Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat | Entscheidungsdatum | 20.12.2023 | |
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Aktenzeichen | OVG 3 S 51/23 | ECLI | ECLI:DE:OVGBEBB:2023:1220.OVG3S51.23.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 36 Abs 4 SchulG BE, § 38 Abs 2 SchulG BE, § 33a Abs 4 SondPädV BE |
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 22. August 2023 mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, die Antragstellerin zu 1. zum Schuljahr 2023/2024 vorläufig in die Jahrgangsstufe 1 der Q...-Schule aufzunehmen
Die Kosten der Beschwerde trägt der Antragsgegner.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts, mit dem der Antrag, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Antragstellerin zu 1. zum Schuljahr 2023/24 vorläufig in die Jahrgangsstufe 1 der Q...-Schule aufzunehmen, abgelehnt worden ist, ist begründet. Das nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO maßgebliche Beschwerdevorbringen führt zur aus dem Tenor ersichtlichen Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Die Beschwerde greift mit Erfolg die tragende Erwägung des Verwaltungsgerichts an, durch die erfolgte, die Aufnahmekapazität ausschöpfende Aufnahme von elf Schülerinnen und Schülern sei der Aufnahmeanspruch der Antragsteller nicht verkürzt worden, da die anderen Kinder - anders als die Antragsteller - im Einschulungsbereich der Q...-Schule wohnten, was nach den allgemeinen Regelungen zur Aufnahme von Kindern an einer Grundschule (§ 55a SchulG i.V.m. § 4 Abs. 4 GsVO), auf die mangels besonderer Regelungen für die Aufnahme von Kindern in eine Schule mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt zurückzugreifen sei, deren Vorrang begründe. Die Beschwerdebegründung macht zutreffend geltend, dass die erstinstanzliche Entscheidung insoweit von unzutreffenden Tatsachen ausgeht, weil die Antragsteller in O... im Einschulungsbereich der Q...-Schule gemeldet sind. Dies wird durch die bereits im Verwaltungsvorgang enthaltene Melderegisterauskunft (Blatt 315) bestätigt.
Die Antragsteller haben nach § 123 Abs. 1 VwGO einen Anspruch der Antragstellerin zu 1. auf vorläufige Aufnahme in die Jahrgangsstufe 1 der Q...-Schule glaubhaft gemacht. Ein Anordnungsgrund liegt vor, weil das Schuljahr 2023/2024 bereits begonnen hat und sich das Begehren der Antragsteller durch Zeitablauf erledigen würde, ohne dass mit einer zeitnahen Entscheidung im Hauptsacheverfahren zu rechnen ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 8. Oktober 2020 - OVG 3 S 92/20 - juris Rn. 6).
Der Anordnungsanspruch der Antragsteller folgt daraus, dass der Antragsgegner zulasten der Antragstellerin zu 1. ein Auswahlverfahren aufgrund einer Übernachfrage ohne hinreichende normative Grundlage im Schulgesetz oder der Verordnung über die sonderpädagogische Förderung (Sonderpädagogikverordnung - SopädVO) durchgeführt hat, obwohl die Antragstellerin zu 1. nach dem Bescheid der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie vom 26. Mai 2023 sonderpädagogischen Förderbedarf im Schwerpunkt geistige Entwicklung hat, die Q...-Schule als Schule mit dem sonderpädagogischem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung für sie eine geeignete Schule darstellt (vgl. § 38 Abs. 2 SchulG), und die Antragsteller zu 2. und 3. ihre Beschulung in dieser Schulform wünschen.
Den Fall einer Übernachfrage bei Anmeldungen an Schulen mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt zum Schulanfang regelt das Schulgesetz trotz der bestehenden Grundrechtsrelevanz dieser Entscheidung weder selbst noch schafft es eine hinreichende Grundlage für eine ausgestaltende Rechtsverordnung. Eine ausdrückliche Normierung eines Auswahlverfahrens in den Vorschriften zur sonderpädagogischen Förderung in §§ 36 ff. SchulG liegt nicht vor. Ein Rückgriff auf die Regelung des Aufnahmeverfahrens für Grundschulen nach § 55a SchulG, wie ihn das Verwaltungsgericht für gangbar hält, scheidet aus, da sich die dortigen Auswahlkriterien für die speziellen Rahmenbedingungen der Schulen mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt als untauglich erweisen. Soweit § 39 Nr. 11 und 12 SchulG jeweils eine Verordnungsermächtigung enthält für Verfahren und Kriterien für die durch die Schulaufsichtsbehörde vorzunehmende Auswahl der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf bei Überschreitung der für den gemeinsamen Unterricht festgelegten Aufnahmekapazität bzw. an einer inklusiven Schwerpunktschule bei Überschreitung der für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf festgelegten Aufnahmekapazität, können diese auf konkrete Fallkonstellationen zugeschnittenen Regelungen für den hier zu beurteilenden Sachverhalt nicht herangezogen werden.
Demzufolge kann hier auch nicht auf die Regelungen in § 33 Abs. 4 und 5 SopädVO zum Verfahren bei Übernachfrage der für die inklusive Beschulung an allgemeinen Schulen bzw. an inklusiven Schwerpunktschulen zur Verfügung stehenden Plätze (§ 20 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 SopädVO) zurückgegriffen werden.
Dieses Regelungsdefizit ist mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen unvereinbar.
Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot verpflichten den Gesetzgeber auch im Schulwesen, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen und nicht der Schulverwaltung zu überlassen. Wann es danach einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf, lässt sich nur im Blick auf den jeweiligen Sachbereich und die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes beurteilen (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Juli 1998 - 1 BvR 1640/97 - juris Rn. 132 ff.; Urteil vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 - juris Rn. 67 ff.; BVerwG, Urteil vom 13. Januar 1982 - 7 C 95.80 - juris Rn. 13 ff.). Ob und inwieweit eine Regelung des Gesetzgebers erforderlich ist, richtet sich allgemein nach der Intensität, mit der die Grundrechte des Regelungsadressaten durch die schulische Maßnahme betroffen sind. Insbesondere müssen die organisatorische Gliederung der Schule, die Festlegung der zentralen Bildungs- und Erziehungsziele sowie die Bildungsgänge und die den Lebens- und Bildungsweg des Kindes prägenden Schulentscheidungen durch den parlamentarischen Gesetzgeber vorgenommen werden (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. November 2014 - OVG 3 B 8.14 - juris Rn. 32; OVG Hamburg, Beschluss vom 27. Juli 2005 - 1 Bs 205/05 - juris Rn. 15).
Durch die ablehnende Entscheidung über die Aufnahme eines Kindes mit sonderpädagogischem Förderbedarf an der gewünschten Schule wird das in Art. 20 Abs. 1 VvB gewährte Recht jedes Menschen auf Zugang zu den bestehenden öffentlichen Bildungseinrichtungen im Land Berlin nach Maßgabe der den Zugang regelnden Gesetze, die ihrerseits den Anforderungen des Art. 10 Abs. 1 VvB entsprechen müssen, ebenso berührt wie das elterliche Erziehungsrecht aus Art. 12 Abs. 3 VvB (vgl. VerfGH Berlin, Beschluss vom 19. Februar 2007 - 180/06 - juris Rn. 26). Hinzu kommt für den hier betroffenen Personenkreis der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf der grundrechtliche Bezug zum Verbot der Benachteiligung Behinderter gemäß Art. 11 Satz 1 VvB, Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG (zum Begriff der Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 1997 - 1 BvR 9/97 - juris Rn. 65; Urteil vom 22. November 2023 - 1 BvR 2577/15 u.a. - juris Rn. 36). Einfachgesetzlich ist zudem das den Eltern eines Kindes mit sonderpädagogischem Förderbedarf sowohl in § 36 Abs. 4 SchulG als auch in § 38 Abs. 2 SchulG eingeräumte besondere Wahlrecht über den Ort der Beschulung ihres Kindes zu beachten.
Gleichwohl ist auch insoweit trotz Grundrechtsrelevanz nicht stets eine gesetzliche Regelung aller näheren Einzelheiten der Grundrechtsbeschränkung erforderlich. Ein umfassender Parlamentsvorbehalt besteht nicht (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Juli 1998 - 1 BvR 1640/97 - juris Rn. 132). Einer gesetzlichen Regelung der Einzelheiten bedarf es vielmehr je nach dem geregelten Sachbereich dann nicht, wenn der parlamentarische Gesetzgeber die Grundzüge festgelegt hat, lediglich deren nähere Ausgestaltung in Rede steht, und bei der konkreten Ausgestaltung vielgestaltige Lebensverhältnisse in den Blick zu nehmen sind, die der Gesetzgeber nur durch allgemein gehaltene Formulierungen oder Generalklauseln lösen könnte, mit denen eine Entscheidung zur Sache in Wirklichkeit nicht verbunden wäre (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. November 2014 - OVG 3 B 8.14 - juris Rn. 34; OVG Münster, Beschluss vom 2. Oktober 2007 - 19 B 1207/07 - juris Rn. 11).
Bedarf danach auch der Zugang zu den von Betroffenen gewählten Schulen mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt der hinreichenden Ausgestaltung durch den Gesetz- und Verordnungsgeber, an der es hier jedoch vollständig fehlt, erweist sich auch der vom Bezirksamt O...am 9. Mai 2023 festgelegte Aufnahmekriterienkatalog (ungeachtet der Frage, ob er taugliche Auswahlgesichtspunkte enthält) schon aus diesem Grund als rechtswidrig.
Im Übrigen ist - wie die Antragsteller überzeugend ausführen - auch nicht ohne weiteres nachzuvollziehen, wie hier konkret die Auswahl durch das Bezirksamt erfolgt ist, denn die im Verwaltungsvorgang enthaltene Tabelle zum Aufnahmeverfahren spiegelt die Kriterien vom 9. Mai 2023 nicht eindeutig wider und der an die Antragsteller gerichtete Ablehnungsbescheid vom 12. Juni 2023 benennt andere Punkte für die Rangbildung („Härtefälle“).
Wegen der danach rechtswidrigen vorrangigen Vergabe von Schulplätzen nach diesem Auswahlverfahren ist für das vorliegende Eilrechtsschutzbegehren jedenfalls ein Platz als weiterhin unbesetzt zu behandeln und an die Antragstellerin zu 1. zu vergeben. Begehrt ein abgelehnter Bewerber im Wege einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Aufnahme in die Schule und kommt das Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis, dass das Aufnahmeverfahren rechtsfehlerhaft durchgeführt worden ist und ein Schulplatz nicht an eine bestimmte Schülerin oder einen bestimmten Schüler hätte vergeben werden dürfen, wird dieser Platz im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Gebot zur effektiven Rechtsschutzgewährung (Art. 19 Abs. 4 GG) grundsätzlich so behandelt, als sei er noch zu besetzen, soweit die Funktionsfähigkeit des Schulbetriebs gewährleistet werden kann. Durch die vorrangige - fehlerhafte - Aufnahme eines Bewerbers wird das gesetzlich normierte Recht eines abgewiesenen Bewerbers, der die Aufnahmevoraussetzungen grundsätzlich erfüllt, verletzt. Ziel des gerichtlichen Rechtsschutzes ist es in diesem Zusammenhang, die eingetretene Rechtsverletzung - soweit zumutbar zu leisten - auszugleichen und den Rechtsschutzsuchenden so zu stellen, wie er ohne den behördlichen Fehler stünde, wobei hierbei grundsätzlich allein die Bewerber in den Blick nehmen sind, die gegen die ablehnende Aufnahmeentscheidung im Wege gerichtlichen Rechtsschutzes vorgegangen sind. Daher wird die durch fehlerhafte Aufnahme eines Bewerbers bewirkte Rechtsverletzung dadurch kompensiert, dass derjenige Bewerber, der gegen die ablehnende Aufnahmeentscheidung im Wege gerichtlichen Rechtsschutzes vorgegangen ist, nunmehr den fiktiven freien Platz erhält (st. Rspr., vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. September 2020 - OVG 3 S 81/20 - juris Rn. 14 m.w.N.). Es besteht kein Anlass, für Schulen mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt von diesen Grundsätzen abzuweichen. Die Antragstellerin zu 1. kann somit den Zugang zu diesem weiteren Schulplatz begehren.
Da es hier um die Beendigung einer Rechtsverletzung geht, kommt es auf die Einhaltung von Kapazitätsgrenzen nicht an, sondern allein auf die Grenze der Funktionsfähigkeit (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. August 2021 - OVG 3 S 74/21 - juris Rn. 4; Beschluss vom 11. Oktober 2021 - OVG 3 S 118/21 - juris Rn. 2 f.). Dafür, dass diese nicht zuletzt mit Blick auf die Besonderheiten der Schulen mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt im Hinblick auf die räumliche und personelle Ausstattung überschritten wäre, hat der Antragsgegner auch auf den Hinweis des Senats vom 21. November 2023 nichts vorgetragen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).