009 – 1 C 26.08 –, BVerwGE 135, 137-150, Rn. 20). Denn auch die Rechtssicherheit gehört zu den im Unionsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen. So hat der Gerichtshof insbesondere festgestellt, dass die Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung, die nach Ablauf angemessener Klagefristen oder Erschöpfung des Rechtswegs eingetreten ist, zur Rechtssicherheit beiträgt und das Unionsrecht nicht verlangt, dass eine Behörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen (st. Rspr. seit EuGH, Urteil vom 13. Januar 2004 – C-435/00 – Rn. 24 und 28: zum Wiederaufgreifen im Anschluss an Feststellung unionsrechtswidriger Praxis nationaler Stellen; zuletzt EuGH, Urteil vom 16. Oktober 2019 – C-189/18 – Juris Rn. 45).
Dass diese Grundsätze auch für Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-GR-Charta gelten, zeigt das Unionsrecht selbst. Der Einwand der res iudicata kann für den gesamten internationalen Schutz Geltung beanspruchen (vgl. Richtlinie 2013/32/EU Erwägungsgrund Nr. 36). Dies gilt also auch für den subsidiären Schutz gemäß Art. 15 lit b) Richtlinie 2011/93/EU wegen Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung. Ist eine behördliche Entscheidung, die den subsidiären Schutz mit Blick auf drohende Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung versagt, in Bestandskraft erwachsen, kann der Antragsteller eine erneute Prüfung nicht mit dem bloßen Hinweis erreichen, dass ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK oder Art. 4 EU-GR-Charta droht. Vielmehr müssen zusätzlich die einschränkenden Voraussetzungen für einen Folgeantrag gemäß Art. 40 Richtlinie 2013/32/EU erfüllt sein. Damit nimmt das Unionsrecht zu Gunsten der Rechtskraft in den Fällen einen möglichen Verstoß gegen Art. 3 EMRK oder Art. 4 EU-GR-Charta hin, in denen die bestandskräftige Entscheidung fehlerhaft ist, oder etwa dann, wenn neue Elemente im früheren Verfahren schuldhaft nicht vorgebracht wurden. Eine Öffnungsklausel für Fälle des offensichtlichen Verstoßes gegen Art. 3 EMRK oder Art. 4 EU-GR-Charta kennt das Unionsrecht an dieser Stelle nicht.
Durchbricht die Berufung auf Art. 3 EMRK oder Art. 4 EU-GR-Charta nach alledem nicht ohne Weiteres die Bestandskraft, kommt ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiteren Sinne nur nach den vom EuGH entwickelten Grundsätzen für die Durchbrechung der Rechtskraft in Betracht, nämlich nur im Falle eines offensichtlichen Verstoßes gegen Unionsrecht (EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2012 – C-249/11 – Rn. 81f. zur Freizügigkeit für Unionsbürger).
Im konkreten Falle des Antragstellers kann von Offensichtlichkeit eines drohenden Verstoßes gegen Art. 3 EMRK keine Rede sein.
Dies gilt zunächst in Ansehung seiner individuellen Verhältnisse. In dem nach Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung rechtskräftigen Urteil vom 10. November 2021 führte das Gericht zu den individuellen Prädispositionen des Antragstellers aus:
„Diese durch den wirtschaftlichen Aufschwung entstehenden Chancen zu ergreifen, kann von dem jungen und arbeitsfähigen Antragsteller ohne Unterhaltslasten erwartet werden. Dass ihn seine Fußverletzung daran behindert, eigenen Unterhalt zu bestreiten, behauptet der Antragsteller selbst nicht. Etwas Anderes ergeben auch nicht die ärztlichen Bescheinigungen. Im Übrigen zeigen schon seine jeweils mehrmonatigen Voraufenthalte im Iran und in der Türkei sowie seine selbständig organisierte Weiterreise aus Griechenland über Italien nach Frankreich und schließlich nach Deutschland, dass er über die erforderliche Gewandtheit verfügt, in schwierigen Situationen zurecht zu kommen. Diese in der Vergangenheit gezeigte Gewandtheit kommt ihm dabei zustatten, sein Leben in Griechenland zu organisieren und durch Hilfs- und Gelegenheitstätigkeiten jedenfalls einen Teil seines Lebensunterhalts selbstständig sichern zu können.“
Dieser Einschätzung seiner individuellen Verhältnisse tritt der Antragsteller weder in der Begründung seines Antrags auf Zulassung der Berufung vom 15. Dezember 2021 noch im hier inmitten stehenden Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens entgegen.
Zur allgemeinen Lage in Griechenland trägt der Antragsteller bis auf den Verweis auf obergerichtliche Entscheidungen nichts vor. Der Verweis selbst ist unbehelflich. Die unionsrechtliche Vermutung für EMRK-konforme Behandlung kann nur auf der Grundlage gebührend aktualisierter Angaben widerlegt werden (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-297/17 – Juris Rn. 85 und 88; Urteil vom 30. November 2023 – C 228/21 u. a. – Rn. 136; BVerwG, Beschluss vom 19. Dezember 2022 – 1 B 73.22 – Juris Rn. 8). Deshalb kann in Verfahren der vorliegenden Art in der Regel nicht angenommen werden, dass eine obergerichtliche Grundsatzentscheidung zu einer bestimmten Tatsachenfrage nach einem längeren Zeitablauf noch unverändert Gültigkeit beanspruchen kann (OVG Lüneburg, Beschluss vom 4. Dezember 2020 – 10 LA 264/19 – Juris Rn. 16). Die dem vom Antragsteller benannten Urteil des Sächsisches Oberverwaltungsgerichts vom 27. April 2022 – 5 A 492/21 A – zu Grunde liegenden Erkenntnisse stammen aus dem Zeitraum von 2017 bis August 2021. Die neueste Erkenntnisquelle berichtet demnach über Verhältnissee, die länger als zweieinhalb Jahre zurückliegen. Nicht nur wegen des Zeitablaufs, sondern schon mit Blick auf das Ende der Corona-Pandemie kann dieser Tatsachenstoff nicht mehr als „gebührend aktualisierte Angaben“ i.S.d. EuGH-Rechtsprechung gewertet werden.
Auf Grund der dem Gericht vorliegenden Informationen zur allgemeinen Lage in Griechenland ist ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK oder Art, 4 EU-GR-Charta nicht offensichtlich.
Angesichts der Arbeitsmarktsituation drängt es sich nicht auf, dass ein erwerbsfähiger Mann ohne Unterhaltslasten außerstande ist, durch eigene Erwerbstätigkeit ein Existenzminimum oberhalb der Schwelle des Art. 3 EMRK bzw. Art, 4 EU-GR-Charta zu erwirtschaften.
Nach den neusten Angaben des staatlichen Statistikamts Elstat ging die Arbeitslosenquote im September auf zehn Prozent zurück. Das war der niedrigste Stand seit September 2009, als die Quote 10,1 Prozent betrug. Die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt spiegelt die starke Konjunktur wider. Griechenlands Bruttoinlandsprodukt (BIP) legte in den beiden vergangenen Jahren insgesamt um 14 Prozent zu. Eine Rezession ist nicht in Sicht. Dieses Jahr erwartet die Regierung ein Plus von 2,3 Prozent. Für 2024 rechnet Wirtschafts- und Finanzminister Kostis Hatzidakis sogar mit drei Prozent Wachstum (Handelsblatt vom 7. November 2023: „Arbeitslosigkeit in Griechenland fällt unter Vorkrisenniveau“). Die Beschäftigungschancen hängen nicht von Qualifikationen ab, die dem Antragsteller abgehen. Denn zu den Branchen mit der besten Entwicklung und dem höchsten Anstieg der Beschäftigung gehören das verarbeitende Gewerbe, Transportwesen, Lagerwesen, öffentliche Verwaltung und Bildung. Maßgeblich im Falle des Antragstellers wirkt sich aus, dass gerade in der Tourismusbranche eine Vielzahl von Arbeitsplätzen angeboten wird (EURES, Arbeitsmarktinformationen: Griechenland vom 10. August 2023). Seit Mitte 2022 gibt es immer häufiger Berichte, denen zufolge in bestimmten Branchen (Landwirtschaft, Bau, Tourismus) Arbeitskräftemangel herrscht, und Arbeitgeber aktiv nach Arbeitskräften auch unter Schutzberechtigten suchen (Deutsche Botschaft Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, Stand Februar 2023, Seite 7, Ziffer 3.4).
Obdachlosigkeit unter Flüchtlingen und Migranten stellt nach dem Bericht der Deutschen Botschaft Athen (a.a.O. Seite 9, Ziffer 3.7.1) weiterhin kein augenscheinliches Massenphänomen dar, was unter Bezugnahme auf die diesbezügliche Auskunft vom 06.12.2018 an das VG Stade (Az. 10 A 1632/18) auf die Bildung von eigenen Strukturen und Vernetzung innerhalb der jeweiligen Landsmannschaften zurückgeführt wird, über welche auf informelle Möglichkeiten zurückgegriffen werden kann. Für die Erfüllung der an Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-GR-Charta zu messenden Grundbedürfnisse gelten - gerade bei nichtvulnerablen Personen - nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. So kann etwa der Umstand, dass der betreffenden Person bezogen auf die Unterkunft ein Schlafplatz in einer von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen gestellten Notunterkunft oder in einer staatlich geduldeten "informellen Siedlung" zur Verfügung steht, genügen, sofern die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zumindest zeitweilig Schutz vor den Unbilden des Wetters bieten und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lassen (BVerwG, Beschluss vom 19. Januar 2022 – 1 B 83.21 –Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 36 Rn. 14).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83 b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).