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Somalia; Lower Shabelle; Qoryooley; subsidiärer Schutz; Abschiebungsverbot; unmenschliche oder erniedrigende; Behandlung; humanitäre Lage; Akteur; innerstaatlicher bewaffneter Konflikt; willkürliche Gewalt; soziales Sicherungsnetzerweiterte Familie; Minderheitenclan; Madhibaan; Gabooye


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 4. Senat Entscheidungsdatum 30.11.2023
Aktenzeichen OVG 4 B 8/22 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2023:1130.OVG4B8.22.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen Art 3 MRK, Art 4 Abs 4 EURL 95/2011, Art 15 EURL 95/2011, § 4 Abs 1 S 1 AsylVfG 1992, § 4 Abs 1 S 2 Nr 1 AsylVfG 1992, § 4 Abs 1 S 2 Nr 2 AsylVfG 1992, § 4 Abs 1 S 2 Nr 3 AsylVfG 1992, § 4 Abs 3 AsylVfG 1992, § 3c AsylVfG 1992, § 60 Abs 5 AufenthG, § 60 Abs 7 AufenthG

Leitsatz

Die schlechte humanitäre Lage in Somalia begründet keinen Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, weil sie nicht zielgerichtet von einem Akteur im Sinne des § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3c AsylG ausgeht.

Die derzeitige Situation in der Region Lower Shabelle (Somalia) ist nicht durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgesetzt wäre.

Die schlechte humanitäre Situation in Somalia führt bei einer wertenden Gesamtschau nicht dazu, dass eine Rückführung dorthin in Anwendung von § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK generell ausgeschlossen wäre. Vielmehr ist unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere unter Berücksichtigung der individuellen Situation der betroffenen Person zu prüfen, ob bei ihr das für Art. 3 EMRK erforderliche „Mindestmaß an Schwere“ bei einer Rückkehr nach Somalia erreicht wird.

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 20. August 2019 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin geändert, soweit die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Januar 2017 verpflichtet wird, dem Kläger subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.

Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 4 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Januar 2017 verpflichtet, für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Somalias festzustellen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Von den Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Kläger 2/3 und die Beklagte 1/3.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 v.H. des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 v.H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beklagte wendet sich gegen ihre Verpflichtung durch das Verwaltungsgericht, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen.

Der 1994 geborene Kläger ist somalischer Staatsangehöriger muslimisch-sunnitischen Glaubens. Er reiste Anfang November 2014 in das Bundesgebiet ein und stellte am 11. Dezember 2014 einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) im Dezember 2016 gab er an, er gehöre zum Clan der Madhibaan, Subclan Mahmed Bare, Subsubclan Saaddhagad und stamme aus Qoryooley (Qoryoley) in der Region Shabeellaha Hoose. Dort habe er bis zu seiner Flucht mit seiner Mutter und seiner Schwester zusammengewohnt. Wo seine Mutter und seine Schwester derzeit lebten, sei ihm nicht bekannt. Sein Vater sei im Jahr 2009 von einem anderen Stamm erschossen worden. In Somalia lebten noch eine weitere Schwester, ein Onkel und eine Tante. Er habe Anfang 2012 geheiratet. Seine Frau sei zuletzt in Qoryooley gewesen. Wo sie jetzt sei, wisse er nicht. Zu den Gründen seiner Flucht führte er aus, er sei im August 2013 in der Moschee von zwei ihm bekannten Männern angesprochen worden. Sie hätten ihm gesagt, er solle für die Al-Shabaab kämpfen. Ihm sei aufgegeben worden, am nächsten Tag um 17 Uhr eine Bombe zu einer Polizeistation zu bringen. Die Männer hätten ihm gedroht, sie würden ihn und seine Familie umbringen, wenn er diesen Auftrag nicht erfülle. Er sei dann zur Polizeistation gegangen und habe dem Kommandanten von dem Vorfall berichtet. Dieser habe ihm für die Information gedankt und seine Sicherheit garantiert. Die Polizei habe die beiden Männer gesucht und bei dem Versuch, sie zu verhaften, den einen getötet und den anderen verletzt. Der Verletzte sei später gestorben. Die Familien der Verstorbenen seien zu ihm nach Hause gekommen, hätten die Wohnung demoliert und seine Schwester brutal zusammengeschlagen. Die Polizei habe ihn daraufhin zu seiner Sicherheit in das Gefängnis gebracht. Alle Polizisten seien jedoch vom Stamm der Getöteten gewesen, weshalb er aus dem Gefängnis zu entfernten Verwandten geflüchtet sei. Von denen habe er erfahren, dass er von der Al-Shabaab und der Polizei gesucht werde. Der Sohn seiner Verwandten habe ihn dann zu seiner Mutter nach Afgooye gebracht. Diese habe ihm 300 US-Dollar für die Flucht gegeben.

Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 12. Januar 2017 die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), auf Anerkennung als Asylberechtigten (Ziffer 2) sowie auf Zuerkennung subsidiären Schutzes ab (Ziffer 3) und stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (Ziffer 4). Zugleich drohte es dem Kläger die Abschiebung nach Somalia an (Ziffer 5) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6).

Mit seiner am 23. Januar 2017 erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt und zur Begründung vorgetragen, er müsse bei einer Rückkehr nach Somalia mit erheblicher Verletzung oder dem Tod rechnen. Ihm drohe sowohl von der Al-Shabaab als auch von den Familienclans und der Polizei Gefahr. Er sei vorverfolgt ausgereist. Es sei plausibel, dass seine Schwester und seine Mutter nach seiner Ausreise nicht mehr angegriffen oder unter Druck gesetzt worden seien. Weibliche Familienangehörige würden traditionell deutlich weniger von Sippenhaft betroffen als männliche. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat der Kläger angegeben, keine Familienangehörigen mehr in Somalia zu haben, und die Klage zurückgenommen, soweit diese auf seine Anerkennung als Asylberechtigter gerichtet war.

Das Verwaltungsgericht Berlin hat mit dem aufgrund mündlicher Verhandlung am 20. August 2019 ergangenen Urteil das Verfahren eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen worden ist. Es hat die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes vom 12. Januar 2017 verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen, und die Klage im Übrigen abgewiesen. Der Kläger habe einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes, nicht jedoch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Ihm drohe in Somalia wegen der dort herrschenden schlechten humanitären Bedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Somalia sei spätestens seit Beginn des Bürgerkriegs 1991 ohne flächendeckende effektive Staatsgewalt. In Süd- und Zentralsomalia mit der Hauptstadt Mogadischu kämpften die somalischen Sicherheitskräfte mit Unterstützung der Militärmission der Afrikanischen Union gegen die Al-Shabaab-Miliz. Diese Auseinandersetzungen hätten einen nachhaltigen negativen Einfluss auf die humanitäre Situation, wobei sich die Versorgungslage in Somalia ohnehin schon als dramatisch darstelle. Somalia sei seit Jahrzehnten ein Land mit dem größten Bedarf an internationaler Nothilfe. Aufgrund der humanitären Lage sei es für Somalier fast unmöglich, ohne ein familiäres Netzwerk ihre Grundbedürfnisse zu sichern. Für die Gefahrenprognose sei auf Mogadischu abzustellen. Es sei die einzige Stadt in Süd- und Zentralsomalia, in die es einen geordneten Linienflugverkehr aus Europa gebe und die als Zielort für eine Abschiebung in Betracht komme. Der Kläger stieße bei einer Rückkehr nach Mogadischu auf derart schlechte humanitäre Verhältnisse, dass seine Rückführung die Garantien aus Art. 3 EMRK verletzen würde. Er verfüge dort nicht über die erforderlichen Clanverbindungen und familiären Verbindungen, um sich eine wirtschaftliche Grundlage aufbauen zu können. Die Gefahr, bei einer Rückkehr nach Somalia wegen schlechter humanitärer Bedingungen einen ernsthaften Schaden nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zu erleiden, gehe auf ein bewusstes und zielgerichtetes Handeln bzw. Unterlassen der am Konflikt in Somalia beteiligten Akteure zurück. Die Berichte wiesen darauf hin, dass alle Konfliktparteien rücksichtslose Methoden der Kriegsführung in dicht besiedelten ländlichen Gebieten ohne Rücksicht auf die Sicherheit der Zivilbevölkerung angewendet hätten. Das habe die verbreitete Vertreibung und den Zusammenbruch der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur zur Folge gehabt. Für den Kläger bestehe keine inländische Fluchtalternative.

Mit der vom 3. Senat zugelassenen Berufung macht die Beklagte geltend, die schlechte humanitäre Situation in Somalia begründe keinen Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, weil es an einem Akteur im Sinne von § 3c AsylG fehle. Die schlechten Lebensbedingen für die Zivilbevölkerung würden nicht zielgerichtet von den am Konflikt in Somalia beteiligten Akteuren hervorgerufen oder verstärkt, sondern seien „nur“ als Kollateralschaden des intensiven Bürgerkriegs zu bewerten. Die Feststellung eines Abschiebungsverbots scheide ebenfalls aus. Der Kläger sei jung, erwerbsfähig und gehöre einem in Mogadischu vertretenen Clan an. Es sei anzunehmen, dass er es mit Rückkehrhilfen, in Deutschland erworbenem Wissen und Fertigkeiten sowie möglicher Unterstützung von Clanmitgliedern schaffen werde, sein Existenzminimum zu erwirtschaften.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 20. August 2019 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil und trägt vor, die schlechte humanitäre Lage in Somalia werde zielgerichtet durch Akteure im Sinne von § 3c AsylG verursacht. Die Regierung unterlasse es nicht nur, die Zivilbevölkerung vor den negativen Auswirkungen der innerstaatlichen Konflikte auf die humanitäre Lage zu schützen und humanitäre Versorgung zu gewährleisten, vielmehr verübten die Konfliktparteien gezielt Angriffe auf die humanitäre Infrastruktur und die Zivilbevölkerung. Außerdem wäre er, der Kläger, im Falle einer Rückkehr nach Somalia wegen seiner Zugehörigkeit zu einem Minderheitenclan besonders stark am Zugang zu humanitärer Hilfe gehindert.

Der Senat hat den Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung informatorisch angehört. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Asyl- und Ausländerakten des Klägers Bezug genommen, die vorgelegen haben und deren Inhalt – soweit wesentlich – Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist teilweise begründet. Die Klage hat nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

Gegenstand der Berufung ist auch der beim Verwaltungsgericht gestellte (weitere) Hilfsantrag über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich Somalias, über den die Vorinstanz nicht zu entscheiden hatte, weil sie bereits dem ersten Hilfsantrag stattgegeben hat. Durch die Berufung der Beklagten gegen ihre Verpflichtung zur Zuerkennung subsidiären Schutzes ist dieser ebenfalls in der Rechtsmittelinstanz angefallen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 5. Juni 1998 – 9 B 469.98 – juris Rn. 20 und vom 24. Juni 2009 – 5 B 69.08 – juris Rn. 3; OVG Greifswald, Urteil vom 17. August 2023 – 4 LB 293/18 OVG – juris Rn. 20 m.w.N).

Der Kläger hat nach der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes. In diesem Umfang ist der Bescheid des Bundesamtes vom 12. Januar 2017 rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist insoweit zu ändern und die Klage abzuweisen. Der streitgegenständliche Bescheid ist hingegen rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, soweit die Beklagte feststellt, dass kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt, die Abschiebung nach Somalia androht und ein befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlässt (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Ein Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 AsylG – vorbehaltlich der in Absatz 2 der Vorschrift normierten und hier nicht einschlägigen Ausschlussgründe – subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Nach § 4 Abs. 3 AsylG gelten die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung bzw. der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden bzw. die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens treten; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes zum subsidiären Schutz umgesetzt.

Nach § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3c AsylG muss der drohende ernsthafte Schaden ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor ernsthaftem Schaden zu bieten (Nr. 3). Der subsidiäre Schutz wird dem Ausländer nicht zuerkannt, wenn ihm in einem Teil seines Herkunftslandes eine Fluchtalternative zur Verfügung steht (im Sinne von § 3e AsylG), auf die er sich zumutbar verweisen lassen muss.

Ein drohender ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erfordert stets eine erhebliche individuelle Gefahrendichte. Diese kann nur angenommen werden, wenn dem Schutzsuchenden ein ernsthafter Schaden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) droht (vgl. BVerwG, Urteile vom 17. November 2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 20 und vom 6. Februar 2019 – 1 A 3.18 – juris Rn. 101 ff. sowie Beschlüsse vom 22. Mai 2018 – 1 VR 3.18 – juris Rn. 51 und vom 13. Februar 2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 6 m.w.N.). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für einen ernsthaften Schaden sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 6 m.w.N.).

Auch für einen Anspruch auf subsidiären Schutz gilt die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass er tatsächlich Gefahr läuft, bei Rückkehr einen ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Beweiserleichterung in Gestalt einer widerleglichen tatsächlichen Vermutung setzt aber auch im Rahmen des subsidiären Schutzes – wie im Rahmen des Flüchtlingsschutzes – voraus, dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem vor der Ausreise erlittenen oder damals unmittelbar drohenden Schaden (Vorschädigung) und dem befürchteten künftigen Schaden besteht. Denn die der Vorschrift zugrundeliegende Wiederholungsvermutung beruht wesentlich auf der Vorstellung, dass eine Verfolgungs- oder Schadenswiederholung bei gleichbleibender Ausgangssituation aus tatsächlichen Gründen naheliegt (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 4.09 – juris Rn. 31 und vom 17. November 2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 21).

Bezugspunkt für die nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG gebotene Gefahrenprognose ist der tatsächliche Zielort bei einer Rückkehr. Bei der Bestimmung des Zielorts kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Zielort einer Rückkehr ist vielmehr in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urteile vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 13 f. und vom 20. Mai 2020 – 1 C 11.19 – juris Rn.17, jeweils m.w.N.). Da der Kläger vor seiner Ausreise in Qoryooley lebte, ist auf diese Stadt bzw. die Region Lower Shabelle (Somali: Shabeellaha Hoose) abzustellen. Der Kläger kann seine Herkunftsregion gefahrlos erreichen (zu diesem Erfordernis vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Februar 1993 – 9 C 31.92 – juris Rn. 10; OVG Schleswig, Urteil vom 3. Januar 2020 – 5 LB 34/19 – juris Rn. 27). Ein sicheres Reisen von Mogadischu nach Lower Shabelle ist auf dem Luftweg möglich. Der durchschnittliche Somalier kann zudem auf dem Landweg reisen, muss aber mit einem gewissen Risiko rechnen. Generell ist es aber weder Ziel von Al-Shabaab, Menschen am Reisen zu hindern, noch sind Reisende selbst ein Ziel (vgl. österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [BFA], Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 43, 210 ff.).

Hiervon ausgehend gelangt der Senat nicht zu der Überzeugung, dass dem Kläger in seiner Herkunftsregion ein ernsthafter Schaden droht. Er macht geltend, vor seiner Flucht einer drohenden Zwangsrekrutierung durch die Al-Shabaab-Miliz sowie einer Verfolgung durch die Familienangehörigen der beiden verstorben Männer und der somalischen Polizei ausgesetzt gewesen zu sein. Außerdem sei er Angehöriger eines Minderheitenclans und befürchte, Opfer eines in Somalia vorherrschenden Konflikts zu werden.

Danach droht dem Kläger in seinem Herkunftsstaat weder die Verhängung noch die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG). Hierunter werden nur die aufgrund der Strafrechtsordnung eines Staates bzw. einer staatsähnlichen Herrschaftsordnung in einem gerichtlichen Verfahren, das nicht notwendig rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechen muss, als Sanktion verhängten Todesstrafen gefasst (vgl. OVG Bautzen, Urteil vom 10. November 2022 – 1 A 1078/17.A – juris Rn. 80 m.w.N.). Selbst wenn der Kläger von den Familienangehörigen der beiden Verstorbenen getötet würde, wäre dies keine Vollstreckung einer Todesstrafe im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG. Es wäre keine staatliche Sanktion. Gleiches gilt für die Al-Shabaab. Diese hat in dem maßgeblichen Gebiet nicht den Status eines staatsähnlichen Akteurs. Die Miliz hat weder in Qoryooley und Umgebung noch in Lower Shabelle insgesamt die Oberhand, insbesondere Qoryooley befindet sich unter der Kontrolle von Regierungskräften und der vom UN-Sicherheitsrat mandatierten Friedensmission der Afrikanischen Union ATMIS – African Union Transition Mission in Somalia (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 13 f., 33, 43; European Union Agency for Asylum [EUAA], Country Guidance: Somalia – Common analysis and guidance note, August 2023, S. 100 ff.; siehe auch VGH München, Urteil vom 12. Februar 2020 – 23 B 18.30809 – juris Rn. 37).Dem Vortrag des Klägers gegenüber dem Bundesamt und im erstinstanzlichen Verfahren, er werde von der Polizei verfolgt, lässt sich schon nicht entnehmen, ihm könnte eine staatlich verhängte Todesstrafe drohen. Abgesehen davon hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, der Kläger habe keine Verfolgungshandlung durch die Polizei dargetan. Soweit er angebe, aus der (Schutz-)Haft geflüchtet zu sein, sei nicht zu erkennen, inwieweit dies eine drohende Verfolgung begründen könne. Nach seinen glaubhaften Bekundungen sei er zu seiner Sicherheit auf der Polizeiwache festgehalten worden. Zudem sei nicht ersichtlich, dass der Kläger nach seiner Flucht aus der Polizeiwache von staatlichen Kräften gesucht worden sei. Der Senat teilt diese Einschätzung. Der Kläger ist ihr im Berufungsverfahren nicht entgegengetreten. Er greift sein Vorbringen insoweit nicht mehr auf.

Ebenso wenig droht dem Kläger in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden durch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG.

Für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist – wie bei § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK – aufgrund weitgehend identischer sachlicher Regelungsbereiche auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen. Eine den subsidiären Schutz begründende Gefahr eines ernsthaften Schadens in Form von Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung muss allerdings stets von einem Akteur im Sinne des § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3c AsylG ausgehen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 6 und Urteil vom 20. Mai 2020 – 1 C 11.19 – juris Rn. 10 ff., jeweils m.w.N.).

Der Kläger kann sich nicht auf die Befürchtung berufen, von der Al-Shabaab-Miliz zwangsrekrutiert zu werden. Er trägt zwar vor, bereits einmal in den Fokus der Al-Shabaab geraten zu sein. Angehörige der Miliz sollen ihn angesprochen haben, er möge sich ihnen anschließen und mit ihnen kämpfen. Außerdem sollen sie ihn aufgefordert haben, eine Bombe zu einer Polizeistation zu bringen. Auch wenn diese Ausführungen zutreffen sollten, greift nicht die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 derRichtlinie 2011/95/EU. Die Ausgangssituation hat sich seit der Flucht des Klägers im Jahr 2013 grundlegend geändert.

Zwar kommt es in Somalia weiterhin zu Rekrutierungen durch die Al-Shabaab. Die Miliz setzt bei ihren Rekrutierungskampagnen aber hauptsächlich auf Indoktrination von Jugendlichen und finanzielle Anreize. Zu Zwangsrekrutierungen kommt es regelmäßig nur in Gebieten unter Kontrolle der Al-Shabaab (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 120 f.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF], Länderreport 40: Somalia – Al Shabaab: Überblick, Rekrutierung und Desertation, Juli 2021, S. 7; European Asylum Support Office [EASO], Country of Origin Information Report, Somalia – Targeted Profiles, September 2021, S. 21 ff.; EUAA, Country Guidance: Somalia – Common analysis and guidance note, August 2023, S. 87 f.). Die Heimat des Klägers, Qoryooley, steht aber unter der Kontrolle von Regierungskräften und ATMIS (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 43; EUAA, Country Guidance: Somalia – Common analysis and guidance note, August 2023, S. 167). Außerdem wäre zu erwarten, dass die Al-Shabaab nach dem Kläger sucht, wenn sie ein gesteigertes Interesse an ihm hätte. Der Kläger erklärte jedoch wiederholt, Al-Shabaab habe seine Familie nach seiner Flucht nicht kontaktiert. Seine Erklärung, traditionell würden weibliche Familienangehörige deutlich weniger von Sippenhaft betroffen als männliche, trifft nicht zu (vgl. EASO, Country of Origin Information Report, Somalia – Targeted Profiles, September 2021, S. 86; EUAA, Somalia: Defection, desertion and disengagement from Al-Shabaab, Februar 2023, S. 41; EUAA, Country Guidance: Somalia – Common analysis and guidance note, August 2023, S. 23, 90).

Dem Kläger droht ferner keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch die Familien oder den Clan der beiden Männer, die von der Polizei bei einem Festnahmeversuch erschossen bzw. (letztlich tödlich) verletzt worden sein sollen. Abgesehen davon, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat das Geschehen in wesentlichen Punkten abweichend zu seinen bisherigen Angaben dargestellt hat, ohne die Widersprüche nachvollziehbar zu erklären, wären die Familienangehörigen und der Clan der Verstorbenen keine nichtstaatlichen Akteure im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG. Für die Heimatstadt des Klägers kann nicht festgestellt werden, dass staatliche Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht willens oder in der Lage sind, ihm Schutz vor Verfolgung zu bieten. Die von der Regierung kontrollierten Städte in Lower Shabelle können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 43 ff.).

Die Zugehörigkeit des Klägers zu dem Minderheitenclan der Madhibaan (bzw. Gabooye), Subclan Mahmed Bare, Subsubclan Saaddhagad, führt ebenfalls zu keiner Zuerkennung subsidiären Schutzes. Zwar werden Minderheiten wie die Madhibaan in Somalia von den Mehrheitsclans gering geschätzt und diskriminiert, wobei einzelne Minderheiten unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen leben und sich in vielfacher Weise von der übrigen Bevölkerung – nicht aber systematisch von staatlichen Stellen – wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt sehen (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 150 ff.; EUAA, Country Guidance: Somalia – Common analysis and guidance note, August 2023, S. 108 f.). Dies erreicht jedoch abgesehen von Einzelfällen nicht generell bei allen Angehörigen eines Minderheitenclans eine solche Schwere, dass dies als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung anzusehen wäre (vgl. auch VGH Kassel, Urteile vom 1. August 2019 – 4 A 2334/18.A – juris Rn. 32 und vom 22. August 2019 – 4 A 2335/18.A – juris Rn. 37; VGH München, Urteil vom 22. März 2018 – 20 B 17.31709 – juris Rn. 20). Vielmehr hat sich ihre Situation in den vergangenen Jahren verbessert (vgl. hierzu BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 156, 159; Staatssekretariat für Migration [SEM], Focus Somalia, Clans und Minderheiten, 31. Mai 2017, S. 38).

Dem Kläger ist der subsidiäre Schutzstatus auch nicht wegen der schlechten humanitären Lage in Somalia zuzuerkennen. Dies gilt selbst dann, wenn die humanitären Bedingungen in seinem Heimatland für ihn wegen seiner persönlichen Lebensumstände derart widrig sein sollten, dass eine Rückführung nach Somalia eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellte. Es fehlt jedenfalls an einem Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3c AsylG, von dem zielgerichtet eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ausgeht (vgl. zu diesem Erfordernis BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 – 1 C 11.19 – juris Rn. 11 ff.).

Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG bedarf es einer direkten oder indirekten Aktion eines Akteurs, die die unmenschliche Lebenssituation im Sinne einer Zurechenbarkeit, die jenseits nicht intendierter Nebenfolgen ein auf die bewirkten Effekte gerichtetes Handeln oder gar Absicht erfordert, zu verantworten hat. Es ist ein zielgerichtetes Handeln bzw. Unterlassen eines Akteurs erforderlich, das die schlechte humanitäre Lage hervorruft oder erheblich verstärkt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 13 und Urteil vom 20. Mai 2020 – 1 C 11.19 – juris Rn. 12, jeweils m.w.N.).

Somalia ist geprägt von einem jahrelangen bewaffneten Konflikt zwischen der Al-Shabaab-Miliz einerseits und den somalischen Regierungstruppen sowie deren Verbündeten andererseits. Es besteht keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Insbesondere seit Beginn der Offensive gegen Al-Shabaab im August 2022 sind regelmäßig schwere Anschläge mit vielen Toten in Mogadischu und anderen größeren Städten durch Al-Shabaab zu verzeichnen (vgl. Auswärtiges Amt [AA], Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, 15. Mai 2023, S. 4 ff.; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 29 ff.). Die schlechten humanitären Bedingungen beruhen neben den klimatischen Verhältnissen (stärkste Dürreperiode seit über 40 Jahren) wesentlich auf dieser schlechten Sicherheitslage bzw. gehen überwiegend auf direkte oder indirekte Aktionen der am Konflikt in Somalia beteiligten Akteure zurück. Dem somalischen Staat und den mit ihm verbündeten Truppen geht es darum, die Kontrolle über das gesamte Land wiederherzustellen bzw. zu erhalten, wohingegen die Al-Shabaab versucht, mit militärischen Offensiven Teile Somalias zu erobern bzw. die bereits von ihr beherrschten Gebiete zu verteidigen (vgl. hierzu AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, 15. Mai 2023, S. 4 ff.; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 29 ff.; EUAA, COI QUERY Somalia: Security situation update, 25. April 2023, S. 8 ff.; EUAA, Country Guidance: Somalia – Common analysis and guidance note, August 2023, S. 67 ff.). Die von Al-Shabaab verübten Anschläge dienen in erster Linie dazu, das ohnehin fragile politische System Somalias und die gegnerischen Truppen weiter zu schwächen und den eigenen Machtanspruch zu stärken. Üblicherweise zielt Al-Shabaab mit größeren (mitunter komplexen) Angriffen auf Vertreter des Staates, Gebäude und Fahrzeuge der Regierung, auf Hotels, Geschäfte, Militärfahrzeuge und Militärgebäude sowie direkt auf Soldaten der Armee und ATMIS. Zivilisten greift Al-Shabaab nicht spezifisch an (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 29, 35, 202 f.; EUAA, Country Guidance: Somalia – Common analysis and guidance note, August 2023, S. 71 f., 81 f.). Da Al-Shabaab aber an den Fronten an Boden verliert, hat die Gruppe ihre terroristischen Aktivitäten verstärkt. Dadurch soll suggeriert werden, dass sie jederzeit an jedem Ort zuschlagen kann. Al-Shabaab eskalierte Anschläge und komplexe Attentate. Die Gruppe wollte mit größeren Gewalttaten zeigen, dass sie immer noch dazu in der Lage ist. Es handelte sich um Racheangriffe auf zivile Ziele, um den politischen Willen und die öffentliche Unterstützung für die Regierungsoffensive zu unterminieren (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 32). Vor diesem Hintergrund ist die Verschlechterung der Lebensbedingungen für die somalische Zivilbevölkerung als Kollateralschaden des intensiven Bürgerkriegs zu bewerten.

Dieser Annahme steht nicht entgegen, dass Al-Shabaab humanitäre Hilfe von außen behindert oder blockiert, die Erhebung von Steuern verstärkt, humanitäre Bedienstete entführt und Hilfslieferungen an Straßensperren besteuert (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, 15. Mai 2023, S. 9; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 72 f., 115 f., 211 f., 252; EUAA, Country Guidance: Somalia – Common analysis and guidance note, August 2023, S. 94 f., 143). Diese Maßnahmen zielen nicht auf eine Verschlechterung der Lebensbedingungen der somalischen Zivilbevölkerung ab, sondern sind nur Mittel zum Zweck im Kampf um die Vorherrschaft in Somalia. Hierfür spricht auch, dass sich Al-Shabaab selbst während der jüngeren Dürreperioden und der Corona-Pandemie als humanitäre Organisation bzw. als eine Gruppierung positionierte, die humanitäre Hilfe leistet. Al-Shabaab verteilt Hilfsgüter an die lokale Bevölkerung und kümmert sich im Rahmen der eigenen ideologischen Vorgaben um deren Gesundheit. Die Miliz zeigt einen relativ pragmatischen Umgang mit den Problemlagen und versucht, islamische oder islamistische humanitäre Hilfe zu leisten, um sich dadurch die Zustimmung der lokalen Bevölkerung zu sichern (vgl. hierzu Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation [ACCORD], Somalia: Al-Shabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer.innen; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure, 31. Mai 2021, S. 8; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 69).

Diese Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse in Somalia steht im Einklang mit der inzwischen einhelligen obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. OVG Bautzen, Urteil vom 12. Oktober 2022 – 5 A 78/19.A – juris Rn. 20 f.; OVG Bremen, Beschluss vom 26. Oktober 2021 – 1 LA 301/20 – juris Rn. 23 ff.; VGH Kassel, Urteile vom 1. August 2019 – 4 A 2334/18.A – juris Rn. 33, 36, vom 22. August 2019 – 4 A 2335/18.A – juris Rn. 39 und vom 14. Oktober 2019 – 4 A 1575/19.A – juris Rn. 38; OVG Lüneburg, Beschluss vom 25. Februar 2021 – 4 LA 212/19 – juris Rn. 9 f.; VGH München, Urteil vom 12. Februar 2020 – 23 B 18.30809 – juris Rn. 34).

Die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen bei dem Kläger ebenfalls nicht vor.

Danach gilt als ernsthafter Schaden auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Mit dieser – die Vorgaben des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95/EU umsetzenden – dritten Fallgruppe erfasst der subsidiäre Schutz Gefahrenlagen in Bezug auf das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die im Rahmen von bewaffneten Konflikten entstehen und nach der Grundkonzeption der Genfer Flüchtlingskonvention für sich genommen nicht als Verfolgung zu qualifizieren sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 – 1 C 11.19 – juris Rn. 16).

Es bedarf keiner Entscheidung, ob die derzeitige allgemeine Sicherheitslage in der Region Lower Shabelle die Annahme eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG rechtfertigt (zum Begriff des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts vgl. EuGH, Urteil vom 30. Januar 2014 – C-285/12 – juris Rn. 35; BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 4.09 – juris Rn. 23 f.). Denn der Kläger ist auch bei Vorliegen eines derartigen Konflikts keiner ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt.

Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines bewaffneten Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen, betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Das Vorherrschen eines derart hohen Niveaus willkürlicher Gewalt bleibt außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind (vgl. EuGH, Urteile vom 17. Februar 2009 – C-465/07 – juris Rn. 35 ff. und vom 30. Januar 2014 – C-285/12 – juris Rn. 30 ff.; BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 – 1 C 11.19 – juris Rn. 19).

Die von einem bewaffneten Konflikt ausgehende allgemeine Gefahr muss sich so verdichten, dass sie für die betreffende (Zivil-​)Person zu einer erheblichen individuellen Gefahr wird. Eine solche Individualisierung kann sich bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen ergeben. Dazu gehören in erster Linie persönliche Umstände, die den Schutzsuchenden von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen – z.B. als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Möglich sind aber auch solche persönlichen Umstände, aufgrund derer der Schutzsuchende als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist. Eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann ausnahmsweise auch dann, wenn keine persönlichen gefahrerhöhenden Umstände vorliegen, bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betreffenden Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Liegen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist allerdings ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 – 10 C 4.09 – juris Rn. 33, vom 17. November 2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 17 ff. und vom 20. Mai 2020 – 1 C 11.19 – juris Rn. 19 ff., jeweils m.w.N.).

Bei der Feststellung, ob eine „ernsthafte individuelle Bedrohung“ im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG (bzw. Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95) vorliegt, ist eine umfassende Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls, insbesondere derjenigen, die die Situation des Herkunftslands des jeweiligen Antragstellers kennzeichnen, erforderlich. Dabei können die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte und die Dauer des Konflikts als Faktoren berücksichtigt werden, ferner etwa das geografische Ausmaß der Lage willkürlicher Gewalt, der tatsächliche Zielort bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder Gebiet und die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen. Im Hinblick auf die Intensität des Konflikts kann weiterhin die Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung ein maßgebliches Kriterium sein. Wenn die tatsächlichen Opfer der Gewaltakte, die von den Konfliktparteien gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit der in der betreffenden Region lebenden Zivilpersonen verübt werden, einen hohen Anteil an deren Gesamtzahl ausmachen, ist der Schluss zulässig, dass es in der Zukunft weitere zivile Opfer in der Region geben könnte (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Juni 2021 – C-901/19 – juris Rn. 31 ff., 40 ff.; siehe auch OVG Münster, Urteil vom 5. September 2023 – 9 A 1249/20.A – juris Rn. 182 ff.).

Ausgehend von diesen Maßstäben besteht für den Kläger keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen des – hier unterstellten – bewaffneten Konflikts in der Region Lower Shabelle. Bei ihm liegen keine gefahrerhöhenden individuellen Umstände vor, aus denen sich eine Individualisierung der allgemeinen konfliktbedingten Gewalt ergibt. Insbesondere ist er aus den oben ausgeführten Gründen nicht wegen seiner vorgetragenen Verfolgungsgeschichte stärker betroffen als die übrige Zivilbevölkerung in der Region Lower Shabelle. Die derzeitige Situation in dieser Region ist auch nicht durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (vgl. auch VGH München, Urteil vom 12. Februar 2020 – 23 B 18.30809 – juris Rn. 40 ff.).

Die Region Lower Shabelle ist eine der am stärksten von Al-Shabaab betroffenen Gebiete. Sie ist stark militarisiert und durch die Präsenz somalischer Streitkräfte, der Afrikanischen Union und der US-Streitkräfte gekennzeichnet. Trotz der militärischen Offensiven gegen die Gruppe unterhält Al-Shabaab ein aktives Netzwerk in der gesamten Region und verübt weiterhin Anschläge, kontrolliert Straßen und erhebt Steuern von der lokalen Bevölkerung. Die Gruppe war an 915 der 960 Sicherheitsvorfälle beteiligt, die zwischen dem 1. Juli 2021 und dem 30. November 2022 in Lower Shabelle gemeldet wurden (vgl. hierzu BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 32, 43 ff., 71 ff.; EUAA, COI QUERY Somalia: Security situation update, 25. April 2023, S. 5, 16; EUAA, Country Guidance: Somalia – Common analysis and guidance note, August 2023, S. 167).

Die Streitkräfte der Afrikanischen Union und der Regierung kontrollieren die Städte Merka, Baraawe, Afgooye, Wanla Weyn, Awdhegle und Qoryooley, die Heimatstadt des Klägers. Die Kontrolle über die ländlichen Gebiete rund um die Städte ist zwischen Al-Shabaab und der Koalition aus Kräften der Afrikanischen Union sowie des Bundesstaates umstritten oder unklar. Die ländlichen Gebiete im Süden und Südwesten der Region befinden sich weiterhin unter der Kontrolle von Al-Shabaab. Lower Shabelle war die von improvisierten Sprengsätzen am stärksten betroffene Region in Somalia. Al-Shabaab setzte auch Mörserangriffe und Selbstmordattentate ein, um Beamte der Regierung und des Staates anzugreifen. Zu den sicherheitsrelevanten Vorfällen gehört etwa ein Selbstmordanschlag auf das Hauptquartier des Bezirks Merka, der am 27. Juli 2022 von Al-Shabaab verübt wurde und bei dem mindestens elf Menschen, darunter der Kommissar des Bezirks, getötet wurden. Am 9. September 2022 wurden bei einem Luftangriff in Mubarak Berichten zufolge zwischen drei und zehn Zivilisten, darunter ein Kind, getötet. Am 9. Februar 2022, während der Parlamentswahlen, schlugen Mörsergranaten, die auf ein Wahllokal in Baraawe gerichtet waren, in einem Wohngebiet ein und töteten vier Zivilisten (vgl. EUAA, Country Guidance: Somalia – Common analysis and guidance note, August 2023, S. 81 f., 167 f.; siehe auch BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 43 ff.). Ein ausschließlich von der Durchschnittsbevölkerung besuchter Ort ist jedoch grundsätzlich kein Ziel der Miliz. Vielmehr werden vorrangig Positionen von Regierungskräften sowie Örtlichkeiten angegriffen, die von Regierungsvertretern, Sicherheitskräften und Wirtschaftstreibenden frequentiert werden (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, 15. Mai 2023, S. 4; EUAA, Country Guidance: Somalia – Common analysis and guidance note, August 2023, S. 71 f., 81 f.). Zivilisten greift Al-Shabaab nicht spezifisch an. Diese leiden auf zwei Arten an der Gewalt durch Al-Shabaab: Einerseits sind jene einem erhöhten Risiko ausgesetzt, die in Verbindung mit der Regierung stehen oder von Al-Shabaab als Unterstützer der Regierung wahrgenommen werden. Andererseits besteht für sie das Risiko, bei Anschlägen zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und so zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 35, 51, 203). Dieses Risiko lässt sich verringern, indem gefährdete Orte und Objekte gemieden werden.

Mangels Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe ist die Gefahr für den Kläger, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden, im Rahmen einer Gesamtabwägung und unter Berücksichtigung aktueller Anschläge in der Region Lower Shabelle auch bei qualitativer Betrachtung als gering einzustufen. Hierfür sprechen auch die vorliegenden Zahlen zu sicherheitsrelevanten Vorfällen in Lower Shabelle. Die Organisation Armed Conflict Location and Event Data Project (ACLED) verzeichnete zwischen dem 1. Juli 2021 und dem 30. November 2022 in dieser Region 960 Sicherheitsvorfälle. Von diesen Vorfällen wurden 743 als „Kämpfe“, 165 als „Explosionen/entfernte Gewalt“ und 52 als „Gewalt gegen Zivilisten“ erfasst. Im Zeitraum vom 1. Dezember 2022 bis 14. April 2023 wurden in Lower Shabelle 175 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. In allen sieben Bezirken von Lower Shabelle kam es zu Sicherheitsvorfällen, wobei sich die größte Gesamtzahl in Afgooye (512 Vorfälle) ereignete, gefolgt von der Hauptstadt von Lower Shabelle, Merka (292 Vorfälle). In den 17 Monaten zwischen Juli 2021 und November 2022 erfasste ACLED insgesamt 1.004 Todesopfer in der Region. In den viereinhalb Monaten zwischen Dezember 2022 und Mitte April 2023 dokumentierte ACLED insgesamt 267 Todesopfer in dem Gebiet. Verglichen mit den Bevölkerungszahlen der Region ab 2021 entspricht dies etwa 94 Todesopfern pro 100.000 Einwohner für den gesamten Bezugszeitraum (vgl. EUAA, Country Guidance: Somalia – Common analysis and guidance note, August 2023, S. 168 f.; siehe auch BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 46: 2,6 Vorfälle je 100.000 Einwohner in Lower Shabelle im Jahr 2022). Im Jahr 2023 gab es im ersten Quartal 100 Vorfälle mit 241 Toten, im zweiten Quartal 164 Vorfälle mit 485 Toten (vgl. ACCORD, Somalia 2023: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), 1. Quartal 2023 und 2. Quartal 2023, 4. September 2023 und 6. September 2023, jeweils S. 4 f.). Bei diesen Zahlen ist zu berücksichtigen, dass keine Unterscheidung zwischen zivilen Opfern und Opfern auf Seiten der Al-Shabaab und der Sicherheitskräfte erfolgt (vgl. auch OVG Bautzen, Urteil vom 12. Oktober 2022 – 5 A 78/19.A – juris Rn. 31). Auch nach Einschätzung der Asylagentur der Europäischen Union reicht die bloße Anwesenheit in dem Gebiet Lower Shabelle nicht aus, um eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG bzw. Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 in dieser Region anzunehmen (siehe hierzu EUAA, Country Guidance: Somalia – Common analysis and guidance note, August 2023, S. 51 f., 152, 169).

Der Kläger hat jedoch Anspruch auf Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht.

Die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kann sich in erster Linie aus individuellen Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Eine Verletzung des Art. 3 EMRK kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei „nichtstaatlichen“ Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen im Herkunftsland in Betracht, bei denen ein verantwortlicher staatlicher Akteur (§ 3c AsylG) fehlt, wenn die humanitären Gründe gegen eine Aufenthaltsbeendigung „zwingend“ sind (vgl. EGMR, Urteile vom 28. Juni 2011 – 8319/07, 11449/07 – Rn. 278 und vom 29. Januar 2013 – 60367/10 – Rn. 74 f., jeweils abrufbar unter https://hudoc.echr.coe.int/; BVerwG, Urteile vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 23, 25, vom 4. Juli 2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12 und vom 21. April 2022 – 1 C 10.21 – juris Rn. 15, jeweils m.w.N.). Das für Art. 3 EMRK erforderliche „Mindestmaß an Schwere“ kann erreicht sein, wenn sich die betroffene Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“ (vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff. und – C-163/17 – juris Rn. 90 ff.; BVerwG, Urteile vom 4. Juli 2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12, vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 – juris Rn. 65 und vom 21. April 2022 – 1 C 10.21 – juris Rn. 15 f., jeweils m.w.N.). Für die Erfüllung dieser Grundbedürfnisse gelten – vor allem bei nicht vulnerablen Personen – nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. Das wirtschaftliche Existenzminimum ist immer dann gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist (auch im Bereich der sogenannten „Schatten- oder Nischenwirtschaft“), oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose ist grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 – 1 C 10.21 – juris Rn. 17, 25 m.w.N.). Für die Beurteilung, ob eine Abschiebung gegen Art. 3 EMRK verstößt, ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet. Maßgeblich ist – wie im Rahmen des unionsrechtlichen Abschiebungsschutzes – allerdings in erster Linie die Herkunftsregion des Ausländers (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 9, 13 f., 26, 36; VGH Mannheim, Urteil vom 12. Juli 2023 – A 10 S 400/23 – juris Rn. 73; OVG Münster, Urteil vom 5. September 2023 – 9 A 1249/20.A – juris Rn. 209 ff.). Stellen die dortigen Verhältnisse einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK dar, ist zu prüfen, ob auch in anderen Landesteilen derartige Umstände vorliegen (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 16. Dezember 2021 – A 13 S 3196/19 – juris Rn. 45 m.w.N.).

Somalia gehört weiterhin zu den ärmsten Ländern der Erde. Das Land befindet sich seit Jahren in einer der komplexesten und langwierigsten humanitären Krisen der Welt, für die politische, sozioökonomische und Umweltfaktoren hauptverantwortlich sind. Die somalische Bevölkerung ist prekären Lebensbedingungen ausgesetzt. Mehr als die Hälfte ist auf humanitäre Unterstützung angewiesen. Es wird erwartet, dass bis Ende des Jahres 2023 ungefähr 6,6 Millionen Menschen von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sind und etwa 1,8 Millionen Kinder unterernährt sein werden (vgl. ACCORD, Somalia: Humanitäre Lage, 15. September 2023, S. 1 f.; BAMF, Länderreport 44: Somalia – Humanitäre Situation, September 2021, S. 2 ff.; BAMF, Länderreport 61: Somalia – Geschlechtsspezifische Gewalt, August 2023, S. 3; Office for the Coordination of Humanitarian Affairs [OCHA], Humanitarian Needs Overview 2023 – Somalia, Februar 2023, S. 6). Hilfsprojekte von den Vereinten Nationen oder nichtstaatlichen Hilfsorganisationen erreichen in der Regel nicht alle Bedürftigen. Rückkehrer müssen sich darauf einstellen, dass die Grundversorgung mit Lebensmitteln in weiten Landesteilen nicht gewährleistet ist. Es gibt keinen sozialen Wohnraum oder Sozialhilfe und keine Aufnahmeeinrichtungen (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, 15. Mai 2023, S. 22; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 242, 253, 260).

Regelmäßig wiederkehrende Dürreperioden mit Hungerkrisen, aber auch Überflutungen, die rudimentäre Gesundheitsversorgung sowie der mangelhafte Zugang zu sauberem Trinkwasser und das Fehlen eines funktionierenden Abwassersystems machen Somalia zu einem Land mit hohen humanitären Nöten. Besonders hervorzuheben ist gegenwärtig die katastrophale humanitäre Situation durch die anhaltende Dürre und die damit verbundene akute Hungersnot. Auch wenn diese Extremsituation nur vereinzelte Regionen betrifft, ist ganz Somalia von der Dürre und von einer Lebensmittelknappheit betroffen (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, 15. Mai 2023, S. 4, 22; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 242 f.; OCHA, Humanitarian Needs Overview 2023 – Somalia, Februar 2023, S. 6). Mehr als eine Million Menschen mussten ihre Heime verlassen und fliehen. Gleichzeitig sind die Nahrungsmittelpreise stark gestiegen. Das verschärft die Ernährungsunsicherheit vor allem für Binnenvertriebene und arme Haushalte. Öffentliche Dienste gibt es kaum, meist finden sich Angebote wie Wasser und Stromversorgung sowie Bildung und Gesundheitsdienste bei privaten Dienstleistern. Für viele Menschen sind derartige Dienste nur schwer oder überhaupt nicht zugänglich (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 242 f.).

Ein Großteil der Bevölkerung in Somalia leidet unter Armut und Ernährungsunsicherheit. Rund 70 % der Bevölkerung muss mit weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag auskommen und lebt damit unterhalb der Armutsgrenze, 10 % der Bevölkerung nur knapp darüber. Besonders stark und weit verbreitet ist die Armut in ländlichen Gebieten und in den Siedlungen von Binnenvertriebenen. Es gibt viele Binnenflüchtlinge und Kinder, die auf der Straße leben und arbeiten (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 242; OCHA, Humanitarian Needs Overview 2023 – Somalia, Februar 2023, S. 12). In ganz Somalia ist die Nahrungsmittelunsicherheit stark angestiegen. Die IPC-Phasen 3 und 4 sind weit verbreitet (IPC = Integrated Phase Classification der Versorgungssicherheit mit Nahrungsmitteln; Phase 1 = Minimal, Phase 2 = Stressed, Phase 3 = Crisis, Phase 4 = Emergency, Phase 5 = Famine). Mit Stand Februar 2023 befanden sich ca. 3,5 Millionen Menschen in IPC-Stufe 3, ungefähr 1,4 Millionen in Stufe 4 und 96.000 in Stufe 5. Die Stadtbevölkerung ist von diesen Phasen anteilig weniger betroffen als Menschen in ländlichen Gebieten. Die meisten armen Stadtbewohner finden sich in IPC-Stufe 3 (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 245 f.; EUAA, COI QUERY Somalia: Security situation update, 25. April 2023, S. 22). Im Dezember 2022 befanden sich in der Region Lower Shabelle 88 % der Bevölkerung in der IPC-Stufe 1 und 2 sowie 11 % in der Stufe 3 und 1 % in der Stufe 4. Für die Monate April bis Juni 2023 werden für die Region ebenfalls überwiegend die IPC-Phasen 1 und 2 angenommen, für Mogadischu die IPC-Phase 3 und für die Region Banadir die IPC-Phase 4 (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 246 f.; vgl. auch ACCORD, Somalia: Humanitäre Lage, 10. Mai 2023, S. 2; BAMF, Länderreport 44: Somalia – Humanitäre Situation, September 2021, S. 4 f.). Bei weiter steigenden Nahrungsmittelpreisen und unzureichender humanitärer Hilfe besteht die unmittelbare Gefahr einer Hungersnot. Besonders vulnerabel sind insoweit marginalisierte Gruppen und Angehörige von Minderheitenclans. Vorerst konnten die groß angelegte humanitäre Hilfe und etwas bessere Deyr-Regenfälle eine Hungersnot bis Juni 2023 verhindern. Insgesamt haben sich die Zahlen zur akuten Unterernährung aber im ganzen Land verschlechtert (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 248 f.).

Zwangsräumungen von Gebieten der Binnenvertriebenen und der armen Stadtbevölkerung sind weiterhin ein großes Problem, insbesondere in den urbanen Ballungsräumen. Im Jahr 2021 wurden ungefähr 143.000 Menschen zwangsumgesiedelt. Von Januar bis September 2022 lag die Zahl bei 125.919 Personen (80 % davon im Großraum Mogadischu). Die große Mehrheit der betroffenen Menschen zieht in entlegene und unsichere Außenbezirke der Städte, wo es lediglich eine rudimentäre oder gar keine soziale Grundversorgung gibt (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, 15. Mai 2023, S. 22). Der Großteil der Bevölkerung hat keinen Zugang zu formeller Finanzierung von Wohnraum. Für viele sind Familienmitglieder eine Finanzierungsquelle. Anbieter informeller Unterkünfte und Dienste in Somalia spielen eine kritische Rolle, am augenscheinlichsten in Mogadischu. Zu den vulnerablen Gruppen gehören von Frauen und Jugendlichen geführte Haushalte, Menschen mit Behinderungen und junge alleinstehende Männer. Sie sind beim Zugang zu Unterkünften besonders benachteiligt (vgl. ACCORD, Somalia: Humanitäre Lage, 15. September 2023, S. 5; EUAA, Country Guidance: Somalia – Common analysis and guidance note, August 2023, S. 222). Rückkehrer laufen laut Hilfsorganisationen Gefahr, in Lagern von Binnenvertriebenen zu enden (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, 15. Mai 2023, S. 23).

Das öffentliche Gesundheitssystem Somalias wurde während des Bürgerkriegs weitgehend zerstört. Es zählt zu den schwächsten weltweit (vgl. BAMF, Länderreport 44: Somalia – Humanitäre Situation, September 2021, S. 7). Die medizinische Versorgung ist im gesamten Land äußerst mangelhaft und nicht durchgängig gesichert. Die Infrastruktur bei der medizinischen Versorgung ist minimal und beschränkt sich meist auf Städte und sichere Gebiete. Die Ausrüstung reicht nicht, um auch nur die grundlegendsten Bedürfnisse der Bevölkerung ausreichend abdecken zu können. Es gibt keine nationale Krankenversicherung. Patientinnen und Patienten können sich entweder um kostenlos angebotene Dienste der Regierung oder von Nichtregierungsorganisationen bemühen oder an einer privaten Gesundheitseinrichtung selbst für die Versorgung bezahlen (vgl. ACCORD, Somalia: Humanitäre Lage, 15. September 2023, S. 7; AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, 15. Mai 2023, S. 23; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 270 ff.). Erhebliche Teile der Bevölkerung haben keinen Zugang zu trinkbarem Wasser oder zu hinreichenden sanitären Einrichtungen (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, 15. Mai 2023, S. 23; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 270; OCHA, Humanitarian Needs Overview 2023 – Somalia, Februar 2023, S. 6).

Die wirtschaftliche Erholung des Landes leidet unter der schlimmsten Dürre seit Jahrzehnten, unter Überschwemmungen, den Folgen einer Heuschreckenplage und der Covid-19-Pandemie. Die somalische Wirtschaft hat sich zwar als resilienter erwiesen als zuvor vermutet. Eine der Triebfedern der wirtschaftlichen Erholung sind Remissen aus der Diaspora und anhaltende Investitionen. Allerdings war das Wirtschaftswachstum schon in besseren Jahren für die meisten Somalier zu gering, als dass sich ihr Leben dadurch hätte verbessern können. Der Bevölkerungszuwachs nivelliert das Wirtschaftswachstum und hemmt die Reduzierung von Armut. Zusätzlich bleibt die somalische Wirtschaft wegen der schmalen Wirtschaftsbasis weiterhin fragil. Die Mehrheit der Bevölkerung ist von Landwirtschaft und Fischerei abhängig und dadurch externen und Umwelteinflüssen besonders ausgesetzt (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 226).

Die Arbeitslosenquote ist landesweit hoch, die genauen Angaben weichen jedoch stark voneinander ab. Die Arbeitslosigkeit – und damit auch die Armut – hat sich infolge der Covid-19-Pandemie verstärkt. 21 % der Menschen mussten ihre Arbeit niederlegen, wobei nur 55 % der Bevölkerung überhaupt am Arbeitsmarkt teilnimmt (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 232 ff.; BAMF, Länderreport 44: Somalia – Humanitäre Situation, September 2021, S. 6; EUAA, Country Guidance: Somalia – Common analysis and guidance note, August 2023, S. 221). Rückkehrer, die im Ausland ausgebildet wurden, können – bei vorhandenen, besseren Fähigkeiten – am Arbeitsmarkt Vorteile haben. Da freie Stellen aber oft nicht breit beworben werden und die Arbeitgeber den Clan und die Verwandtschaft eher berücksichtigen als erworbene Fähigkeiten, haben Bewerber ohne gute Verbindungen oder aus Minderheitengruppen sowie Frauen, Witwen, Bewohner von Binnenvertriebenenlagern und Migranten schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Eine erfolgreiche Rückkehr und Reintegration ist in erheblichem Maße von der Clanzugehörigkeit und von lokalen Beziehungen der rückkehrenden Person abhängig. Dabei spielt auch die Dominanz der Abstammungsgruppen eine Rolle. Ein Mann, der etwa in Mogadischu den Hawiye angehört (einer dominanten Gruppe in der Stadt), kann sich auf mehr Einfluss berufen oder auf eine größere Unterstützung verlassen als Menschen, die Minderheiten oder vor Ort schwachen Gruppen angehören. Allerdings hängt die Unterstützung, die ein Rückkehrer aus diesen Netzwerken ziehen kann, maßgeblich davon ab, ob und wie sehr er diese Netzwerke während seines Auslandsaufenthalts gepflegt hat. Jedenfalls finden sich Rückkehrer ohne Clan- oder Familienverbindungen am konkreten Ort der Rückkehr ohne Schutz in einer Umgebung wieder, in der sie oftmals als Fremde angesehen werden. Vor allem junge, nicht ausgebildete Männer konkurrieren um die Arbeit als Tagelöhner (vgl. ACCORD, Somalia: Humanitäre Lage, 15. September 2023, S. 3; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 227 f., 259 f.; United States Department of State [USDOS], Somalia 2022, Human Rights Report, 20. März 2023, S. 37 ff.). Die Mehrheit der Binnenvertriebenen sind als Tagelöhner tätig. Dabei bekommen die Menschen nicht immer einen Arbeitsplatz, sie arbeiten oft nur zwei bis drei Tage in der Woche. Zudem haben die allgemeinen ökonomischen Probleme die Nachfrage nach Tagelöhnern zurückgehen lassen. Dadurch sind deren Einkommen dramatisch gesunken (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 152, 235 f.). Insbesondere Angehörige von Minderheitengruppen haben große Schwierigkeiten, eine verlässliche Lebensgrundlage zu finden. Auch wenn Mogadischu nicht so stark nach Clans getrennt ist wie andere Gebiete Somalias, ist dort die Zugehörigkeit zu einem Clan ebenfalls von großer Bedeutung. Auch dort ist das persönliche Netzwerk oder der Clan in aller Regel die einzige Möglichkeit, eine Arbeit finden. Überdies reichen die Löhne oftmals nicht aus, um die relativ hohen Lebenshaltungskosten zu decken (vgl. United Nations High Commissioner for Refugees [UNHCR], Internal Protection Considerations with Regard to People Fleeing Somalia, September 2022, S. 70, 131 f.).

Nach Auswertung der dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel sind sowohl die allgemeine Sicherheitslage als auch die allgemeine wirtschaftliche und humanitäre Situation in Somalia als äußerst prekär einzustufen. Das führt aber bei einer wertenden Gesamtschau nicht dazu, dass eine Rückführung dorthin in Anwendung von § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK generell ausgeschlossen wäre. Vielmehr ist unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere unter Berücksichtigung der individuellen Situation der betroffenen Person zu prüfen, ob bei ihr das für Art. 3 EMRK erforderliche „Mindestmaß an Schwere“ bei einer Rückkehr nach Somalia erreicht wird (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 – 1 B 25.18 – juris Rn. 11; VGH Kassel, Urteile vom 22. August 2019 – 4 A 2335/18.A – juris Rn. 55 f., 59 ff. und vom 14. Oktober 2019 – 4 A 1575/19.A – juris Rn. 60 f.; VGH Mannheim, Urteile vom 17. Juli 2019 – A 9 S 1566/18 – juris Rn. 44, 47 und vom 16. Dezember 2021 – A 13 S 3196/19 – juris Rn. 58 f.; VGH München, Urteil vom 12. Februar 2020 – 23 B 18.30809 – juris Rn. 61 ff.). Dabei ist – gegebenenfalls neben humanitärer Hilfe vor Ort und Rückkehrhilfen – zu berücksichtigen, dass in Somalia die erweiterte Familie inklusive des Sub-Clans oder Clans traditionell als soziales Sicherungsnetz dient und oftmals zumindest einen rudimentären Schutz bietet (vgl. ACCORD, Somalia: Humanitäre Lage, 15. September 2023, S. 3; AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, 15. Mai 2023, S. 22; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 236, 253, 259 f., 268; siehe auch VGH Kassel, Urteile vom 22. August 2019 – 4 A 2335/18.A – juris Rn. 56 und vom 14. Oktober 2019 – 4 A 1575/19.A – juris Rn. 61; VGH Mannheim, Urteile vom 17. Juli 2019 – A 9 S 1566/18 – juris Rn. 47 und vom 16. Dezember 2021 – A 13 S 3196/19 – juris Rn. 59; VGH München, Urteil vom 12. Februar 2020 – 23 B 18.30809 – juris Rn. 62, 64). Auch das Oberverwaltungsgericht Bautzen berücksichtigt bei seinem Urteil vom 12. Oktober 2022 – 5 A 78/19.A – (juris Rn. 53, 56), dass der Kläger dem Hawiye-Clan angehört, der in und um Mogadischu den Mehrheitsclan darstellt und dort großen Einfluss hat.

Bei der gebotenen Gesamtschau aller – auch individuellen – Umstände des Einzelfalls ist mit Blick auf die schlechte allgemeine wirtschaftliche Situation und die humanitäre Lage in Somalia davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr dorthin der realen Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre. Diese Feststellung trifft nicht nur für die Herkunftsregion des Klägers zu, sondern auch für Mogadischu, dem Ort, an dem die Abschiebung endet, und die anderen Landesteile Somalias.

Der Kläger flüchtete vor über zehn Jahren aus Somalia. Er hat dem Senat in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend zu seinen Angaben gegenüber dem Bundesamt und dem Verwaltungsgericht nachvollziehbar und überzeugend erklärt, keine Familienangehörigen mehr im Heimatland zu haben. Seine Mutter und seine Schwester seien nach Äthiopien geflüchtet, zu seiner Ehefrau habe er seit seiner Flucht keinen Kontakt mehr. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger in Somalia über ein anderes soziales Netzwerk verfügt, das ihm ermöglichen könnte, sein Existenzminimum auf niedrigstem Niveau zu sichern. Er kann insbesondere keine Unterstützung durch seinen Clan erwarten, weil er der Minderheitengruppe Madhibaan (Gabooye) angehört (vgl. auch VGH Kassel, Urteil vom 1. August 2019 – 4 A 2334/18.A – juris Rn. 33, 35). Angehörige dieser Gruppe leben oftmals unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen und sehen sich, da sie nicht in die Clan-Strukturen eingebunden sind, wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt. Diese strukturelle Diskriminierung ist empirisch nachgewiesen und führt unter anderem zu einer schlechteren Versorgung der Minderheitengruppe mit humanitärer Hilfe (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, 15. Mai 2023, S. 11, 14; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 150 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse zu Somalia: Die Minderheitengruppe der Gabooye/Midgan, 5. Juli 2018, S. 4 ff.). Der Kläger besitzt auch keine besonderen Kenntnisse oder Fähigkeiten, die ihm den Einstieg in den Arbeitsmarkt in Somalia erleichtern könnten. Er besuchte in seinem Heimatland die Schule nur bis zur 7. Klasse und arbeitete danach in dem Gemüseladen seiner Eltern. Seine in Deutschland begonnenen Berufsausbildungen brach er ab. Angesichts der eingeschränkten Erwerbsmöglichkeiten und des erheblich gestiegenen Konkurrenzdrucks auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere für Tagelöhner, wird der Kläger mangels Unterstützung durch seine Familie oder seinen Clan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit weder in seiner Herkunftsregion noch in Mogadischu in der Lage sein, sich auf niedrigstem Niveau eine Existenzgrundlage aufzubauen.

Die Beklagte schätzt die humanitäre Situation in Somalia ebenfalls als sehr schwierig ein, meint jedoch, bei einem arbeitsfähigen gesunden Mann wie dem Kläger seien bei einer Rückkehr nach Mogadischu die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK regelmäßig nicht erfüllt. Zur Begründung ihrer Auffassung beruft sie sich auf den Bericht des UNHCR, Internal Protection Considerations with Regard to People Fleeing Somalia, September 2022 (Seite 129 ff.). Dort heißt es aber auf Seite 132, Mogadischu komme nur in Ausnahmefällen als inländische Fluchtalternative in Betracht, etwa für alleinstehende, gesunde und arbeitsfähige Männer im erwerbsfähigen Alter, die einem lokalen Mehrheitsclan wie dem Abgaal-Subclan der Hawiye angehören. Das trifft auf den Kläger nicht zu.

Der Kläger kann nicht auf andere Landesteile Somalias – wie Puntland oder Somaliland (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, 15. Mai 2023, S. 4 f.) – verwiesen werden. Das entscheidende soziale Sicherungsnetz bilden auch dort die erweiterte Familie und der Clan (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 253, 268). Der Kläger hat aber in keiner Region Somalias Clanverbindungen, familiäre Bindungen noch sonstige Verbindungen.

Die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Rückkehrhilfen rechtfertigt keine andere Betrachtungsweise. Der Kläger könnte bei einer freiwilligen Rückkehr zwar grundsätzlich auf Rückkehr- und Reintegrationsprogramme zurückgreifen (https://www.returningfromgermany.de/de/countries/somalia/). Danach kommen im Rahmen der Programme Reintegration and Emigration Programme for Asylum-Seekers in Germany (REAG) sowie Government Assisted Repatriation Programme (GARP) insbesondere eine Reisebeihilfe sowie eine einmalige finanzielle Starthilfe in Höhe von 1.000 Euro in Betracht, wobei für Somalia auf eine längere Bearbeitungsdauer wegen einer Fall-zu-Fall-Prüfung hingewiesen wird (https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/reag-garp). Diese finanziellen Leistungen dürften auch unter den derzeitigen Bedingungen in Somalia für einige Monate jedenfalls ein Leben am Rande des Existenzminimums ermöglichen. Es ist aber bereits zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat davon auszugehen, dass dem Kläger nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 – 1 C 10.21 – juris Rn. 25 m.w.N.). Die finanziellen Mittel bewirken lediglich einen zeitlichen Aufschub, sie können jedoch die Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Verelendung nur vorübergehend mindern. Sie ermöglichen dem Kläger, dem vor Ort ein hinreichendes soziales Unterstützungsnetzwerk fehlt, keinen Zugang zum Arbeitsmarkt und zu einer Unterkunft (vgl. OVG Bremen, Urteil vom 22. September 2020 – 1 LB 258/20 – juris Rn. 46 m.w.N.). So heben auch Menschenrechtsorganisationen die prekäre Situation der Rückkehrer in Somalia hervor. Es bestehe die Gefahr, dass Rückkehrende in Lagern für Binnenvertriebene enden. Die Grundvoraussetzungen einer freiwilligen Rückkehr seien nicht gewährleistet (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, 15. Mai 2023, S. 23; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, 17. März 2023, S. 261).

Aufgrund der Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG bedarf es keiner Entscheidung mehr zu den Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, weil die Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG einen einheitlichen Streitgegenstand darstellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Mai 2021 – 1 C 6.20 – juris Rn. 8; OVG Bautzen, Urteil vom 10. November 2022 – 1 A 1078/17.A – juris Rn. 127).

Mit dieser Entscheidung ist für die auf § 34 Abs. 1 AsylG beruhende Abschiebungsandrohung und für die Festlegung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 und 2 AufenthG (Ziffern 5 und 6 des angegriffenen Bescheides) die Grundlage entfallen. Diese Folgeentscheidungen sind auf die vom Kläger insoweit erhobene Anfechtungsklage aus Klarstellungsgründen aufzuheben (vgl. OVG Bautzen, Urteil vom 10. November 2022 – 1 A 1078/17.A – juris Rn. 128).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 Satz 1 und 2 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO oder § 78 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 AsylG genannten Gründe vorliegt.