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Entscheidung VG 6 K 475/19.A


Metadaten

Gericht VG Frankfurt (Oder) 6. Kammer Entscheidungsdatum 03.11.2023
Aktenzeichen VG 6 K 475/19.A ECLI ECLI:DE:VGFRANK:2023:1103.6K475.19.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Die Kläger begehren die Zuerkennung internationalen Schutzes und machen nationale Abschiebungsverbote im Hinblick auf ihr Herkunftsland (Russische Föderation) geltend.

Die Kläger sind russische Staatsangehörige tschetschenischer Volks- und islamischer Religionszugehörigkeit. Die Kläger zu 3. bis 5. sind minderjährige Kinder der miteinander staatlich verheirateten Kläger zu 1. und 2.; diese haben noch zwei weitere, im Jahre 2018 und 2021 in der Bundesrepublik Deutschland nachgeborene Kinder. Der Asylantrag des im Jahre 2018 geborenen Kindes wurde gesondert abgelehnt (Az.: 7...); die hiergegen erhobene Klage hat die erkennende Kammer mit Gerichtsbescheid vom 29. April 2020 (VG 6 K 131/19.A) durch den Einzelrichter rechtskräftig abgelehnt.

Die bis zur Ausreise in Grosny wohnhaften Kläger reisten nach eigenen Angaben im November 2017 über Polen in die Bundesrepublik Deutschland ein. Dort stellten sie am 1. Dezember 2017 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Antrag auf Asylanerkennung.

Das Bundesamt lehnte mit sog. Dublin-Bescheid vom 11. Dezember 2017 die Asylanträge der Kläger zunächst als unzulässig ab und ordnete deren Abschiebung nach Polen an, hob diesen aber mit Bescheid vom 16. August 2018 wegen Ablaufs der Überstellungsfrist wieder auf.

Der Niederschrift über die daraufhin durch das Bundesamt am 19. September 2018 durchgeführten Anhörung der Kläger zu 1. und 2. lässt sich im Wesentlichen folgendes Verfolgungsvorbringen entnehmen:

Der Kläger zu 1. habe keinen Wehrdienst geleistet. Er sei von Dezember 2010 bis September 2017 im Polizeidienst in einer Spezialeinheit („2. Regiment – Akhmad-Kadhzhi Kadyrow“) tätig gewesen. In diesem Rahmen habe er einen Lehrgang als Scharfschütze und mehrere Weiterbildungen (max. drei Monate) unterlaufen sowie auch an Kampfhandlungen teilgenommen.

Im August 2017 sei sein Cousin unter dem Vorwurf, nach Syrien reisen zu wollen, als mutmaßlicher Terrorist festgenommen worden. Er habe sich für dessen Freilassung eingesetzt und für diesen gebürgt. Als der Cousin dann wenige Wochen später tatsächlich nach Syrien gegangen sei, sei dem Kläger zu 1. von seinem Kommandeur vorgeworfen worden, von den Absichten seines Cousins gewusst und diesen unterstützt zu haben. Er sei dann im September 2017 aus dem Polizeidienst entlassen und für ca. einen Monat inhaftiert worden. Ein Haftbefehl sei vorerst nicht gegen ihn erlassen worden. Man habe ihn aufgefordert, seinen Cousin aus Syrien zurück zu holen oder innerhalb eines Monats, jemanden zu finden, „in dessen Schuhe die Polizei die Angelegenheit schieben“ könne. Daraufhin habe er sich zu Ausreise entschieden. Bereits während seiner Festnahme habe seine Mutter für die Kläger Reisepässe organisiert. Am 10. November 2017 seien sie dann von Inguschetien nach Moskau geflogen und von dort mit dem Zug aus der Russischen Föderation über Polen nach Deutschland ausgereist.

Die Klägerin zu 2. beruft sich auf das Verfolgungsschicksal ihres Ehemannes und macht für sich sowie für ihre Kinder keine eigenen Gründe geltend.

Das Bundesamt lehnte mit dem hier angefochtenen Bescheid vom 10. Januar 2019 (Az.: 7...), zustellungshalber zur Post aufgegeben am 16. Januar 2019, den Asylantrag der Kläger vollumfänglich ab (Ziff. 1-3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 4), forderte die Kläger unter Androhung ihrer Abschiebung in die Russische Föderation zur Ausreise auf (Ziff. 5) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziff. 6). Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Begründung des Bescheides Bezug genommen.

Hiergegen wenden sich die Kläger mit ihrer am 31. Januar 2019 bei dem Verwaltungsgericht Cottbus erhobenen Klage und verfolgen ihr Schutzbegehren mit Ausnahme des Asylanspruchs weiter. Das Verwaltungsgericht Cottbus hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 2. April 2019 (VG 1 K 130/19.A) an das erkennende Gericht verwiesen.

In der mündlichen Verhandlung vom 3. November 2023 haben die Kläger Gelegenheit zu ergänzendem Vorbringen gehabt. Der Kläger zu 1. macht nunmehr nur noch geltend, ihm drohe als ehemaliger Kadyrowzy mit einschlägiger Spezialausbildung und Veteranenstatus die Zwangsrekrutierung zum Militäreinsatz im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Die Kläger beantragen,

Ziffern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10. Januar 2019 (7...) aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen; hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, ihnen subsidiären Schutz zuzuerkennen oder festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG bestehen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten dieses Verfahrens und des Verfahrens des weiteren Kindes der Kläger zu 1. und 2. (VG 6 K 131/19.A) sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und - soweit wesentlich - ebenso Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, wie die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel.

Entscheidungsgründe

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten entscheiden, da diese in der ordnungsgemäß zugestellten Ladung ausdrücklich auf die Folgen hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO). Der Einzelrichter war aufgrund des Beschlusses der Kammer vom 28. September 2023 zur Entscheidung der Streitsache berufen (§ 76 Abs. 1 AsylG).

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens ist das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 21. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2817) geändert worden ist (AsylG), sowie das Aufenthaltsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 8. Oktober 2023 (BGBl. I Nr. 271) geändert worden ist (AufenthG). Das Gericht stellt in Streitigkeiten nach dem Asylgesetz auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG).

Die Versagung des durch die Kläger begehrten internationalen Schutzes erfolgte ebenso rechtmäßig (nachfolgend unter Ziff. 1), wie die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (nachfolgend unter Ziff. 2), sodass die Kläger dadurch jeweils nicht in ihren Rechten verletzt sind (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Auch ist der mit der Klage angegriffene Bescheid hinsichtlich der Abschiebungsandrohung sowie der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots rechtmäßig (nachfolgend unter Ziff. 3) und die Kläger sind entsprechend nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Die Kläger haben keinen Anspruch auf die Zuerkennung internationalen Schutzes, der gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG den Flüchtlingsschutz (§ 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG) sowie den subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 1 AsylG) umfasst.

a. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG in seiner Variante der Nr. 2 Buchst. a) ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Die Furcht vor Verfolgung in diesem Sinne ist begründet, wenn einem Schutzsuchenden bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr flüchtlingsrelevante Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab entspricht dem der tatsächlichen Gefahr ("real risk") in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bei der Prüfung des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob nach Abwägung der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist (vgl. ausführlich: BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – BVerwG 1 C 31/18 –, juris Rn. 16, m.w.N.).

Nach § 4 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Die §§ 3c bis 3e AsylG gelten dabei entsprechend (§ 4 Abs. 3 AsylG). Für die Bewertung der Bedrohungslage ist auch im Rahmen des subsidiären Schutzes der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – BVerwG 10 C 5/09 –, juris Rn. 22).

b. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.

Dies gilt für die Kläger zu 2.-5. schon deshalb, weil sie einen Schutzanspruch aus eigenem Recht nicht geltend machen. Soweit sie sich auf das Verfolgungsschicksal des Klägers zu 1. berufen, kommt ein abgeleiteter Schutzanspruch als Familienangehörige eines international Schutzberechtigten gemäß § 26 Abs. 1 bzw. 2, Abs. 5 AsylG in dem hier maßgeblichen Zeitpunkt nicht in Betracht. Es fehlt jedenfalls an der danach erforderlichen unanfechtbaren Anerkennung des Klägers zu 1., dessen Anspruch auf Schutzzuerkennung im Übrigen aus den nachfolgenden Grüßen abzulehnen ist.

Nachdem der Kläger zu 1. sich in der mündlichen Verhandlung nicht mehr zu dem in seiner Anhörung durch das Bundesamt geschilderten Verfolgungsschicksal äußern wollte, ist nicht davon auszugehen, dass er sein Schutzbegehren weiterhin auf eine Vorverfolgung im Heimatland stützt. Insofern bedarf das diesbezügliche Tatsachenvorbringen keiner Bewertung hinsichtlich der Glaubhaftigkeit.

Hinsichtlich der nunmehr befürchteten Zwangsrekrutierung durch tschetschenische Sicherheitskräfte für den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine muss sich der Kläger zu 1. auf die Inanspruchnahme internen Schutzes gemäß § 3e Abs. 1 AsylG verweisen lassen. Es kann daher dahinstehen, ob und gegebenenfalls unter welchen weiteren Voraussetzungen eine Weigerung russischer Staatsangehöriger, an dem Angriffskrieg gegen die Ukraine teilzunehmen, zur Zuerkennung von internationalem Schutz führen kann (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2023 – BVerwG 1 C 22/21 –, juris Rn. 18 ff.).

aa. Gemäß § 3e Abs. 1 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) sowie sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2). Hierbei sind – unter Auswertung genauer und aktueller Informationen aus relevanten Erkenntnisquellen – die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers zu berücksichtigen (vgl. § 3e Abs. 2 AsylG). Diese Regelungen gelten entsprechend auch für den subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 3 AsylG).

In der Russischen Föderation herrscht laut gesetzlichen Vorgaben Bewegungsfreiheit; auch Personen aus dem Nordkaukasus können in andere Teile der Russischen Föderation reisen; die Binnenmigration hat hinsichtlich der Republik Tschetschenien zuletzt sogar zugenommen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich [BFA], Länderinformation der Staatendokumentation Russische Föderation aus dem COI-CMS - Version 12 - vom 4. Juli 2023, S. 89, 90 f.; Auswärtiges Amt [AA], Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28. September 2022, S. 17). Nach der ständigen Rechtsprechung der erkennenden Kammer kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass ethnische Tschetschenen wie die Kläger außerhalb der Teilrepublik Tschetschenien in anderen Landesteilen der Russischen Föderation sicher leben können. Anderes gilt nur dann, wenn die Verfolgung von föderalen Sicherheitsbehörden ausgeht oder mit Übergriffen durch die tschetschenischen Sicherheitsbehörden bzw. sonstigen Verfolger – landesweit – gerechnet werden muss (vgl. grundlegend Urteile des erkennenden Gerichts vom 17. Juni 2020 - VG 6 K 741/13.A - juris Rn. 17 ff. und vom 3. November 2020 - VG 6 K 2842/16.A - n.v., rkr. nach Nichtzulassung der Berufung durch Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 18. Februar 2022 - OVG 12 N 5/21 -, n.v.). Hieran ist mangels grundlegend entgegenstehender aktueller Erkenntnisse festzuhalten. Eine landesweite Verfolgungsgefahr kommt daher vor allem für Kritiker mit exponierter Stellung in Betracht (vgl. BFA, a.a.O.,
S. 49 ff. sowie die Vorauflage dieses Berichts – Version 11 – vom 3. Februar 2023, S. 95 ff.), nicht aber für politisch unverdächtige Tschetschenen.

bb. Vorliegend erscheint es nach einer Gesamtbetrachtung und -würdigung aller Umstände des Einzelfalles zur Überzeugung des Gerichts nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger zu 1. im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation voraussichtlich landesweit einer legalen oder extralegalen Zwangsrekrutierung für den Kampfeinsatz gegen die Ukraine ausgesetzt wäre.

Hierzu sei angemerkt, dass sich die anzustellende Prognose zur Rückkehrgefährdung auf einen begrenzten Zeitraum beschränkt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2023 – 1 C 22/21 –, juris Rn. 21: „zeitnah einberufen“) und die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit bei unsicherer Tatsachengrundlage nicht auf bloße Hypothesen und ungesicherte Annahmen gestützt werden darf (ausführlich hierzu: BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 24). Insofern genügt es für einen Schutzanspruch nicht, dass eine Zwangsrekrutierung unter den gegebenen Umständen letztlich keinesfalls ausgeschlossen werden kann.

(1) Dem Kläger zu 1. droht zunächst keine Einberufung in den Wehrpflichtdienst der Russischen Föderation. Mit seinem Alter von derzeit 33 Jahren unterfällt er zum hier entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht mehr der Wehrpflicht nach russischem Recht. Wehrpflichtig sind männliche Staatsangehörige zwischen 18 und 27 Jahren (Art. 22 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 28. März 1998 Nr. 53 FZ "Über die Wehrpflicht und den Militärdienst“ in der aktuellen Fassung vom 4. August 2023 [Bundesgesetz Nr. 53 FZ], abrufbar unter https://ivo.garant.ru/#/document/178405, Zugriff am 3. November 2023). Eine von diesen Altersgrenzen grundlegend abweichende Verwaltungspraxis ist nicht zu beobachten (vgl. European Union Agency for Asylum [EUAA], Bericht aus Dezember 2022, „The Russian Federation - Military service“, S. 15 ff.). Ohne Relevanz für den vorliegenden Fall ist, dass die Altershöchstgrenze von derzeit 27 Jahren mit Wirkung zum 1. Januar 2024 auf 30 Jahre angehoben wird (vgl. Art. 1 Abs. 1 des Bundesgesetzes Nr. 439 FZ vom 4. August 2023 "Über Änderungen einiger Gesetzgebungsakte der Russischen Föderation", abrufbar unter http://ivo.garant.ru/#/document/ 407483291, Zugriff am 3. November 2023).

(2) Auch droht dem Kläger zu 1. voraussichtlich nicht die Einziehung in den Militärdienst als Reservist im Rahmen der am 21. September 2022 per Dekret verkündeten sog. Teilmobilmachung in der Russischen Föderation (Dekret abrufbar unter http://kremlin.ru/events/president/news/69391, Zugriff am 3. November 2023).

Zwar gehört er altersmäßig grundsätzlich zu dem hiervon betroffenen Personenkreis, weil er das 35. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, bis zu dem Reservisten im untersten militärischen Rang in erster Linie einberufen werden (vgl. Art. 53 des vorzitierten Bundesgesetzes Nr. 53 FZ). Die vorgenannte Teilmobilisierung war auf die Einberufung von Angehörigen der ersten Altersstufe jedes Rangs der Reserve beschränkt (EUAA, a.a.O., S. 26).

Indes sollte der Erlass nach offiziellen Angaben nur auf diejenigen russischen Staatsangehörigen angewendet werden, die bereits für die russischen Streitkräfte gedient haben und über Kampferfahrung bzw. einschlägige Spezialisierungen verfügen (vgl. EUAA, a.a.O., S. 26; Danish Immigration Service [DIS], Bericht aus Dezember 2022, „Brief Report Russia – An update on military service since July 2022“, S. 13). Der Kläger zu 1. hat nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung keinen Wehrdienst geleistet, sondern sei stattdessen in den tschetschenischen Sicherheitsdienst (Kadyrowzy) eingetreten (vgl. S. 6 der Sitzungsniederschrift). In diesem Rahmen habe er auch die Spezialausbildung als Scharfschütze unterlaufen. Auch der durch den Kläger als Foto vorgezeigte „Ausweis des Veteranen der Kriegshandlung“ belegt keine anerkennungsfähige Kampferfahrung bei den russischen Streitkräften, weil dort als Aussteller das Innenministerium der Republik Tschetschenien angegeben ist.

Darüber hinaus könnte der Kläger zu 1. eine Ausnahme von der Pflicht zum Militärdienst beanspruchen. So wird ein Aufschub von der Einberufung bei der Mobilmachung für Väter gewährt, die vier oder mehr unterhaltsberechtigte Kinder unter 16 Jahren haben (EUAA, a.a.O., S. 28; DIS, a.a.O., S. 14). Hierauf kann sich der Kläger zu 1. mit seinen fünf Kindern grundsätzlich berufen, wobei der bereits im Jahre 2017 geborene Kläger zu 5. außer Betracht bleiben kann. Dass diese bundesgesetzliche Aufschubregelung in beachtlicher Zahl nicht angewendet wird, geht aus den zu Verfügung stehenden Erkenntnismitteln nicht hervor. Lediglich in Bezug auf die Senkung der Voraussetzungen auf drei Kinder gab es widersprüchliche Aussagen verschiedener öffentlicher Stellen (vgl. Niederländisches Ministerium für auswärtige Angelegenheiten - Ministerie van Buitenlandse Zaken [BZ], Bericht aus März 2023, „Country of Origin Information Report - Russian Federation“, S. 58 f.).

Zudem wurde – wenngleich das vorerwähnte Dekret formal nach wie vor in Kraft ist – die Mobilmachung inzwischen offiziell für abgeschlossen erklärt (BFA, a.a.O., S. 35; DIS, a.a.O., S. 13) und eine - ggfls. verdeckte - Fortsetzung der landesweiten Einberufung von Reservisten in den Dienst der russischen Streitkräfte ist nicht in einem Ausmaß unmittelbar absehbar, das in Bezug auf den Kläger zu 1. insoweit eine beachtliche Wahrscheinlichkeit begründet (ebenso unter Auswertung der einschlägigen Erkenntnislage: VG Cottbus, Urteil vom 24. Mai 2023 – VG 1 K 823/21.A –, juris Rn. 85; VG Potsdam, Urteil vom 21. April 2023 – VG 16 K 2790/17.A –, juris Rn. 65).

Nach der jüngsten Auskunft der EUAA stellt sich die diesbezügliche Lage aktuell wie folgt dar (EUAA, Anfragebeantwortung vom 3. Oktober 2023, COI Query Q47-2023, „Major developments in the Russian Federation in relation to military service“, S. 11 f.): Die russischen Behörden hätten nach dem verkündeten Ende der Mobilmachung wiederholt jegliche Pläne für eine weitere Mobilisierung dementiert. Eine solche Aktion soll nach Medienangaben möglichst nicht vor den für März 2024 angesetzten Präsidentschaftswahlen stattfinden. Nach Ansicht von Analysten hänge die Möglichkeit einer weiteren Mobilisierung weitgehend von der Entwicklung der Lage an der Front ab. Zur Vermeidung einer zweiten Mobilisierungswelle würden russische Behörden "hybride Reserveeinberufungs- und Krypto-Mobilisierungskampagnen zur Rekrutierung von Russen für den Vertragsdienst" fortsetzen. Hierbei sei in diversen Regionen der Russischen Föderation zu beobachten gewesen, dass Vorladungen an Reservisten versandt würden, ihre Daten bei den Rekrutierungsbüros zu bestätigen bzw. zu aktualisieren oder an den obligatorischen Reserveeinberufungen zur einmonatigen militärischen Pflichtausbildung teilzunehmen, vermutlich um sie zur Unterzeichnung von Verträgen zu drängen („pressure“) und auch, um möglicherweise die Ausbildungszeit zu verkürzen, die erforderlich ist, um Reservisten vor ihrem Einsatz an der Front im Falle einer künftigen Mobilisierung vorzubereiten. Von Nichtregierungsorganisationen wird darüber berichtet, dass Beamte bei solchen Anlässen „subtil auf die Unterzeichnung eines Vertrags drängten“ bzw. dass es "vereinzelte Fälle" gebe, in denen Einberufungsbeamte bei der Aktualisierung von Kontaktdaten "wirklich Druck" ausübten, einen Vertrag zu unterzeichnen. Nach anderen Aussagen sei in der Region Wologda fast jeder, der nach Erhalt einer Vorladung zu einem militärischen Rekrutierungsbüro ging, gezwungen worden, ein Papier zu unterschreiben, das ihn daran hinderte, die Region zu verlassen. Parallel hierzu hätten lokale Behörden umfangreiche Werbekampagnen initiiert, um für den Vertragsdienst im ganzen Land zu werben, einschließlich direkter telefonischer Ansprache durch militärische Rekrutierungsbüros, Plakate in verschiedenen Städten, Werbung auf Plattformen sozialer Medien, Regierungswebsites sowie Websites und Social-Media-Accounts staatlicher Einrichtungen. Auf diesem Wege versuche das Verteidigungsministerium, bis Dezember 2023 über 500.000 Vertragssoldaten für das Militär zu rekrutieren.

Nichts grundlegend Anderes ergibt sich aus den sonstigen in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen mit Berichtszeitraum für das aktuelle Jahr 2023 (vgl. z.B. BZ, a.a.O., S. 56 f.; BFA, a.a.O., S. 35; United Kingdom Home Office [UKHO], Bericht vom 25. Juli 2023, „Country Policy and Information Note: Russian Federation - Military service [version 1.0]“, Ziff. 15.3., S. 52 f.; Jamestown Foundation, Artikel vom 18. September 2023, „Moscow Tries to Bolster Military Forces While Avoiding Overt Mobilization“, erschienen in: Eurasia Daily Monitor, Volume 20, Issue 143).

Nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck von der Persönlichkeit des Klägers zu 1. ist das Gericht im Übrigen nicht davon überzeugt, dass er einem durch russische Behörden – angesichts des verschärften Personalbedarfs der russischen Streitkräfte – möglicherweise ausgeübten Druck zur Rekrutierung als Vertragssoldat nicht standhalten könnte. Nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung habe er bereits in der Vergangenheit während seiner Tätigkeit bei den Kadyrowzy eine entsprechende Nachfrage der tschetschenischen Behörden, abgelehnt. Seine dahinter liegende Motivation begründet er gegenüber dem Gericht plausibel damit, dass er niemanden töten und als Vater von fünf Kindern auch selbst nicht sterben wolle. Auch halte er den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine für gesetzeswidrig. Er habe seine gesamte Kindheit im Krieg verbracht und wisse daher, was das Wort Krieg bedeute.

(3) Gleichwohl sich die Situation in der Teilrepublik Tschetschenien hinsichtlich Zwangsrekrutierungen nach der einhelligen Erkenntnislage grundlegend anders darstellt als in der restlichen Russischen Föderation (vgl. DIS, a.a.O., S. 32 ff.; zusammenfassend: Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Auskunft aus der SFH-Länderanalyse vom 31. August 2023, Russland/Tschetschenien: Konsequenzen einer Wehrdienstverweigerung, S. 7 ff.) bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass tschetschenische Behörden landesweit formelle Streitkräfte oder informelle Kämpfer rekrutieren und dabei auch auf Personen zugreifen, die sich außerhalb Tschetscheniens aufhalten (vgl. ausführlich unter Auswertung der Erkenntnislage: Urteil des Einzelrichters der Kammer vom 23. Februar 2023 - 6 K 468/18.A -,
S. 9 f. des Entscheidungsabdrucks, n.v.).

Hiermit ist auch deshalb nicht unmittelbar bei der Rückkehr in die Russische Föderation zu rechnen, weil die informationstechnischen Systeme der Grenzbehörden nicht bzw. nicht vollständig mit denen der Wehrbehörden synchronisiert sind (BZ, a.a.O., S. 83). Nichts grundlegend Anderes ist aus einer Äußerung des Chefredakteurs des Online-Nachrichtenportals „Caucasian Knot“ in dem vorzitierten Bericht der Dänischen Einwanderungsbehörde DIS schließen. Danach sei es für Personen, welche durch die tschetschenischen Behörden gesucht („wanted“) werden, nicht sicher, in einen anderen Teil Russlands umzusiedeln (DIS, a.a.O., S. 74). Diese pauschale Feststellung entspricht der allgemeinen Erkenntnislage, die der oben zitierten Grundsatzrechtsprechung der erkennenden Kammer zugrunde liegt. Insoweit wird das genannte Zitat passenderweise auch im Zusammenhang mit der allgemeinen Menschenrechtslage in Tschetschenien wiedergegeben (vgl. EUAA, Anfragebeantwortung vom 17. Februar 2023, COI Query Q37-2023, „Major developments in the Russian Federation in relation to political opposition and military service“, S. 8). Diese Erkenntnis macht - soweit nicht föderale Behörden involviert sind - die prognostische Feststellung eines Interesses tschetschenischer Behörden im Einzelfall nicht entbehrlich, den Schutzsuchenden auch außerhalb der Teilrepublik aufsuchen zu wollen.

Ein gesteigertes Verfolgungsinteresse ist im Hinblick auf den Kläger zu 1. schon deshalb nicht zu erkennen, weil er zu seinem Verfolgungsschicksal in der mündlichen Verhandlung keine Angaben machen wollte und diesbezüglich sonst nichts vorzutragen hatte. So ist nicht anzunehmen, dass er aus dem tschetschenischen Sicherheitsdienst unehrenhaft entlassen worden ist. Im Hinblick auf seine Stellung bei den Kadyrowzy hat er in seiner Anhörung vor dem Bundesamt zwar angegeben, Leiter seiner Einheit gewesen zu sein, dies sei aber „nicht offiziell“ gewesen (vgl. S. 4 der Niederschrift vom 19. September 2018). Aus der ehemaligen Mitgliedschaft allein vermag das Gericht unter Berücksichtigung der Erkenntnislage nicht auf eine begründete Verfolgungsfurcht zu schließen.

cc. Es kann von dem Kläger zu 1. auch vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich außerhalb seiner Heimatregion niederlässt. Dabei ist davon auszugehen, dass seine Rückkehr in die Russische Föderation im Familienverband zusammen mit der Klägerin zu 2. und den gemeinsamen fünf minderjährigen Kindern erfolgt (vgl. zur nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG anzustellenden Rückkehrprognose: BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – BVerwG 1 C 45/18 –, juris).

(1) Die Zumutbarkeit der Niederlassung i.S.v. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist gegeben, wenn bei umfassender wertender Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen persönlichen Verhältnisse am Ort des internen Schutzes nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit andere Gefahren oder Nachteile drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer für den internationalen Schutz relevanten Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen, und auch sonst keine unerträgliche Härte droht. Der Sicherung der wirtschaftlichen Existenz am Ort des internen Schutzes ist dabei eine hervorgehobene Bedeutung beizumessen. Erforderliche, aber auch hinreichende Voraussetzung für die Niederlassung ist, dass das wirtschaftliche Existenzminimum auf einem Niveau gewährleistet ist, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt; darüber hinausgehende Anforderungen sind nicht notwendige Voraussetzung der Zumutbarkeit der Niederlassung (BVerwG, Urteile vom 24. Juni 2021 – BVerwG 1 C 27/20 –, juris Rn. 15, und vom 18. Februar 2021 – BVerwG 1 C 4.20 –, juris Rn. 27, 33 ff.). Dabei muss die Mindestsicherung auf dem durch Art. 3 EMRK gebotenen Niveau auch für den zeitlich erweiterten Prognosespielraum feststehen, der aus dem Begriff der Niederlassung als mehr als kurzfristiger Aufenthaltnahme folgt. Hierfür trägt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Darlegungs- und materielle Beweislast (BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 – BVerwG 1 C 4/20 –, juris Rn. 45 f.).

Eine Verletzung des Art. 3 EMRK aufgrund prekärer Lebensbedingungen ist gegeben, wenn ein Schutzsuchender seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält bzw. nach der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 – BVerwG 1 C 4/20 –, juris Rn. 65, sowie Urteil vom 4. Juli 2019 – BVerwG 1 C 45/18 –, juris Rn. 12 m.w.N., auch aus der Rechtsprechung des EGMR und EuGH).

(2) Ausgehend von diesem strengen Maßstab haben die Kläger eine Verletzung von Art. 3 EMRK wegen der im Falle einer Rückkehr in die Russischen Föderation zu erwartenden Lebensbedingungen zur Überzeugung des Gerichts nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten. Es sind keine stichhaltigen Gründe dafür erkennbar, dass den Klägern die dauerhafte Existenzsicherung durch eigene Anstrengungen nicht in zumutbarer Weise möglich sein sollte. Dies gilt obgleich die wirtschaftliche Entwicklung in der Russischen Föderation durch die verhängten Sanktionen als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine derzeit beeinträchtigt und die wirtschaftliche Situation dadurch schwierig einzuschätzen ist (BFA, a.a.O., S. 98 f.; vgl. Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 26. April 2023 – 6 A 372/22 A –, juris Rn. 4).

Russische Staatsbürger haben landesweit Zugang zum Arbeitsmarkt, wobei der gesetzliche Mindestlohn das per Verordnung festgelegte Existenzminimum nicht unterschreiten darf (BFA, a.a.O., S. 100). Die Kläger zu 1. und 2. befinden sich im arbeitsfähigen Alter. Ungeachtet der Vortätigkeit des Klägers zu 1. im tschetschenischen Sicherheitsdienst verfügt dieser nach eigenen Angaben über eine Berufsausbildung als Kfz-Mechaniker sowie Arbeitserfahrung im Handel über den Lebensmittelladen seiner zwischenzeitlich ebenfalls in die Bundesrepublik Deutschland nachgereisten Mutter, der nunmehr von der Halbschwester des Klägers zu 1. fortgeführt wurde. Gesundheitliche Gründe, die einer Erwerbstätigkeit entgegenstehen würden, haben die Kläger nicht geltend gemacht.

Ergänzend sind die Kläger zur Abwendung einer existenzbedrohenden Notlage auf die Unterstützung durch ihre Familie zu verweisen. Die Kläger zu 1. und 2. haben nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung noch Kontakt zu den in der Heimatregion lebenden jeweiligen Geschwistern. Die Mutter des Klägers zu 1. sei im Dezember 2022 nach Deutschland eingereist und wohne jetzt auch in Deutschland.

Im Übrigen ist notfalls davon auszugehen, dass die Kläger ihr Existenzminimum ergänzend durch staatliche Leistungen absichern können. Die Russische Föderation verfügt über ein reguläres soziales Sicherungssystem, wenngleich alle Sozialleistungen auf einem niedrigen Niveau liegen. Rückkehrende haben ebenso wie alle anderen russischen Staatsbürger Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen (BFA, a.a.O., S. 104 ff., 118). Die Kläger zählen als Familie mit fünf minderjährigen Kindern zum Kreis der schutzbedürftigen Personen, denen unterschiedliche Arten von sozialer Unterstützung gewährt werden können (vgl. hierzu BFA, a.a.O., S. 105 f.). Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung in allen Regionen der Russischen Föderation (vgl. BFA, a.a.O., S. 108 ff.).

Nichts Gegenteiliges ergibt sich schließlich aus der Tatsache, dass die Kläger aus dem Nordkaukasus stammen. Rückkehrer stehen insbesondere im Nordkaukasus vor wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen, ebenso wie weite Teile der russischen Bevölkerung auch. Etwaige für Personen aus dem Kaukasus bestehende bürokratische Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche sowie der - für den Zugang zu sämtlichen staatlichen Sozialleistungen und zum legalen Arbeitsmarkt unabdingbaren - behördlichen Wohnsitzregistrierung sind nach der Erkenntnislage nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unüberwindbar (vgl. BFA, a.a.O., S. 92; Urteil der Kammer vom 17. Juni 2020 – VG 6 K 741/13.A - juris Rn. 26 ff. sowie BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 – BVerwG 1 VR 3/17 –, juris Rn. 117 bzw. Urteil vom 27. März 2018 – BVerwG 1 A 4/17 –, juris Rn. 135 f.).

Soweit dem Kläger zu 1. wegen einer etwaigen Residenzpflicht für Reservisten während der rechtlichen Fortgeltung des Mobilmachungsdekrets vom 21. September 2022 die behördliche Wohnsitzregistrierung außerhalb Tschetscheniens versagt werden sollte und damit der Zugang zum legalen Arbeitsmarkt verwehrt ist, wäre dies vorübergehend hinzunehmen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann das wirtschaftliche Existenzminimum zumutbar auch durch zeitweise Tätigkeiten gesichert werden, die im Bereich der sogenannten "Schatten- oder Nischenwirtschaft" angesiedelt sind (BVerwG, Beschluss vom 19. Januar 2022 – BVerwG 1 B 83/21 –, juris Rn. 25).

2. Die Kläger haben auch keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten.

a. Dies gilt für die im Rahmen der hier vorzunehmenden Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aus den vorstehenden Ausführungen zu den Existenzbedingungen für die Niederlassung am Ort des internen Schutzes (§ 3e AsylG). Dabei beschränkt sich hier der Maßstab der anzustellenden Gefahrenprognose zeitlich darauf, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr in der Lage ist, über einen absehbaren Zeitraum seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist (BVerwG, Urteil vom 21. April 2022 – BVerwG 1 C 10/21 –, juris Ls. 1 und Rn. 24). Insofern kommt hier zusätzlich die Beantragung von Rückkehrhilfen in Betracht, um eine etwaige Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums auszuschließen (vgl. BVerwG, a. a. O., Rn. 25).

b. Für ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG fehlt es an entsprechendem Vortrag unter Vorlage medizinischer Unterlagen, die den gesetzlichen Anforderungen genügen (vgl. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG).

3. Im Übrigen bestehen keine Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der auf § 59 AufenthG i.V.m. § 34 Abs. 1 Satz 1, § 38 Abs. 1 AsylG gründenden Abschiebungsandrohung und die Befristung des in § 11 Abs. 1 AufenthG in der bis zum 20. August 2019 geltenden Fassung noch vorgesehenen gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots für den Fall der Abschiebung, das unionsrechtskonform als konstitutiver Erlass eines Einreiseverbots von bestimmter Dauer auszulegen ist (BVerwG, Urteil vom 7. September 2021 – BVerwG 1 C 47.20 -, juris Rn. 10 m.w.N.). Insbesondere steht die Festsetzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate im Einklang mit § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Nach § 114 Satz 1 VwGO zu berücksichtigende Ermessensfehler sind mangels besonderer Umstände des Einzelfalls nicht ersichtlich (vgl. hierzu BVerwG, a.a.O., juris Rn. 18). Die Kläger haben diesbezüglich weder in ihrer Anhörung vor dem Bundesamt, noch im Klageverfahren durchgreifende schutzwürdige Belange geltend gemacht.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1; Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711, § 709 Satz 2 der Zivilprozessordnung.