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einstweilige Anordnung - Erziehungsmaßnahme - Eintrag ins Klassenbuch - kein Verwaltungsakt - Schülerbogen - Anspruch auf Entfernung - unvollständige (dadurch verzerrende) Darstellung - Stigmatisierungswirkung


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat Entscheidungsdatum 07.12.2023
Aktenzeichen OVG 3 S 100/23 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2023:1207.OVG3S100.23.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 35 VwVfG, § 62 Abs 2 Nr 4 SchulG BE, § 7 Abs 3 SchulG §5aV BE, § 15 Abs 2 SchulG §5aV BE

Tenor

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 12. Oktober 2023 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, das Schreiben vom 5. Mai 2023 über einen Klassenbucheintrag vorläufig aus dem Schülerbogen des Antragstellers zu entfernen,

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Antragsgegner.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO maßgebliche Beschwerdebegründung führt zur Änderung der angefochtenen Entscheidung und zum Erlass der aus dem Tenor ersichtlichen einstweiligen Anordnung, die dem mit der Beschwerde sinngemäß weiterverfolgten erstinstanzlichen Begehren entspricht.

Allerdings stellt die Beschwerde die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, es handele sich bei dem Eintrag ins Klassenbuch um eine Erziehungsmaßnahme nach § 62 Abs. 2 Nr. 4 SchulG, die keinen Verwaltungsakt im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 2 Satz 1 BlnVwVfG darstelle, nicht durchgreifend in Frage. Für die Annahme eines Verwaltungsakts fehlt es an dem Erfordernis, dass die Maßnahme auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet sein muss, also auf Bewirkung einer Rechtsfolge im Rechtskreis des Schülers (anders wohl Rux, Schulrecht, 6. Aufl. 2018, Rn. 440 ff.). Die Eintragung ins Klassenbuch hält innerschulisch einen Vorgang fest, ohne hieran Konsequenzen im persönlichen Rechtskreis des Schülers zu knüpfen. Der Umstand, dass der Antragsgegner sich hier entschlossen hat, die Antragsteller zu 2 und 3 schriftlich über diesen Eintrag zu informieren - § 62 Abs. 3 Satz 2 SchulG fordert nur, die Erziehungsberechtigten in geeigneter Weise über die gewählten erzieherischen Mittel zu informieren -, und dass nach § 7 Abs. 3 SchuldatenV Unterlagen über Erziehungsmaßnahmen Bestandteil des Schülerbogens sind, der nach § 15 Abs. 2 SchuldatenV bei einem Wechsel innerhalb Berlins von einer allgemeinbildenden Schule auf eine andere allgemeinbildende Schule übersandt wird, verleiht der Maßnahme zwar faktisch Außenwirkung. Maßgeblich für die Annahme eines Verwaltungsakts ist jedoch, dass die Maßnahme ihrem objektiven Sinngehalt auf Bewirkung einer Rechtsfolge „nach außen“ bestimmt ist (vgl. U. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 10. Aufl. 2023, § 35 Rn. 147). Das ist für den hier fraglichen Klassenbucheintrag nicht zu erkennen.

Die Beschwerde macht jedoch mit Erfolg geltend, dass die Antragsteller einen Anspruch auf Entfernung der Unterlagen über den Klassenbucheintrag aus dem Schülerbogen des Antragstellers zu 1 haben, weil dieser aller Voraussicht nach rechtswidrig ist und den Antragsteller zu 1 in seinen Rechten verletzt. Angesichts dessen fehlt es für den gestellten Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nicht am erforderlichen Rechtsschutzinteresse.

Der Klassenbucheintrag hat, wie in dem Mitteilungsschreiben vom 5. Mai 2023 wiedergegeben, folgenden Wortlaut: „In einem Konfliktfall wurde eine körperliche Gewalthandlung an einem jüngeren Schüler ausgeübt, so dass dieser ambulant im Krankenhaus aufgenommen und ärztlich versorgt werden musste.“ Diese Aussage verkürzt den Sachverhalt, wie er sich aus der Darstellung in dem Kurzbericht der Schulleitung vom 4. Mai 2023 ergibt, in für die Bewertung des Verhaltens des Antragstellers zu 1 bedeutsamer Weise.

Nach dem Bericht der Schulleitung wurde der Antragsteller zu 1, damals Schüler der 6. Klasse, am 19. AprilF...2023 von sieben Schülern der 4. Klasse in die Toilette verfolgt und dort bedrängt, konnte entkommen und lief auf den Schulhof. Dort habe sich einer der Viertklässler auf den Antragsteller zu 1 geworfen, die anderen Jungen hätten im Kreis um die beiden am Boden liegenden Kinder gestanden. In dieser Situation habe der Antragsteller zu 1 sein Knie so fest in den Genitalbereich des Jungen aus der 4. Klasse gestoßen, dass dieser im Krankenhaus ambulant habe behandelt und mit neun Stichen genäht werden müssen.

Die Beschwerde weist zu Recht darauf hin, dass der so von der Schule beschriebene Sachverhalt eher auf eine Notwehrsituation hindeutet. Ob der Kniestoß die Grenzen der Notwehr im Sinne von §§ 32, 33 StGB überschritt, bedarf hier nicht der Entscheidung. Jedenfalls lässt sich dem Schulbericht nicht entnehmen, dass erwachsenes Schulpersonal, etwa die Hofaufsicht, zum Zeitpunkt der Verletzungshandlung unmittelbar vor Ort und zum Eingreifen bereit gewesen sei, so dass dem Antragsteller zu 1 zuzumuten gewesen wäre, sich auf deren Hilfe zu verlassen. Unabhängig von einer strafrechtlichen Bewertung des Vorgangs trägt jedenfalls seine Bezeichnung als „Konfliktfall“, in dem „eine körperliche Gewalthandlung an einem jüngeren Schüler ausgeübt wurde“, dem Umstand nicht Rechnung, dass der Antragsteller zu 1 von dem zwei Jahre jüngeren Schüler angegriffen worden war, im Beisein weiterer sechs Schüler, die zuvor gemeinsam mit dem Angreifer den Antragsteller zu 1 in der Toilette bedrängt hatten. Die Beschreibung des Vorfalls im Klassenbuch legt vielmehr den Schluss nahe, der Antragsteller habe in einem nicht weiter spezifizierten Konflikt aus freien Stücken zum Mittel der Gewalt gegenüber einem jüngeren Schüler gegriffen und diese zudem so überzogen, dass es zu einer erheblichen, behandlungsbedürftigen Verletzung kam. Dass eine solche Darstellung vermutlich nicht beabsichtigt war und nach dem Bericht der Schule auch gegen die „Angreifer“ Erziehungsmaßnahmen ergriffen wurden, ändert nichts daran, dass jedenfalls die so begründete Erziehungsmaßnahme gegen den Antragsteller zu 1 rechtswidrig war.

Spricht danach alles dafür, dass die Eintragung im Klassenbuch vom 5. Mai 2023 rechtswidrig war, müssen die Antragsteller ihren Verbleib im Schülerbogen nicht dulden, sondern ist der Antragsgegner verpflichtet, sie aus dem Schülerbogen zu entfernen bzw. entfernen zu lassen. Der Umstand, dass der Schülerbogen mittlerweile von der Grundschule an die weiterführende Schule abgegeben worden ist, stellt hierfür kein rechtliches Hindernis dar. Die Beschwerde weist zu Recht darauf hin, dass es bei Verbleib des Eintrags im Schülerbogen zu einer Stigmatisierung des Antragstellers zu 1 als eines Schülers kommen kann, der bei Konflikten intensive körperliche Gewalt gegenüber jüngeren Schülern einsetzt. Die Gefahr ist umso größer, nachdem der Schülerbogen an die weiterführende Schule abgegeben wurde, an der der eigentliche Geschehensablauf naturgemäß nicht bekannt ist. Der Schulbericht vom 4. Mai 2023 ist dem Schülerbogen - anders als das Widerspruchsschreiben der Eltern und die Antwort der Senatsverwaltung - nicht beigefügt worden; letzterer ist zwar zu entnehmen, dass der Vorfall als „vielschichtig“ angesehen werde und die Schule „mehrere Schüler in der Verantwortung“ sehe, nicht aber der Ablauf des Geschehens, wie ihn der Schulbericht schildert.

Angesichts des berechtigten Interesses der Antragsteller an der Entfernung der Unterlagen über die rechtswidrige Erziehungsmaßnahme ist schließlich auch der erforderliche Anordnungsgrund gegeben. Die Antragsteller können mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG nicht auf das Hauptsacheverfahren verwiesen werden, in dessen Verlauf sich ihr Anspruch auf Entfernung sich - auch unter Berücksichtigung von Aufbewahrungsdauer und Löschungsfristen nach § 16 SchuldatenV - voraussichtlich erledigen würde.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).