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Drittanfechtung einer Baugenehmigung für ein Mehrfamilienhaus - (kein) Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot und ausnahmsweise unschädlicher geringfügiger (hier unterstellter) Verstoß gegen das Abstandsflächenrecht


Metadaten

Gericht VG Frankfurt (Oder) 7. Kammer Entscheidungsdatum 18.10.2023
Aktenzeichen VG 7 K 1178/20 ECLI ECLI:DE:VGFRANK:2023:1018.7K1178.20.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 34 Abs. 1 BauGB, § 35 BauGB, § 6 Abs 1 S 1 BauO BB, § 6 Abs 11 S 1 BauO BB, § 6 Abs 2 BauO BB, § 6 Abs 2 BauGB

Leitsatz

Dem Nachbarn kommt einer unter Verstoß gegen das Abstandsflächenrecht erteilten Baugenehmigung für ein Vorhaben ausnahmsweise dann kein Abwehrrecht zu, wenn es dem Bauherr möglich ist, das Vorhaben durch geringfügige Änderungen so abzuwandeln, dass es mit dem Abstandsflächenrecht in Einklang steht, oder wenn bezüglich des grundsätzlich nachbarschützenden Abstandsflächenverstoßes eine rechtmäßige Abweichung erteilt werden könnte. (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 14. August 2017 - 2 B 1388/16 -)

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens, einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Kläger wehren sich gegen eine Baugenehmigung für den Neubau eines Mehrfamilienhauses mit drei Wohneinheiten, die der Beigeladenen vom Beklagten erteilt worden ist.

Die Kläger sind Eigentümer des Flurstücks 57 der Flur 1 der Gemarkung G ... mit der Anschrift W ... das unmittelbar am P ..., südlich der (Erschließungs-)Straße liegt. Dieses Grundstück ist mit einem zweigeschossigen Einfamilienhaus bebaut, dessen Firsthöhe in amtlichen Lageplänen mit 46,08 Meter (NHN) angegeben ist. Die angegriffene Baugenehmigung vom 24. September 2019, zuletzt geändert mit Bescheid vom 7. Dezember 2022, der mit Schriftsatz der Kläger vom 3. März 2023 in das Klageverfahren einbezogen worden ist, bezieht sich auf das südöstlich angrenzende Flurstück 56. Beide Grundstücke weisen eine Hanglage in Richtung des Sees auf.

Nach der Baugenehmigung verfügt das streitgegenständliche Nachbargebäude über eine Dachterrasse, die sich hinter dem straßenseitigen Treppenhausaufbau in Richtung des Sees entlang der westlichen, d.h. zum Grundstück der Kläger zeigenden Außenwand erstreckt. Sie verfügt nach den Bauunterlagen über eine transparente Brüstung mit einer Höhe von 1 Meter, die auf einer 20 Zentimeter hohen Attika aufgesetzt ist. Nach dem grüngestempelten amtlichen Lageplan vom 16. August 2022 zur Änderungsgenehmigung vom 7. Dezember 2022 befindet sich die Oberkante der Brüstung in der südwestlichen Ecke der Dachterrasse, der im Lageplan und in der Abstandsflächenberechnung vom 8. August 2022 als Punkt T7 bezeichnet wird, in einer Höhe von 48,84 Meter (NHN). Als unterer Bezugspunkt für die Abstandsflächenberechnung wird in der Berechnung an dieser Stelle eine Höhe von 36,32 Meter (NHN) ausgewiesen. Ausweislich der Legende zum amtlichen Lageplan handelt es sich hierbei um eine interpolierte Höhe. Die Interpolation wurde vorgenommen, weil sich im fraglichen Bereich früher ein Schuppen mit Plattenfundament befunden hat, weshalb – so der entsprechende Vermerk des Vermessungsingenieurs zur Abstandsflächenberechnung im Zusammenhang mit der ursprünglichen Baugenehmigung – dieser Bereich nicht das natürliche Geländeniveau abbilde. Nach Maßgabe eines Faktors von 0,4 H weist die aktuelle Abstandsflächenberechnung ausgehend von der interpolierten Geländehöhe für den fraglichen Bereich eine Abstandsflächentiefe von 5,01 Meter aus, die ausweislich des Lageplans vom 16. August 2022 vollständig auf dem Baugrundstück liegt. Wegen der Hanglage nimmt die Abstandsflächentiefe an der westlichen Außenwand, die parallel zur westlichen Grundstücksgrenze verläuft, in Richtung Straße allmählich ab und erreicht in der nordwestlichen Ecke (Punkt T4) nach Maßgabe des Lageplans und der Abstandsflächenberechnung nur noch eine Tiefe von 4,10 Meter. Ausweislich des vorherigen Lageplans vom  3. Mai 2019, der Bestandteil der ursprünglichen Baugenehmigung ist, beträgt der Abstand zwischen dem Punkt T7 und der westlichen Grundstücksgrenze 5,20 Meter. Nach der Einmessungsbescheinigung vom 16. April 2020 beträgt der Abstand des Rohbaus zur Grundstücksgrenze an dieser Stelle 5,36 Meter. Ein von den Klägern zur Gerichtsakte gereichter Bestandsplan vom 17. Februar 2023, der von einem durch sie beauftragten öffentlich bestellten Vermessungsingenieur erstellt worden ist, gibt den Abstand zwischen der südwestlichen Gebäudeecke des zwischenzeitlich vollständig errichteten Gebäudes und der Grundstücksgrenze mit 5,15 Meter an.

Unter dem 24. Oktober 2019 legten die Kläger Widerspruch gegen die ursprüngliche Baugenehmigung ein und sie stellten am 27. Januar 2020 beim erkennenden Gericht einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs, den sie im Wesentlichen damit begründeten, dass gegen das Abstandsflächenrecht verstoßen worden sei, weil die vorgenommene Interpolation unzulässig sei, der amtliche Lageplan hinsichtlich des Verlaufs der Grundstücksgrenze unrichtig sei und eine Einmessungsbescheinigung fehle, sowie ferner das Gebot des Einfügens nach   Art. 34 Abs. 1 Baugesetzbuch (BauGB) im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung, die überbaubare Grundstücksfläche und das Gebot der Rücksichtnahme verletzt sei und das Vorhaben schließlich auch gegen Bestimmungen des Naturschutzrechts verstoße. Den Antrag lehnte das erkennende Gericht mit Beschluss vom  23. Juni 2020 (VG 7 L 39/20) ab.

Mit Widerspruchsbescheid vom 22. Juli 2020 wies der Beklagte den Widerspruch der Kläger gegen die ursprüngliche Baugenehmigung im Wesentlichen unter Verweis auf den Beschluss der erkennenden Kammer vom 23. Juni 2020 zurück. Am 21. August 2020 haben die Kläger die vorliegende Klage erhoben.

Nach Zurückweisung ihrer Beschwerde gegen den Beschluss der erkennenden Kammer vom 23. Juni 2020 mit Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 31. August 2020 (OVG 10 S 50/20) und Durchführung eines Ortstermins am 12. Juli 2023 durch den Berichterstatteter, wegen dessen Ergebnisse auf das entsprechende Protokoll nebst angefertigter Fotos verwiesen wird, haben die Kläger zur Begründung ihrer Klage zuletzt im Wesentlichen das Folgende vorgetragen:

Der Ortstermin sei nicht in voller Kammerbesetzung erfolgt. Eine gerichtliche Benachrichtigung hierüber sei nicht erfolgt. Auch sei kein vorheriger Beschluss über eine Beauftragung des Berichterstatters nach § 96 Abs. 2 VwGO bekannt. Der Ortstermin sei im Übrigen auch ungeeignet gewesen, weil der Zutritt zur Dachterrasse verweigert worden sei, sodass sich das Gericht keinen Eindruck von den Einsichtsmöglichkeiten auf das klägerische Grundstück von der Dachterrasse des streitgegenständlichen Gebäudes habe machen können. Nicht nachvollziehbar sei ferner, dass der Berichterstatter den Abstand zwischen Gebäudeaußenwand und Grenzzaun nicht zumindest grob nachgemessen habe. Es stelle sich ferner die Frage, ob mit der angegriffenen Baugenehmigung die Errichtung eines Gebäudes zugelassen worden sei, das an der dem klägerischen Grundstück zugewandten (westlichen) Außenwand über eine Außenwanddämmung verfüge oder nicht. § 6 Abs. 7 Brandenburgische Bauordnung (BbgBO) gelte nur für nachträgliche Maßnahmen. Die Einmessungsbescheinigung sei insoweit unergiebig, weil sie sich auf den Rohbau beziehe.

Ausgehend von einer – von den Klägern bereits im Eilverfahren vertretenen – Geländehöhe von ca. 35,30 Meter (NHN) im Bereich der südwestlichen Ecke des streitgegenständlichen Bauvorhabens vor Durchführung des Bauvorhabens, ergebe sich damit ein Abstandsflächenverstoß. Die Interpolation auf einen Wert von 36,32 Meter (NHN) sei unzulässig. Als Geländeoberfläche im Sinne des Abstandsflächenrechts sei die Schnittlinie anzusehen, die das Gelände unmittelbar mit den Außenwänden des Gebäudes bilde. Die nach § 6 Abs. 4 Satz 1 BbgBO allein maßgebliche „senkrecht zur Wand gemessene Geländeoberfläche“ an der westlichen Außenwand des Bauvorhabens der Beigeladenen sei zum Zeitpunkt der Genehmigungserteilung bekannt gewesen. Sie habe hier 35,30 Meter (NHN) betragen. Auf eine in der Vergangenheit erfolgte Terrassierung im Bereich des alten Schuppens komme es nicht an. Denn sie sei nicht unmittelbar im Bereich der westlichen Außenwand des streitgegenständlichen Bauvorhabens erfolgt, sondern vollständig außerhalb des Baukörpers, und berühre deshalb die Schnittlinie von Gebäude und Gelände im fraglichen Bereich nicht. Soweit das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg im Beschluss vom 31. August 2020 die Ansicht vertreten habe, dass sich ausweislich des (alten) Lageplans die nordöstliche Ecke der für den Schuppen geschaffenen Fläche und die südwestliche Ecke des streitgegenständlichen Gebäudes „nahezu berühren“, gebe der Lageplan diesen Schluss nicht her. Im Übrigen komme es für die Ermittlung des unteren Bezugspunkts der Wandhöhe gerade nicht darauf an, ob der Geländeverlauf in der Nähe der Schnittlinie verändert worden sei. Maßgeblich sei allein der Geländeverlauf unmittelbar an der Außenwand, der ausweislich des (alten) Lageplans nicht durch den Schuppen beeinträchtigt worden sei. Eine Interpolation sei nur bei begründeten Anhaltspunkten für eine erfolgte Geländeabtragung oder -aufschüttung zulässig. Dies sei hier im Bereich unmittelbar an der westlichen Außenwand nicht der Fall. Dass eine Interpolation auf Ausnahmefälle zu beschränken sei, zeige sich auch gerade im vorliegenden Fall, weil die Interpolation hier weitgehend intransparent sei.

Selbst wenn man unterstelle, dass gerade auch im Bereich unmittelbar an der westlichen Außenwand in der Vergangenheit Abgrabungen stattgefunden haben, sei die erfolgte Interpolation unzulässig. Sei eine künstliche Veränderung der Geländeoberfläche genehmigt worden oder sei sie genehmigungsfrei oder formell illegal aber materiell rechtmäßig erfolgt, so sei die entstandene Geländeoberfläche auch für spätere Bauvorhaben maßgeblich. Gleiches gelte, wenn etwaige frühere Veränderungen der Geländeoberfläche von den Beteiligten unangefochten hingenommen worden seien. Daran gemessen sei eine Interpolation hier nur zulässig, wenn – wofür hier nichts ersichtlich sei – der Schuppen, für dessen Aufstellung die etwaige Geländeabtragung hier erfolgt sei, formell und materiell rechtswidrig errichtet und die damalige Veränderung von den Nachbarn auch nicht unangefochten hingenommen worden wäre, zumal der Gesetzgeber eine Mittelwertbildung für Sachverhalte eines stark abfallenden Geländeverlaufs explizit ausgeschlossen habe, wie die Streichung des § 6 Abs. 4 Satz 3 BbgBO in der Fassung von 1998 zeige.

Der Ortstermin habe ferner zumindest die tatsächlichen Umstände bestätigt, die für einen Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot aufgrund erheblicher Einsichtnahmemöglichkeiten auf das klägerische Grundstück sprächen. So seien in der Nachbarschaft weder eine vergleichbar dimensionierte Dachterrasse noch vergleichbar große Fenster in den seitlichen Außenwänden vorhanden. Ohne die nur im Sommer belaubte Bepflanzung auf dem klägerischen Grundstück ergäben sich hier deshalb ganz erhebliche Einsichtsmöglichkeiten auf das Grundstück und in die Wohnräume. Das streitgegenständliche Gebäude verfüge ferner über ein im rückwärtigen, dem See zugewandten Bereich einmaliges Bauvolumen, das sich wegen des erheblichen Gefälles besonders negativ auswirke. Schließlich kehre der aufgezeigte Verstoß gegen das Abstandsflächenrecht das in der Rechtsprechung anerkannte Regel-Ausnahme-Prinzip um, sodass deshalb auch von einem Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot auszugehen sei.

Soweit der Berichterstatter im Ortstermin angedeutet habe, ein etwaiger Abstandsflächenverstoß könne angesichts seiner Geringfügigkeit wegen der Möglichkeit der Erteilung einer Abweichung unbeachtlich sein, sie dies zurückzuweisen. Es sei in der Rechtsprechung geklärt, dass auch nur geringfügige Abstandsflächenverstöße beachtlich seien. Etwaige Erwägungen zur Erteilung einer Abweichung müsste zunächst der Beklagte anstellen und ggf. verfügen. Dabei wäre auch zu berücksichtigen, dass die Beigeladene das Bauvorhaben auf eigenes Risiko fertiggestellt habe.

Darüber hinaus wiederholen die Kläger zu großen Teilen ihren Vortrag aus dem Eilverfahren, insbesondere verweisen sie (erneut) darauf, dass das genehmigte Bauvorhaben die faktische rückwärtige Baugrenze um fast vier Meter überschreite.

Die Kläger beantragen,

die Baugenehmigung für das Vorhaben „Neubau eines Mehrfamilienhauses   (3 WE) und Abriss eines Einfamilienhauses“ auf dem Grundstück W ... vom 24. September 2019 (Az.: 6 ... ) sowie den Widerspruchsbescheid des Landrats des Landkreises O ... vom 22. Juli 2020 (Az.: 6 ... ) in Gestalt der Änderungsgenehmigung vom 07. Dezember 2022 (Az.: 0 ... ) aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist im Wesentlichen auf die Ausführungen der erkennenden Kammer im Beschluss vom 23. Juni 2020. Ergänzend trägt er unter anderem vor, dass es auf den eingereichten Bestandsplan nicht ankomme, weil der erforderliche Grenzabstand selbst dann eingehalten wäre, wenn ein Abstand von 5,15 Meter zugrunde zu legen wäre.

Die Beigeladene beantragt,

die Klage abzuweisen.

Auch sie verweist im Wesentlichen auf die Ausführungen der erkennenden Kammer im Beschluss vom 23. Juni 2020. Ergänzend verweist sie darauf, dass die Kläger ebenfalls eine große Dachterrasse errichtet hätten, weshalb nicht einleuchte, warum sie sich an der Dachterrasse des streitgegenständlichen Vorhabens störten. Hinsichtlich der Nichteinhaltung der Abstandsflächen stellten die Kläger nur Vermutungen an.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird ergänzend auf den (übrigen) Inhalt der Gerichtsakte zum vorliegenden Verfahren, der beigezogenen Gerichtsakte zum Verfahren VG 7 L 39/20 und OVG 10 S 50/20 und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

I. Die zulässige Klage ist unbegründet.

Nach § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Verwaltungsgericht einen rechtswidrigen Verwaltungsakt nur aufheben, wenn der Kläger durch diesen Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt wird. Dies bedeutet für die Nachbarklage, dass der Nachbar, der gegen eine erteilte Baugenehmigung klagt, mit seiner Klage nur dann Erfolg haben kann, wenn er durch die Genehmigung in seinen subjektiven Rechten verletzt ist. Ob dem Nachbarn derartige Rechte zustehen, hängt davon ab, ob die Vorschrift, gegen welche die Baugenehmigung verstößt, (zumindest auch) dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 1980 – IV C 31.77 –, juris Rn. 13).

Die streitgegenständliche Baugenehmigung in der Fassung des Änderungsbescheids vom 7. Dezember 2022 verletzt keine nachbarschützenden Vorschriften zu Lasten der Kläger.

1. Soweit die Kläger im vorliegenden Hauptsacheverfahren erneut auf die hintere faktische Baugrenze verwiesen haben, ist ihnen bereits entgegenzuhalten, dass faktischen Baugrenzen (auch im Rahmen des Rücksichtnahmegebots) keine nachbarschützende Wirkung zukommt (vgl. OVG Bautzen, Beschluss vom 20. Oktober 2005 – 1 BS 251/05 –, juris Rn. 5 m.w.N.).

2. Die Kläger können sich jedenfalls im Ergebnis auch nicht mit Erfolg auf die unstreitig nachbarschützenden Vorschriften des Abstandsflächenrechts berufen.

Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Brandenburgische Bauordnung (BbgBO) sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten. Diese müssen grundsätzlich auf dem Grundstück selbst liegen (§ 6 Abs. 2 Satz 1 BbgBO). Die Tiefe der Abstandsfläche bestimmt sich dabei gemäß § 6 Abs. 4 Satz 1 BbgBO nach der senkrecht zur Wand zu messenden Wandhöhe, wobei die Wandhöhe grundsätzlich das Maß (H) von der Geländeoberfläche bis zum Schnittpunkt der Wand mit der Dachhaut oder bis zum oberen Abschluss der Wand ist (§ 6 Abs. 4 Satz 2 BbgBO).

Als oberer Bezugspunkt für die Ermittlung der Höhe der maßgeblichen westlichen Außenwand des genehmigten Bauvorhabens ist die Oberkante der Brüstung der Dachterrasse anzusetzen, weil sie trotz ihrer transparenten Ausgestaltung als Bestandteil der Wand anzusehen ist (vgl. VGH München, Beschluss vom 26. März 2015 - 2 ZB 13.2395 -, juris Rn. 2 f. und OVG Münster, Beschluss vom 1. Juni 2007 - 7 A 3852/06 -, juris Rn. 5 sowie – dem offenbar folgend – OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. November 2016 - OVG 10 S 5.16 -, juris Rn. 10).

Diese Höhe beträgt nach Maßgabe des auch von den Klägern insoweit nicht infrage gestellten amtlichen Lageplans vom 16. August 2022 in der südwestlichen Ecke der westlichen Außenwand 48,84 Meter (NHN).

Streitig ist vielmehr allein, welcher Wert als unterer Bezugspunkt, d.h. als Geländehöhe im fraglichen Bereich anzusetzen ist. Insoweit lässt die Kammer offen, ob der Ansicht der Kläger zu folgen ist, dass entsprechend dem amtlichen Lageplan vom 3. Mai 2019 eine Bezugshöhe von 35,30 bzw. 35,31 Meter (NHN) anzusetzen ist, weil die Interpolation zur (annäherungsweisen) Ermittlung der ursprünglichen natürlichen Geländehöhe womöglich unzulässig war.

Selbst wenn man die Ansicht der Kläger zugrunde legt, so würde sich nach Maßgabe des gemäß § 6 Abs. 5 Satz 1 BbgBO hier anzusetzenden Faktors von 0,4 H im Punkt T7 eine Abstandsflächentiefe von 5,41 bzw. 5,42 Meter ergeben. Ausgehend von einem Grenzabstand von 5,20 Meter im fraglichen Bereich, wie er im amtlichen Lageplan vom 3. Mai 2019 zur ursprünglichen Baugenehmigung ausgewiesen und hier zugrunde zu legen ist (dazu a.), ergäbe sich somit im fraglichen Bereich höchstens ein Abstandsflächenverstoß in Höhe von 22 Zentimeter. Dies würde die Aufhebung der angegriffenen Baugenehmigung nicht rechtfertigen (dazu b.).

a. Unerheblich ist zunächst, dass der aktuelle Lageplan vom 16. August 2022, der Bestandteil der Änderungsgenehmigung vom 7. Dezember 2022 ist, den entsprechenden Grenzabstand nicht (mehr) ausweist. Denn bei der Änderungsgenehmigung handelt es sich lediglich um eine Nachtrags- bzw. Tekturgenehmigung. Hinsichtlich der nicht von der Änderung betroffenen Teile des Bauvorhabens ergibt sich der Genehmigungsinhalt in diesem Fall weiter aus der ursprünglichen Baugenehmigung nebst den entsprechenden Bauvorlagen (vgl. VGH München, Beschluss vom 23. Oktober 2019 - 15 ZB 18.1275 -, juris Rn. 12). Da die Lage des Baukörpers von der hier genehmigten Änderung nicht betroffen ist, bleibt hinsichtlich des Abstands zwischen westlicher Außenwand und Grundstücksgrenze also weiter der alte Lageplan vom 3. Mai 2019 maßgeblich.

Ohne Belang ist ferner, ob das genehmigte Vorhaben tatsächlich näher an der Grenze errichtet worden ist. Gegenstand der vorliegenden Anfechtungsklage ist die Baugenehmigung und nicht die tatsächliche Bauausführung. Es kommt mithin allein auf den Inhalt der Genehmigung einschließlich der dazugehörigen Bauvorlagen an. Eine abweichende Bauausführung können die Kläger nach einem entsprechenden Vorverfahren allein im Rahmen einer Verpflichtungsklage auf bauaufsichtsbehördliches Einschreiten geltend machen (vgl. etwa OVG Saarlouis, Beschluss vom 3. Januar 2008 - 2 A 182/07 -, juris Rn. 16; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. November 2016 - OVG 10 S 5.16 -, juris Rn. 15 a.E.). Vor diesem Hintergrund bedurfte es auch nicht der von den Klägern vermissten Vermessung des Abstands zwischen (errichteter) Außenwand und dem Grenzzaun durch den Berichterstatter im Ortstermin, zumal ein Grenzzaun nicht zwingend den tatsächlichen Verlauf der Grundstücksgrenze widerspiegelt.

Es kommt auch nicht darauf an, ob die Beigelade womöglich nachträglich eine Wärmedämmung auf die Außenwand angebracht hat. Vorliegend war ausweislich der Legende zu den Grundriss- und Schnittzeichnungen jedenfalls ein Wärmeverbundsystem beantragt und so offensichtlich auch genehmigt, wie sich aus den entsprechenden Grünstempeln ergibt. Dementsprechend ist auch davon auszugehen, dass der amtliche Lageplan dieses System bei der Angabe des Abstands des geplanten Bauwerks zur Grenze berücksichtigt hat.

Schließlich können die Kläger auch nicht mit Erfolg einwenden, der amtliche Lageplan vom 3. Mai 2019 sei hinsichtlich des Grenzabstands unrichtig. Wie die Kammer bereits in ihrem Eilbeschluss ausgeführt hat, handelt es sich bei dem amtlichen Lageplan um eine öffentliche Urkunde, die nach § 98 VwGO i.V.m. § 418 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen erbringt. Den nach § 418 Abs. 2 ZPO möglichen Gegenbeweis haben die Kläger nicht erbracht. Zwar ist auch insoweit die Amtsermittlungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO zu beachten, sodass das Gericht etwaigen Anhaltspunkten für die Unrichtigkeit der öffentlichen Urkunde nachgehen muss. Das gilt allerdings nur insoweit, als die Aussicht besteht, dass der in § 418 Abs. 2 ZPO erwähnte Gegenbeweis geführt wird (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 - 6 B 6/04 -, juris Rn. 39 zu der mit § 418 Abs. 2 ZPO vergleichbaren Vorschrift des § 415 Abs. 2 ZPO). Der (Gegen-) Beweis der Unrichtigkeit nach § 418 Abs. 2 ZPO ist jedoch nur geführt, wenn jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass der gesetzlich als erwiesen geltende Sachverhalt richtig ist. Dies muss sich bereits aus dem Vorbringen des Gegenbeweisführers ergeben (vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Oktober 2004 - 9 B 6/04 -, juris Rn. 13). An einem solchen Vorbringen der Kläger fehlt es hier. Ihr diesbezügliches Vorbringen aus dem Eilverfahren, das sie im vorliegenden Hauptsacheverfahren nicht substantiiert vertieft haben, ist allenfalls geeignet, bloße Zweifel an der Unrichtigkeit des beurkundeten Vorganges zu wecken.

b. Ein sonach allenfalls anzunehmender Abstandsflächenverstoß in Höhe von   22 Zentimetern würde die Aufhebung der angegriffenen Baugenehmigung nicht rechtfertigen. Dies ergibt sich aus den folgenden Überlegungen:

Zwar führen die Kläger zutreffend an, dass Nachbarn gegen eine unter Verstoß gegen das Abstandsflächenrecht erteilte Baugenehmigung grundsätzlich ein Abwehrrecht unabhängig davon zukommt, ob sie durch das zugelassene Vorhaben in spürbarer Weise tatsächlich beeinträchtigt werden (vgl. etwa OVG Weimar, Beschluss vom 19. März 2018 - 1 EO 770/17 -, juris Rn. 19). Es ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung aber gleichwohl zum einen anerkannt, dass anderes ausnahmsweise in Fällen gilt, in denen es dem Bauherrn möglich ist, durch geringfügige Veränderungen das Vorhaben so abzuwandeln, dass es mit dem Abstandsflächenrecht im Einklang steht und deshalb vom Nachbarn hingenommen werden muss, ohne dass hierdurch ein faktisch wahrnehmbarer Vorteil für den Nachbarn entsteht (vgl. OVG Münster, Urteil vom 14. Januar 1994 - 7 A 2002/92 -, juris LS 4). Weiter wird zum anderen vertreten, dass die Möglichkeit, einen materiell-rechtlichen Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften durch Erteilung z.B. einer Abweichung ausräumen zu können, in baurechtlichen Nachbarklagen mit zum verwaltungsgerichtlichen Prüfungsprogramm gehört und dass – wenn eine rechtmäßige Abweichung erteilt werden könnte – eine derartige Klage keinen Erfolg haben kann (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 14. August 2017 - 2 B 1388/16 -, juris Rn. 9; vgl. für Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ferner OVG Münster, Beschluss vom 30. September 1996 - 10 B 2178/96 -, juris Rn. 13). Dies gilt erst recht, wenn ein gebundener Anspruch auf Erteilung der erforderlichen Abweichung besteht (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 25. Januar 1996 - 5 S 2766/95 -, juris Rn. 31; OVG Münster, Urteil vom 29. Oktober 2012 - 2 A 723/11 -, juris Rn. 80 ff.).

Diese Rechtsprechung überzeugt die erkennende Kammer. Ersterer Ansatz (dazu sogleich aa.) lässt sich dogmatisch mit dem sogenannten Schikaneverbot (§ 226 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]) rechtfertigen (vgl. OVG Saarlouis, Urteil vom   30. März 1993 - 2 R 17/92 -, juris Rn. 32) bzw. allgemein mit dem Verbot unzulässiger Rechtsausübung (§ 242 BGB). Letzterer Ansatz (dazu sogleich bb.) kann auf den - ebenfalls dem Verbot unzulässiger Rechtsausübung zuzuordnenden - Rechtsgedanken „dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est“ gestützt werden. Denn es wäre mit der nach Maßgabe des einschlägigen Rechts gewährleisteten Baufreiheit nicht vereinbar, eine rechtswidrige Baugenehmigung aufzuheben, die sogleich nach der Aufhebung wieder erteilt werden müsste (vgl. zu diesem Ansatz zur Rechtfertigung der Berücksichtigung nachträglicher Änderungen der Sach- und Rechtslage zu Gunsten des Bauherrn im Rahmen von Nachbarklagen BVerwG, Beschluss vom  23. April 1998 - 4 B 40/98 -, juris Rn. 3), oder zumindest unter Erteilung einer Abweichung gewährt werden könnte.

Beide Ansätze würden hier - jeweils selbstständig tragend - bei einem unterstellten Abstandsflächenverstoß in Höhe von 22 Zentimetern einer Aufhebung der angegriffenen Baugenehmigung entgegenstehen.

aa. Zunächst ließe sich der Abstandsflächenverstoß hier durch eine geringfügige Veränderung des Vorhabens beheben, ohne dass den Klägern dadurch ein faktisch wahrnehmbarer Vorteil entstünde. Insoweit ist nämlich zu berücksichtigen, dass der Verstoß sich nicht etwa für den gesamten Bereich der westlichen Außenwand ergeben würde, sondern nur in einem kleinen Bereich („Zipfel“) in der südöstlichen Ecke der westlichen Außenwand, weil die Abstandsflächentiefe entlang der westlichen Außenwand in Richtung Norden aufgrund der Hanglage stetig abnimmt, wie sich aus den amtlichen Lageplänen ergibt. Es würde für eine Behebung des Abstandsflächenverstoßes deshalb bereits genügen, in diesem kleinen Bereich die Brüstung der Dachterrasse um 22 Zentimeter nach hinten zu versetzen. Dies dürfte lediglich ein oder allenfalls zwei der in diesem Bereich angebrachten Brüstungspaneele betreffen. Dann wäre insoweit § 6 Abs. 4 Satz 3 BbgBO anzuwenden und eine fiktive Wand von der Oberkante der (rückversetzten) Brüstung senkrecht nach unten durch das Gebäude hindurch zu bilden (vgl. Kraus/Harant, in: Busse/Kraus, BayBO, Stand: August 2023, Art. 6 Rn. 258). Die entsprechende (fiktive) Wand würde eine Abstandsflächentiefe von genau 5,20 Meter erzeugen. Die dann unter Außerachtlassung der Brüstung zu betrachtende (eigentliche) Gebäudeaußenwand würde die erforderliche Abstandsflächentiefe ebenfalls einhalten und zwar unabhängig davon, ob als oberer Bezugspunkt die Oberkante des Daches (47,47 Meter) oder die Oberkante der Attika (47,85 Meter) gewählt wird. Es liegt auf der Hand, dass eine derartig geringfügige Umgestaltung des Vorhabens keine merkliche Verbesserung für die Kläger unter dem Gesichtspunkt der von ihnen vor allem beanstandeten Einsichtsmöglichkeiten mit sich bringen würde. Eine sich im Bereich der Brüstung aufrecht aufhaltende erwachsene Person könnte das Grundstück der Kläger immer noch genauso gut einsehen wie vorher.

bb. Zudem käme hier die Erteilung einer Abweichung nach § 6 Abs. 11 i.V.m. § 67 BbgBO in Betracht. Der Beigeladenen stünde insoweit zwar wohl kein gebundener Anspruch auf Erteilung zu. Das Ermessen des Beklagten wäre aber zumindest in Richtung der Erteilung intendiert.

Nach § 6 Abs. 11 Satz 1 BbgBO kann eine Abweichung von den Abstandsflächenregeln nach § 67 BbgBO zugelassen werden, wenn deren Schutzziele gewahrt bleiben. Auf der Tatbestandsseite ist demnach die Wahrung der Schutzziele des Abstandsflächenrechts die einzige Voraussetzung für die Zulassung einer Abweichung, und zwar - wie sich aus § 6 Abs. 11 Satz 2 BbgBO ergibt – unabhängig davon, ob eine atypische Grundstückssituation gegeben ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Februar 2021 - OVG 10 S 69/20 -, juris Rn. 27 zur wortlautidentischen Vorschrift des § 6 Abs. 11 Bauordnung für Berlin).

Hier blieben die Schutzziele des Abstandsflächenrechts bei Erteilung einer Abweichung gewahrt. Die Regelungen des Abstandsflächenrechts zielen im Interesse der Wahrung des nachbarlichen Wohnfriedens auf eine aufgelockerte Bebauung ab, die eine ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung der Gebäude und der sonstigen Teile des Nachbargrundstücks gewährleistet und die Einsichtsmöglichkeiten begrenzt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Februar 2021 - OVG 10 S 69/20 -, juris Rn. 25 m.w.N.). Die Annahme, dass eine in einer Tiefe von 22 Zentimeter lediglich punktuell und nicht etwa über die gesamte Länge auf das Nachbargrundstück geworfenen Abstandsfläche zu einer für die Kläger merklich negativen Veränderung der Belange der Belichtung und Besonnung ihres Grundstücks führen könnte, verbietet sich bereits aufgrund der transparenten Ausführung der Brüstung. Es steht auch außer Frage, dass die Belüftung ihres Grundstücks weiter hinreichend gewährleistet ist. Hinsichtlich der Einsichtsmöglichkeiten kann schließlich auf die Ausführungen unter I. 2. b. aa. verwiesen werden.

Liegen – wie nach den vorstehenden Ausführungen hier – die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Abweichung vor, ist diese regelmäßig zu erteilen, es sei denn, es lägen besondere Umstände vor, die dem ausnahmsweise entgegenstünden (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 7. Juni 2023 - OVG 3a A 57/23 -, juris  Rn. 43 m.w.N.). Derartige Umstände sind hier nicht ersichtlich.

3. Auch eine von den Klägern geltend gemachte Verletzung des partiell drittschützenden Gebots der Rücksichtnahme ist nicht gegeben, unabhängig davon, ob es hier um ein Innen- (§ 34 BauGB) oder ein Außenbereichsvorhaben (§ 35 BauGB) geht und in welcher Vorschrift es deshalb verankert ist. Insoweit kann zunächst auf die diesbezüglichen Ausführungen der Kammer im Eilverfahren verwiesen werden.

Auch bei einer – wie oben – unterstellten Verletzung des Abstandsflächenrechts hätte dies keinen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme zur Folge. Soweit die Kläger die Rechtsprechung ansprechen, nach der bei Einhaltung des Abstandsflächenrechts ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme im Hinblick auf die Schutzziele des Abstandsflächenrechts (hier insbesondere die Begrenzung von Einsichtnahmemöglichkeiten) ausgeschlossen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 6. Dezember 1996 - 4 B 215/96 -, juris Rn. 9) und sie daraus den Umkehrschluss ziehen wollen, dass bei einer Verletzung des Abstandsflächenrechts auch ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme indiziert sei, vermag sich die Kammer dieser Sichtweise nicht anzuschließen.

Für die Anwendung des Rücksichtnahmegebots ist nämlich mit Blick auf die durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange zum einen auch dann kein Raum, wenn den entsprechenden nachbarlichen Belangen bei der Gewährung einer Abweichung hinreichend Rechnung getragen worden ist. Denn der Landesgesetzgeber macht durch die Ermächtigung der Baurechtsbehörde zu einer in ihrem Ermessen stehenden Abweichung deutlich, dass den jeweiligen Belangen des Bauherrn und des betroffenen Nachbarn auch durch eine im Einzelfall von den notwendiger-  weise schematischen Abstandsregelungen abweichende Abwägung hinreichend Rechnung getragen werden kann (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 18. Februar 1994 - 8 S 678/93 -, juris Rn. 32). Entsprechendes muss aus den vorstehenden Gründen für den Fall gelten, dass eine Abweichung zwar nicht gewährt worden ist, aber ohne weiteres erteilt werden könnte, bzw. sich der Abstandsflächenverstoß durch eine geringfügige Veränderung des Vorhabens beheben lässt, ohne dass den Klägern dadurch ein faktisch wahrnehmbarer Vorteil entstünde.

Zum anderen indiziert eine – hier unterstellte – Verletzung der Abstandsflächenvorschriften ohnehin keine Verletzung des Rücksichtnahmegebots (vgl. VGH München, Beschluss vom 23. April 2014 - 9 CS 14.222 -, juris Rn. 11). Der von den Klägern angestellte Umkehrschluss lässt sich nicht ziehen (vgl. VGH München, Beschluss vom 22. Juni 2011 - 15 CS 11.1101 -, juris Rn. 17). Bliebe es auch bei einem unterstellten Abstandsflächenverstoß somit bei den allgemeinen Grundsätzen zum Rücksichtnahmegebot, würde eine Verletzung dieses Gebots hier weiterhin ausscheiden.

Eine solche Verletzung käme hier nur unter den Gesichtspunkten einer erdrückenden Wirkung oder unzumutbarer Einsichtnahmemöglichkeiten ernstlich in Betracht.

Wann eine erdrückende Wirkung eines Vorhabens anzunehmen ist, richtet sich maßgeblich nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls. Eine erdrückende Wirkung wird z.B. angenommen bei einem zwölfgeschossigen Hochhaus im Verhältnis zu einer benachbarten Bebauung mit einem eineinhalbgeschossigen Gebäude, das von diesem mit einem Abstand von nur 15 Meter errichtet werden soll. Nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg wird eine erdrückende Wirkung insbesondere auch angenommen, wenn eine bauliche Anlage wegen ihrer Ausmaße, ihrer Baumasse oder ihrer „massiven“ Gestaltung ein benachbartes Grundstück unangemessen benachteiligt, indem es diesem förmlich „die Luft zum Atmen nimmt“, wenn für den Nachbarn das Gefühl des „Eingemauertseins“ bzw. eine „Hinterhofsituation“ entsteht oder wenn die Größe des „erdrückenden“ Gebäudes aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls derartig übermächtig ist, dass das „erdrückte“ Gebäude oder Grundstück nur noch oder überwiegend wie eine von einem „herrschenden“ Gebäude dominierte Fläche ohne eigene Charakteristik wahrgenommen wird (vgl. zu alledem OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. November 2018 - OVG 10 S 57.17 -, juris Rn. 18 m.w.N.). Von einer derartigen (Ausnahme-)Situation kann hier selbst bei einem unterstellten Abstandsflächenverstoß nicht die Rede sein.

Mit Blick auf die Einsichtnahmemöglichkeiten ergibt sich kein anderes Ergebnis. Nachbarn müssen in einem bebauten Wohngebiet hinnehmen, dass Grundstücke innerhalb des Rahmens, den das Bauplanungsrecht und das Bauordnungsrecht vorgeben, baulich ausgenutzt werden und es dadurch zu Einsichtsmöglichkeiten kommt, die in einem bebauten Gebiet üblich sind. Einen Ausnahmefall der Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme durch unzumutbare Einsichtnahmemöglichkeiten hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg für einen Aussichtsturm mit offenem Treppenaufgang und einer Aussichtsplattform in 27 Meter Höhe angenommen, der 40 Meter von einem Wohngebäude und 30 Meter von dessen Garten entfernt war und das Wohnhaus um ein Vielfaches überragte. Maßgebend waren dabei insbesondere die große Höhe des Turmes, die Vielzahl der Einsichtsmöglichkeiten durch die offene Konstruktion des Treppenaufgangs sowie die unbestimmte Anzahl wechselnder Besucher. Keinen absoluten Ausnahmefall unzumutbarer Einsichtsmöglichkeiten hat der Senat hingegen bei einem fünfgeschossigen Wohnhaus mit Dachausbau gesehen, das sogar mit der Frontseite zum zweigeschossigen Einfamilienhaus auf dem angrenzenden Grundstück ausgerichtet war (vgl. zu alledem OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Juni 2023 - OVG 10 S 17/23 -, juris Rn. 14 m.w.N.). Der vorliegende Fall ist mit dem zuletzt genannten Fall des fünfgeschossigen Wohnhauses vergleichbar und rechtfertigt deshalb selbst bei einem – ohnehin allenfalls nur geringfügigen – Abstandsflächenverstoß nicht die Annahme einer für die Kläger unzumutbaren Situation. Eine andere Einschätzung ergibt sich auch nicht daraus, dass ihr Grundstück nicht in einem dichtbebauten Innenstadtbereich liegt. Es liegt jedenfalls in einem bebauten Bereich, selbst wenn es sich insoweit um eine Splittersiedlung im Sinne von § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 BauGB handeln sollte. Einsichtnahmemöglichkeiten sind auch in einer solchen Splittersiedlung üblich und deshalb im Regelfall hinzunehmen.

4. Den in der mündlichen Verhandlung lediglich bedingt gestellten (Hilfs- bzw. Eventual-)Beweisanträgen der Kläger, die als Anregung an das Gericht zu werten sind, den Sachverhalt weiter von Amts wegen in die vorgeschlagene Richtung zu ermitteln, war nicht nachzugehen. Hinweise darauf, dass der Beklagte dem Gericht Vorgänge vorenthalten hat, die unmittelbar die Erteilung der Baugenehmigung, das Widerspruchsverfahren oder die Änderungsgenehmigung betreffen (insbesondere im Zeitraum 15. September 2020 bis 19. September 2020), hat die Kammer nicht. Soweit die Beweisanträge sie auf weitere Ermittlungen zur Interpolation abzielten, kam es darauf aus den vorstehenden Gründen schon nicht entscheidungserheblich an. Hinsichtlich der Einsichtnahmemöglichkeiten unter dem Gesichtspunkt des Rücksichtnahmegebots konnte sich die Kammer auf der Grundlage des vom Berichterstatters durchgeführten Ortstermins und der in diesem Zusammenhang angefertigten Bilder hinreichend seine Überzeugung bilden, weil eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots nur bei Vorliegen eines der oben aufgezeigten (extremen) Ausnahmefälle in Betracht gekommen wäre. Um das Vorliegen eines solchen Ausnahmefalls auszuschließen, war eine Besichtigung der Dachterrasse nicht zwingend erforderlich. Auch war eine Beauftragung des Berichterstatters nach § 96 Abs. 2 VwGO mit der Ortsbesichtigung entgegen der Ansicht der Kläger nicht erforderlich. § 87 Abs. 3 Satz 1 VwGO stellt insoweit die speziellere Vorschrift dar. Die Voraussetzungen des § 87 Abs. 3 Satz 2 VwGO waren hier erfüllt. Es ist in der baurechtlichen Rechtsprechung anerkannt, dass der Berichterstatter den übrigen Kammermitgliedern in der Regel einen hinreichenden Eindruck von dem Ergebnis der Ortsbesichtigung vermitteln kann.

II. Die gerichtliche Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Dabei entsprach es nach § 162 Abs. 3 VwGO der Billigkeit, die Kläger auch mit den außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu belasten, weil diese in der mündlichen Verhandlung einen Sachantrag gestellt und sich damit nach § 154 Abs. 3 VwGO einem eigenen Kostenrisiko ausgesetzt hat.

Die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils im Kostenpunkt ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Die Berufung war nach §§ 124a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. In der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg ist – soweit ersichtlich – noch nicht geklärt, ob bei Drittanfechtungsklagen inzident die Möglichkeit der Erteilung einer Abweichung zu prüfen bzw. ggf. der Frage nachzugehen ist, ob sich ein Abstandsflächenverstoß durch eine geringfügige Veränderung des Vorhabens beheben lässt, ohne dass den Klägern dadurch ein faktisch wahrnehmbarer Vorteil entstünde. Gerade erstere Frage dürfte sich in Zukunft in einer Vielzahl von Fällen in entscheidungserheblicher Weise stellen, seitdem eine Abweichung von den Anforderungen des Abstandsflächenrechts ausdrücklich keine atypische Grundstückssituation mehr verlangt, die (als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal) in der Vergangenheit einer entsprechenden Abweichungsentscheidung regelmäßig bereits von vornherein entgegenstand.