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Entscheidung 2 U 33/22


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 2. Zivilsenat Entscheidungsdatum 11.12.2023
Aktenzeichen 2 U 33/22 ECLI ECLI:DE:OLGBB:2023:1211.2U33.22.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Tenor

1. Auf die Berufungen der Kläger zu 1 und 3 wird das Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Potsdam vom 12. August 2022, Az. 4 O 298/19, teilweise abgeändert.

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger zu 1 einen Betrag von 1.000 € und an den Kläger zu 3 einen Betrag von 2.500 € zu zahlen, jeweils nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 18. Februar 2020.

Im Umfang der Abänderung des angefochtenen Urteils wird das Versäumnisurteil des Senats vom 19. Juni 2023 aufgehoben. Im Übrigen wird das Versäumnisurteil aufrechterhalten.

2. Die Kläger zu 1 und 3 haben vorab die durch ihre Säumnis im Termin vom 19. Juni 2023 veranlassten Kosten zu tragen.

Die übrigen Kosten des Rechtsstreits verteilen sich wie folgt: Die weiteren Kosten des Berufungsverfahrens tragen hinsichtlich der Gerichtskosten und der außergerichtlichen Kosten des Beklagten dieser zu 6 %, der Kläger zu 1 zu 71 % und der Kläger zu 3 zu 23 %. Die diesbezüglichen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu 3 tragen dieser zu 83 % und der Beklagte zu 17 %. Die erstinstanzlichen Gerichtskosten und außergerichtlichen Kosten des Beklagten tragen dieser zu 3 %, der Kläger zu 1 zu 37 %, die Klägerin zu 2 zu 15 % und der Kläger zu 3 zu 45 %. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt.

3. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Kläger zu 1 und 3 können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Beschluss

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 35.867,38 € festgesetzt.

Gründe

I.

Die Kläger zu 1 und 3 begehren materiellen und immateriellen Schadensersatz wegen der behaupteten Verletzung von Amtspflichten durch das Jugendamt des Beklagten bei Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe.

Der Kläger zu 1, Vater des damals knapp sechsjährigen Klägers zu 3, machte sich Ende Januar 2017 des schweren sexuellen Missbrauchs zu Lasten einer damals sechsjährigen Freundin des Klägers zu 3 schuldig. Der Übergriff erfolgte im Kinderzimmer des Klägers zu 3 in dessen Anwesenheit, allerdings während dieser – nach der Behauptung des Klägers zu 1 – schlief.

Das von der Polizei etwa drei Wochen später informierte Jugendamt des Beklagten suchte umgehend die Familie auf und drängte auf eine räumliche Trennung des Klägers zu 1 von seiner Ehefrau, der vormaligen Klägerin zu 2, und dem Kläger zu 3. Es stellte hierfür die anderenfalls beabsichtigte Inobhutnahme des Kindes in Aussicht. Die Kindesmutter zog mit dem Kläger zu 3 für eine Woche in ein Frauenhaus und sodann zurück in das zwischenzeitlich von dem Kläger zu 1 verlassene Familienheim, wo sie auf Anregung des Jugendamtes die Schlösser austauschte.

Der Kläger zu 1 begab sich in eine anfangs zweiwöchentliche, später wöchentliche ambulante Einzeltherapie für Sexualstraftäter.

Im März 2017 wurde ein sogenanntes Clearing unter Mitwirkung aller drei Familienangehörigen begonnen, ab April 2017 der begleitete Umgang des Klägers zu 1 mit dem Kläger zu 3 ermöglicht. Im Juni 2017 unterzeichneten der Kläger zu 1 und seine Ehefrau sowie das Jugendamt des Beklagten eine so genannte Schutzplan-Vereinbarung. In dieser verpflichteten sich die Eltern des Klägers zu 3, bis zum Ende des Clearing-Auftrages bestimmte „Auflagen“ einzuhalten. Der Kläger zu 1 sollte nicht in dem Einfamilienhaus wohnen und sich auch nicht gleichzeitig mit dem Kläger zu 3 dort aufhalten. Ein- bis zweimal wöchentlich sollte ein begleiteter Umgang zunächst außerhalb der Wohnumgebung erfolgen, der dann gegebenenfalls dorthin verlegt werden sollte. Der Kläger zu 1 sollte seinen Sohn in dessen Kindertagesstätte weder aufsuchen noch ihn dorthin bringen oder von dort abholen.

Der Kläger zu 1 wurde am XX. Juli 2017 wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit der Herstellung kinderpornographischer Schriften sowie des Besitzes kinderpornographischer Schriften zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Der diese Verurteilung berücksichtigende, an den Beklagten gerichtete Clearing-Bericht vom 10. Juli 2017 kommt zu dem Ergebnis, dass eine Gefährdung des Klägers zu 3 weder bestätigt noch ausgeschlossen werden könne. Für einen direkten Übergriff ihm gegenüber durch den Kläger zu 1 gebe es keine Anhaltspunkte. Ohne Einblick in die dem Gericht vorgelegte Sammlung kinderpornographischer Bilder des Klägers zu 1 könne dessen Neigung nicht geschlechtsunabhängig bestätigt, aber auch nicht ausgeschlossen werden. Auch der aus den Bildern deutlich werdende Empathie-Mangel gegenüber den missbrauchten Kindern könne bezogen auf den eigenen Sohn weder bestätigt noch ausgeschlossen werden. Um dessen Schutz zu sichern, solle der Kläger zu 1 sich aber nie mehr allein mit seinem Sohn aufhalten und nie Situationen aufsuchen, in denen sich Kinder leicht bekleidet aufhalten. Der damit verbundenen belastenden Situation für den Kläger zu 3 müsse sich der Kläger zu 1 verantwortlich stellen. Der Kläger zu 1 und seine Ehefrau nahmen zu dem Clearing-Bericht Stellung und kritisierten hierbei zahlreiche ihnen zugeschriebene Aussagen als fehlerhaft. Die Umgangsbegleiterinnen bestätigten im August 2017 die enge und vertrauensvolle Beziehung zwischen dem Kläger zu 1 und dem Kläger zu 3.

Der Kläger zu 1 bemühte sich im September 2017, der Beklagte ab Oktober 2017 erfolglos um ein täterpsychologisches Gutachten betreffend den Kläger zu 1. Am 15. November 2017 teilte der Therapeut des Klägers zu 1 dem Beklagten den aktuellen Stand der seit Ende Juli 2017 laufenden wöchentlichen deliktsfokussierten Gruppentherapie für Sexualtäter mit und resümierte hierbei: „Hinweise auf eine akute Gefährdung haben sich nicht ergeben.“ Der Kläger zu 1 und seine Ehefrau wiesen auf die auch für den Kläger zu 3 sehr belastende Situation eines nur begleiteten Umgangs hin. Die vom Beklagten geforderte Diagnostik vor ihrem Ende sei trotz mehrfacher Bemühungen nicht zustande gekommen. Das Schreiben des Therapeuten zeige, dass der begleitete Umgang nicht aufrechterhalten werden könne. Der Beklagte erwiderte unter dem 13. Dezember 2017, der Kläger zu 1 zeige keine Problemakzeptanz, Problemeinsicht und Problemkongruenz. Es sei nunmehr familiengerichtlich zu klären, ob der aus Sicht des Jugendamtes erfolgte „sekundäre Missbrauch“ am Kläger zu 3 richterliche Auflagen oder einen Eingriff in das Sorgerecht begründen. Der begleitete Umgang entspreche derweil dem Kindeswohl. Der Kläger zu 1 und seine Ehefrau widersprachen dem Mitte Januar 2018. Ihr Mitwirken an dem begleiteten Umgang und ihr Einhalten der Auflagen im Schutzplan zeige ihre Problemkongruenz. Es sei erforderlich, dass das Jugendamt das Gericht anrufe. Im März 2018 bestätigte die Umgangsbegleiterin die vertrauensvolle Beziehung zwischen dem Kläger zu 1 und dem Kläger zu 3 und die mit der Trennung verbundene Belastung für den Kläger zu 3.

Anfang Mai 2018 traf eine Mitarbeiterin des Jugendamtes auf einem Supermarktparkplatz auf den Kläger zu 1, seine Ehefrau und den Kläger zu 3, woraufhin das Jugendamt die Familientherapie sofort abbrach. Mit Schreiben vom 16. Mai 2018 wandte sich das Jugendamt an das Familiengericht und bat um „Erörterung der Frage, ob der sekundäre Missbrauch [am Kläger zu 3] richterliche Auflagen oder einen Eingriff in das Sorgerecht begründen.“ Die Verfahrensbeiständin hörte die Familie an, beschrieb die Belastung der Situation für das Kind und empfahl ein sexualpsychologisches Gutachten zur Gefahrenbeurteilung und Prognoseerstellung. Bis dahin solle der Kläger zu 1 nicht im gemeinsamen Haushalt wohnen. Das hierauf eingeholte Gutachten erachtete die Gefährdung des Klägers zu 3 als ausgesprochen gering, weshalb ein Eingriff in das Betreuungsrecht „vorliegend nicht zu diskutieren“ sei. Die Kinderschutzmaßnahmen seien an den kindlichen Bedürfnissen vorbei organisiert. Es sei übersehen worden, dass gerade im Rahmen einer Missbrauchsproblematik die Stärkung der Kompetenzen des Kindes und dessen Bezugsperson, hier in erster Linie der Mutter, im Vordergrund stehen müsse. Die Traumatisierung des Kindes sei durch das Geschehen nach Aufdeckung der Deliktshandlungen, also das Folgegeschehen, begünstigt und nicht primär durch die Deliktshandlungen des Vaters an sich hervorgerufen worden. Das Familiengericht sah nach Erörterung des Gutachtens von Maßnahmen ab.

Das Landgericht hat – nach Rücknahme der Klage durch die Klägerin zu 2 – die Klagen der Kläger zu 1 und 3 abgewiesen. In dem Urteil, auf das im Übrigen gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen wird, heißt es zur Begründung:

Dem Beklagten könne schon keine Amtspflichtverletzung vorgeworfen werden. Der Träger der Kinder- und Jugendfürsorge müsse, wenn ihm gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung bekannt werden, nach § 8a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte das Gefährdungsrisiko einschätzen, das heißt das im konkreten Einzelfall bestehende Ausmaß einer Kindeswohlgefährdung erfassen. Vorliegend sei nicht auszuschließen gewesen, dass der Kläger zu 1 sich bei einem weiteren „Zugriff“ auf seinen Sohn auch an diesem vergriffen hätte; schon vergangene Übergriffe seien nicht auszuschließen gewesen. Mit Blick hierauf seien die ohnehin einvernehmlichen Umgangsbeschränkungen nicht zu beanstanden. Dies habe sich für die gerichtliche Gutachterin zwei Jahre später sicher anders dargestellt als für die Mitarbeiterinnen des Beklagten unmittelbar nach Bekanntwerden der Tat und dem erstinstanzlichen Strafurteil, das der Kläger zu 1 selbst zur Überprüfung durch das Berufungsgericht gestellt hatte.

In jedem Fall aber sei den Klägern zu 1 und 3 der Nichtgebrauch eines Rechtsmittels vorzuhalten, § 839 Abs. 3 BGB. Beide Elternteile hätten selbst beim Familiengericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Gewährung des unbegleiteten Umgangs bzw. auf Aufhebung der im Rahmen des Hilfeplans einvernehmlich festgelegten Maßnahmen beantragen können. Dass ihnen dies intellektuell möglich gewesen wäre, zeige ihre ausführliche und detaillierte Auseinandersetzung mit dem Clearingbericht. Jedenfalls ihr anwaltlich vorgebrachter Widerspruch vom November 2017 zeige, dass sie ab diesem Moment von der Unrechtmäßigkeit der Maßnahmen ausgingen und folglich die Maßnahmen vorwerfbar hinnahmen. Das Jugendamt habe auch nicht besonders die Rechtmäßigkeit seines Vorgehens suggeriert.

Das am 12. August 2022 verkündete Urteil ist den Klägern zu 1 und 3 am 15. August 2022 zugestellt worden. Beide haben am 15. September 2022 Berufung eingelegt und ihre Rechtsmittel am 15. Oktober 2022 begründet.

Die Kläger zu 1 und 3 sind der Auffassung, das Landgericht habe zu Unrecht eine Amtspflichtverletzung verneint. Die von § 8a Abs.1 SGB VIII geforderte Gefährdungsbeurteilung sei nicht erfolgt. Nicht das Fehlen einer Gefährdung sei nachzuweisen, sondern die Gefährdung selbst. Die Spekulationen über „Zugriffe“ des Klägers zu 1 auf den Kläger zu 3 hätten keine tatsächliche Grundlage. Das Nutzen von Rechtsmitteln begründe keine vorwerfbare Kindeswohlgefährdung. Der Beklagte habe ohne jede Tatsachengrundlage eine Einbeziehung des Klägers zu 3 in die Straftat des Klägers zu 1 angenommen. Die Berichte über den begleiteten Umgang hätten deutlich das Fehlen einer Kindeswohlgefährdung gezeigt. Gleichwohl habe der Beklagte an seinen Maßnahmen festgehalten. Der Kläger zu 3 sei nie untersucht worden. In jedem Fall sei das Kontaktverbot unverhältnismäßig gewesen. Der Beklagte habe auch den Kläger zu 1 trotz seines mehrfachen Drängens nie untersucht. So sei erst viel zu spät offenbar geworden, dass es tatsächlich nie eine Gefährdung gegeben habe. Das habe die bereits erstinstanzlich dargestellten psychischen Beeinträchtigungen bei beiden Klägern hervorgerufen.

Der Nichtgebrauch eines Rechtsmittels könne ihnen nicht vorgehalten werden. Wenn der Beklagte sich darauf berufen könne, aus seiner ex-ante-Sicht eine nachvollziehbare Entscheidung getroffen zu haben, könnten die Anforderungen an sie als Laien nicht höher sein. Der Kläger zu 1 habe zudem alle ihm offensichtlichen nicht-förmlichen Rechtsmittel in Form von Anträgen an das Jugendamt genutzt. Sie träfe jedenfalls kein Verschulden. Ohne die immer wieder verweigerte Begutachtung des Klägers zu 1 sei die Annahme einer Gefährdung durch das Jugendamt jedenfalls nicht offenbar fehlerhaft gewesen. Sie hätten sich auf die Rechtmäßigkeit des Vorgehens der Fachbehörde verlassen. Der Nichtgebrauch sei auch nicht schadenskausal gewesen.

Der Senat hat die Berufungen durch Versäumnisurteil vom 19. Juni 2023 zurückgewiesen. Das Versäumnisurteil ist dem Klägervertreter am 30. Juni 2023 zugestellt worden. Der Einspruch der Kläger zu 1 und 3 ist am 10. Juli 2023 beim Oberlandesgericht eingegangen.

Die Kläger beantragen

Aufhebung des Versäumnisurteils vom 19.06.2023 und Aufhebung des Urteils des LG Potsdam 12.08.2022, Az. 4 O 298/19, und Verurteilung der Beklagten wie folgt:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger zu 1 und Berufungskläger zu 1 Schmerzensgeld in Höhe von 15.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger zu 1 und Berufungskläger zu 1 gebuchte und bezahlte Familienreisen, die nicht angetreten werden konnten, in Höhe von 2.881,14 €, in Höhe von 1.874,81 € und in Höhe von 1.111,43 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger zu 3 und Berufungskläger zu 2 Schmerzensgeld in Höhe von 15.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

Der Beklagte beantragt

die Verwerfung des Einspruchs,

hilfsweise: das Versäumnisurteil vom 19. Juni 2023 aufrecht zu erhalten.

Er verteidigt das landgerichtliche Urteil. Das Jugendamt habe die Umgangsregelung stets nur angeregt und stets das Einvernehmen aller Beteiligter erwirkt. Es habe sich auch schon frühzeitig um eine Begutachtung des Klägers bemüht, das allerdings erfolglos. Der Kläger zu 1 hätte sich eigeninitiativ begutachten lassen können. Dabei stehe nicht fest, dass ein anderer, früher angerufener Sachverständiger mit seiner Begutachtung zu identischen Ergebnissen wie die vom Familiengericht beauftragte Sachverständige gekommen wäre. Eine Begutachtung des Klägers zu 3 sei nicht geboten gewesen. Dem Jugendamt stehe ein nicht vollständig justiziabler Beurteilungsspielraum zu, innerhalb dessen nicht von einer Amtspflichtverletzung gesprochen werden könne. Die Entscheidung des Jugendamtes sei aber nicht unvertretbar gewesen; der Clearing-Bericht und die Verfahrensbeiständin sowie die Anwältin des Klägers zu 1 hätten sich ebenso für den (nur) begleiteten Umgang ausgesprochen. Der Beklagte habe, wie mit dem Kläger zu 1 im August 2017 vereinbart, sich ab Mitte Oktober 2017 wiederholt um eine sexualpsychologische Stellungnahme bemüht, letztlich aber erfolglos. Mit Blick hierauf wie auf die prinzipielle Mitwirkung der Kindeseltern könne auch nicht davon gesprochen werden, dass das Familiengericht früher mit einer Gefährdungsmitteilung hätte angerufen werden müssen. Einem Anspruch stehe auch das Unterlassen geeigneter Rechtsbehelfe durch die anwaltlich beratenen Kläger entgegen. Schließlich sei zweifelhaft, ob der Kläger vom Schutzbereich der angeblich verletzten Norm erfasst sei, die schließlich den Schutz des Kindeswohls bezwecke und nicht die der Interessen der Erziehungsberechtigten.

Mit nicht nachgelassenem Schriftsatz vom 19. September 2023 möchten die Kläger zu 1 und 3 den Klageantrag zu 3. dahingehend berichtigen, dass er lauten solle:

„3. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger zu 3 und Berufungskläger zu 2 ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, den Betrag von 50.000,00 EUR aber nicht unterschreiten sollte, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.“

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze, Protokolle und sonstigen Unterlagen Bezug genommen.

II.

1.

Die zulässigen, insbesondere rechtzeitigen (§ 339 Abs. 1 ZPO) Einsprüche der Kläger zu 1 und 3 (im Folgenden nur noch: Kläger) versetzen den Prozess in die Lage zurück, in der er sich vor Eintritt ihrer Säumnis befand, § 342 ZPO.

Die Berufungen sind zulässig, insbesondere formgerecht und rechtzeitig im Sinne der §§ 517 und 520 ZPO eingelegt und begründet worden. In der Sache haben die Rechtsmittel jedoch nur geringen Erfolg.

2.

Der Senat hat (auch) hinsichtlich des Klageantrags zu 3. lediglich über einen bezifferten Schmerzensgeldanspruch in Höhe von 15.000 Euro nebst Zinsen zu entscheiden. Dieser klar formulierte, bereits in der Berufungsbegründungsschrift vom 14. Oktober 2022 angekündigte und in der Einspruchsschrift vom 8. Juli 2023 wortgleich wiederholte Antrag ist in der mündlichen Verhandlung am 18. September 2023 gestellt worden. Selbst nach der ausführlichen Erörterung der Sach- und Rechtslage, die auch die Höhe der zweitinstanzlich geltend gemachten Ansprüche zum Gegenstand hatte, hat der Kläger zu 3 keinen Anlass zur „Berichtigung“ oder Erweiterung seines Schmerzensgeldantrages gesehen. Ein Fall der berichtigungsfähigen offenbaren Unrichtigkeit seines in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrages ist unter diesen Umständen nicht anzunehmen. Die erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung mit dem nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 19. September 2023 vorgenommene Klageerweiterung ist unzulässig und unwirksam (vgl. § 261 Abs. 2, § 297 ZPO). Sie gibt auch keinen Anlass zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung (§ 156 ZPO).

3.

Den Klägern steht dem Grunde nach ein Amtshaftungsanspruch gegen den Beklagten zu.

Rechtsgrundlage des Amtshaftungsanspruchs ist § 839 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG. Voraussetzung der auf die Körperschaft übergeleiteten Haftung ist, dass ein Beamter im haftungsrechtlichen Sinne in Ausübung eines ihm von der Beklagten anvertrauten Amtes schuldhaft eine den Klägern gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt und so den Klägern einen Schaden verursacht hat, für den – bei nur fahrlässigem Handeln des Beamten – die Kläger nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermögen.

a)

Es ist die grundlegende Amtspflicht des Beamten, die Aufgaben und Befugnisse des Staates oder der Körperschaft, für die er tätig wird, im Einklang mit dem objektiven Recht wahrzunehmen und auszuüben. Die öffentlich-rechtlichen Rechtspflichten, die die öffentliche Hand dem Bürger gegenüber hat, bestimmen zugleich die persönlichen Amtspflichten, die dem Amtswalter obliegen. Er ist deswegen verpflichtet, sich an Recht und Gesetz zu halten, also die Verfassung, die förmlichen Gesetze, Rechtsverordnungen, Satzungen und sonstige Rechtsvorschriften, auch des Rechts der Europäischen Union, zu beachten. Da die Gerichte letztlich über die Auslegung und Anwendung von Normen zu befinden haben, hat der Beamte auch die Pflicht, die für seine Amtsausübung einschlägige Rechtsprechung zu berücksichtigen (Thomas, in: BeckOnline-Großkommentar mit Stand 1. August 2023, § 839 BGB Rdnr. 146; Papier/Shirvani, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 839 BGB Rdnr. 246). Hierzu gehört die Pflicht, vor einer hoheitlichen Maßnahme, die geeignet ist, einen anderen in seinen Rechten zu beeinträchtigen, den Sachverhalt im Rahmen des Zumutbaren so umfassend zu erforschen, dass die Beurteilungs- und Entscheidungsgrundlage nicht in wesentlichen Punkten zum Nachteil des Betroffenen unvollständig bleibt. Das ist namentlich bei Sachverhalten notwendig, die wegen ihrer Komplexität nicht offen zutage liegen und aus denen Konsequenzen gezogen werden sollen, die mit erheblichen Beeinträchtigungen oder Risiken für den Betroffenen verbunden sein können (Thomas ebd. Rdnr. 147 f). Vorschriften über die Zuständigkeit, die Form und das Verfahren sind einzuhalten (Papier/Shirvani ebd. Rdnr. 260; Thomas ebd. Rdnr. 151 f). Darüber hinaus fordert der aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass bei hoheitlichen Eingriffen in die Rechtssphäre eines Betroffenen Art und Schwere des Eingriffs in einem angemessenen Verhältnis zu dem erstrebten Zweck stehen; es dürfen daher wegen des Fehlverhaltens einer Person keine behördlichen Maßnahmen ergriffen werden, die in einem Missverhältnis zu diesem Fehlverhalten stehen. Ferner müssen sie erforderlich, das heißt unumgänglich notwendig sein, um das erstrebte Ziel zu erreichen. Daraus folgt, dass unter mehreren gleich wirksamen Mitteln demjenigen der Vorzug zu geben ist, das die Rechtsstellung des Betroffenen am wenigsten belastet. Die Behörden haben daher nicht nur einen Eingriff selbst von vornherein in seinem Umfang und gegebenenfalls in seiner Dauer auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken, sondern ihnen obliegt es darüber hinaus, im Rahmen des Zumutbaren das Ihrige zu tun, um dem einzelnen Betroffenen die Wahrung seiner Rechte zu ermöglichen oder zu erleichtern und dazu beizutragen, die nachteiligen Folgen des Eingriffs für den Betroffenen herabzumindern (Thomas ebd. Rdnr. 156).

b)

Im Kinder- und Jugendhilferecht konkretisiert und realisiert sich der grundgesetzliche Schutzauftrag des Staates. Nach Art. 6 Abs. 2 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder in erster Linie das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht indes nach Satz 2 die staatliche Gemeinschaft. Eltern können daher grundsätzlich frei von staatlichem Einfluss nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen. Maßgebliche Richtschnur für ihr Handeln muss aber das Wohl des Kindes sein, denn das Elternrecht ist ein Recht im Interesse des Kindes. Es ist ihnen um des Kindes willen verbürgt. Maßgebliche Richtschnur für die Ausübung des Elternrechts ist das Kindeswohl. Zu dessen Schutz hat der Staat über die Ausübung der Elternverantwortung zu wachen. Er ist verpflichtet einzuschreiten, wenn Eltern dieser Verantwortung nicht gerecht werden (BVerfG, Beschluss vom 21. Juli 2022 – 1 BvR 469/20 –, NJW 2022, 2904 Rdnr. 135; Urteil vom 1. April 2008 – 1 BvR 1620/04 –, BVerfGE 121, 69 = NJW 2008, 1287 Rdnr. 70). Auch für die so gebotenen staatlichen Eingriffe in die Eltern-Kind-Beziehung gilt allerdings der Grundsatz der Subsidiarität; sie müssen ausdrücklich gerechtfertigt, also begründet werden (Kößler, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Auflage mit Stand 1. August 2022, § 8a SGB VIII Rdnr. 19). Nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit verpflichtet und berechtigt den Staat, die Eltern von der Pflege und Erziehung auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen; vielmehr ist stets dem grundsätzlichen Vorrang der Eltern vor dem Staat Rechnung zu tragen. Die Eltern haben ein Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), die Kinder haben ein gegen den Staat gerichtetes Recht auf elterliche Pflege und Erziehung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), beide sind gemäß Art. 6 Abs. 3 GG besonders dagegen geschützt, voneinander getrennt zu werden. Der Staat darf und muss daher zunächst versuchen, durch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der natürlichen Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen. Darauf ist er jedoch nicht beschränkt, sondern er darf und muss, wenn solche Maßnahmen nicht genügen, den Eltern die Erziehungs- und Pflegerechte vorübergehend, gegebenenfalls sogar dauernd entziehen (BVerfG, Beschluss vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 –, NJW 2017, 1295 = FamRZ 2017, 524 Rdnr. 43).

Zur Umsetzung dieser Vorgaben verpflichtet § 8a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII das Jugendamt, gewichtigen Anhaltspunkten für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen nachzugehen und das Gefährdungsrisiko einzuschätzen. Zur Bestimmung des für den Kinderschutz Erforderlichen bei gleichzeitiger Wahrung der Eltern-Kind-Beziehung hat es sich zunächst weitere Informationen zur Sachverhaltsklärung zu verschaffen. Im (unmittelbaren) Anschluss daran muss es eine Abklärung des Gefährdungsrisikos vornehmen und die geeigneten und erforderlichen Maßnahmen zum Schutz des Kindes bzw. des Jugendlichen bestimmen. Das ist „Dreh- und Angelpunkt im gesetzlichen Ablaufprogramm der Schutzverwirklichung“. Von ihrem Ergebnis ist jedes weitere Vorgehen zur Umsetzung des Schutzauftrags abhängig. Die Einschätzung des Gefährdungsrisikos stellt die Weichen für die gebotene Kinder- und Jugendhilfearbeit und führt letztlich zu der (Verwaltungs-)Entscheidung, ob zur Schutzverwirklichung interventionsvorbeugende Prävention angezeigt und zur Gefahrenabwehr ausreichend ist oder ob Maßnahmen im Interventionsbereich des staatlichen Wächteramtes zu ergreifen sind. In diesem Sinne versteht sich die Einschätzung des Gefährdungsrisikos als ein komplexer Erkenntnis- und Entscheidungsprozess, der dazu dient, im Wege einer fachlichen Beurteilung und Bewertung von zuvor ermittelten gefährdungsrelevanten Tatsachen handlungsleitende und -bestimmende Risikofaktoren zu erarbeiten, um sodann mittels einer darauf bezogenen Gesamtwürdigung aller Risikofaktoren die im Einzelfall bestehende Gefährdung des Kindeswohls festzustellen. Die Einschätzung des Gefährdungsrisikos hat dementsprechend eine für die Durchführung des Schutzauftrags maßgebliche verfahrensgestaltende und entscheidungssteuernde Funktion (Peter Bringewat, in: Kunkel/Kepert/Pattar, Lehr- und Praxiskommentar SGB VIII, 8. Auflage 2022, § 8a SGB VIII Rdnr. 5 und 17).

Voraussetzung für die Aktivierung des behördlichen Schutzauftrags ist das Bekanntwerden „gewichtiger Anhaltspunkte“ für eine Kindeswohlgefährdung, das heißt für eine gegenwärtig in einem solchen Maß vorhandene Gefahr, dass sich bei einer weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (BVerfG, Beschluss vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 –, NJW 2017, 1295 = FamRZ 2017, 524 Rdnr. 44; BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2004 – XII ZB 166/03 –, NJW 2005, 672 Rdnr. 11; Beschluss vom 14. Juli 1956 – IV ZB 32/56 –, NJW 1956, 1434 = FamRZ 1956, 350; OLG Frankfurt, Beschluss vom 31. Januar 2022 – 4 UF 201/21 –, Rdnr. 12). Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet und sind die Personensorgeberechtigten unwillig oder – auch mit öffentlichen Hilfen – nicht in der Lage, dieser Gefährdung entgegenzusteuern und sie letztlich abzuwenden, bedarf es des korrigierenden Eingriffs durch das Familiengericht, §§ 1666 f BGB. Der Schutzauftrag des Jugendamts wird demgegenüber bereits durch „gewichtige Anhaltspunkte“ für eine Kindeswohlgefährdung ausgelöst. Das sind konkrete Hinweise auf ihr Vorliegen oder Informationen, die auf eine solche Gefährdung hindeuten. Eine rein abstrakte Gefahr ist ebenso wenig ausreichend (Kößler ebd. Rdnr. 24) wie spekulativ geäußerte Vermutungen und intuitive oder in anderer Weise emotional motivierte Werturteile zum Beispiel über Kindesvernachlässigung, -verwahrlosung oder elterliche Erziehungsmodalitäten (Bringewat ebd. Rdnr. 39). Anders ist dies hinsichtlich der mit ihnen übermittelten Tatsachenkerne, die Anlass für Ermittlungen bieten können (Bringewat ebd.; Iven Köhler, in: Heilmann, Praxiskommentar Kindschaftsrecht, 2. Auflage 2020, § 8a SGB VIII Rdnr. 3). Anhaltspunkte sind auch dann gewichtig, wenn eine Kindeswohlgefährdung nach fachlicher Beurteilung zwar nicht nahe liegt, im Sinne einer begründeten Wahrscheinlichkeit aber – wenn auch entfernt – möglich erscheint (Bringewat ebd. Rdnr. 40).

Hält das Jugendamt das Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich, so hat es nach § 8a Abs. 2 Satz 1 SGB VIII das Gericht anzurufen; dies gilt auch, wenn die Erziehungsberechtigten nicht bereit oder in der Lage sind, bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos mitzuwirken. Die Einschaltung ist erforderlich, wenn sie notwendig und geeignet ist, die Kindeswohlgefährdung abzuwenden. Ein Aspekt hierbei ist, dass die eigenen Erkenntnis- und Ermittlungsmöglichkeiten des Jugendamtes zur Feststellung von Risikotatsachen im Rahmen der Einschätzung des Gefährdungsrisikos begrenzt sind und die des Familiengerichts weiter reichen. Die Anrufung des Gerichts ist daher nicht erst dann eine geeignete Maßnahme zur Abwendung der Kindeswohlgefahr, wenn nach eigenem Erkenntnisstand des Jugendamtes die Gefährdungslage des Kindes bzw. Jugendlichen den Grenzbereich der Eingriffsschwelle des Staates sicher erreicht hat. Vielmehr ist die Anrufung des Familiengerichts schon dann angezeigt, wenn nach Einschätzung des Gefährdungsrisikos ein Vorgehen nach Absatz 1 die Kindeswohlgefährdung voraussichtlich nicht beseitigt (Bringewat ebd. Rdnr. 76). Ein Ermessensspielraum in dem Sinne einer Möglichkeit, nach sachlich begründeter Zweckmäßigkeit über die Anrufung des Gerichts zu entscheiden, ist dem Jugendamt hierbei nicht eingeräumt (Bringewat ebd. Rndr. 75). Ihm kommt aber ein Beurteilungsspielraum, jedenfalls aber eine dem nahekommende Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Erforderlichkeit zu, die gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar ist (zurückhaltender Bringewat ebd. Rdnr. 78; für einen Beurteilungsspielraum dagegen Kößler, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Auflage mit Stand 1. August 2022, § 8a SGB VIII Rdnr. 46; Wapler, in: Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Auflage 2022, § 8a SGB VIII Rdnr. 37).

c)

Nach diesen Maßstäben handelten die Mitarbeiter des Beklagten amtspflichtwidrig.

aa)

Das gilt freilich nicht für das initiale Tätigwerden des Jugendamtes und seiner Bediensteten bis zur Vorlage des Clearing-Berichtes. Bis zu diesem Zeitpunkt entsprach ihr Verhalten vielmehr dem gesetzlichen Auftrag aus § 8a Abs. 1 SGB VIII.

Dem Jugendamt lagen mit dem polizeilichen Hinweis auf einen sexuellen Missbrauch eines Kindes durch den Kläger zu 1 zum Nachteil einer Freundin des Klägers zu 3 in dessen Beisein hinreichend gewichtige Anhaltspunkte für eine Gefährdung auch des Klägers zu 3 durch den Kläger zu 1 vor. Der sexuelle Missbrauch gehört in besonderem Maße zu den Gesundheitsgefährdungen, die ein staatliches Einschreiten gebieten (Staudinger/Coester (2020) § 1666 BGB Rdnr. 100). Mit der sexuellen Selbstbestimmung sowie der seelischen und körperlichen Unversehrtheit des Kindes sind bei diesem Missbrauch besonders hochrangige Rechtsgüter betroffen. Daher sind auch an die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts keine übersteigerten Anforderungen zu stellen (OVG Münster, Beschluss vom 31. Oktober 2019 – 12 B 448/19 – Rdnr. 21 bei juris). Zu berücksichtigen ist auch, dass sich im Rahmen der ersten Informationsgewinnung nur in Ausnahmefällen ein klares Bild abzeichnet, ob die dem Jugendamt bekannt gewordenen Anhaltspunkte gewichtig sind oder nicht. Es hat deshalb auch solchen Hinweisen nachzugehen, die zwar substanziell wenig abgesichert, aber dennoch so spezifisch sind, dass sie offensichtlich nicht unbegründet zu sein scheinen (Radewagen, ZKJ 2020, 295). Das Jugendamt war daher vorliegend durch § 8a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII gehalten, den Hinweisen nachzugehen und zunächst weitere Informationen einzuholen, um das Gefährdungsrisiko für den Kläger zu 3 abschätzen zu können.

Dem kam das Jugendamt nach. Es hörte die Kindeseltern zu den Vorwürfen an und erörterte sodann mit ihnen die Möglichkeiten, eine Gefährdung des Klägers zu 3 auszuschließen. Hierbei mag sein Verhalten nach dem erstinstanzlichen Vortrag des Beklagten eine gewisse Voreingenommenheit aufgewiesen haben insofern, als sich die Bediensteten für den Fall, dass sich die Anzeige als im Kern zutreffend erweisen sollte, schon vorab auf ein unmittelbares Verlassen des Hauses durch das Kind und die Kindesmutter festgelegt hatten, ohne alternative Lösungen in Betracht zu ziehen oder auch nur zuzulassen. Das aber kann dahinstehen, nachdem sich letztlich alle Beteiligten – vorerst – mit dieser Gestaltung einverstanden erklärten. Diese Gestaltung wurde auch sofort, nachdem sie sich als wenig förderlich für das Kindeswohl erwiesen hatte, durch die Lösung ersetzt, dass der Kläger zu 1 als Kindesvater das Familienheim verließ und den Umgang mit dem Kind zunächst nur begleitet wahrnahm.

Dieses konsensuale Vorgehen entsprach der gesetzlichen Regelung und der üblichen Praxis. Solange und soweit die Eltern gewillt und in der Lage sind, der erkannten Kindeswohlgefährdung selbst zu begegnen, bedarf es keines gerichtlichen Eingriffs in das familiäre Beziehungsgefüge. Zeigen die Erziehungsberechtigten verlässliche Kooperationsbereitschaft und Problemeinsicht (sowie die Fähigkeit, sich entsprechend zu verhalten), bedarf es der Einschaltung des Familiengerichts nicht. In solchen Fällen kann gemeinsam mit den Erziehungsberechtigten vereinbart werden, wie der Schutz des Kindes bzw. Jugendlichen ganz konkret erreicht werden kann. Zur Unterstützung können geeignete Hilfen angeboten werden. Im Rahmen der Hilfeplanung sollte festgehalten werden, dass bei aller geleisteten Unterstützung durch Fachkräfte in erster Linie die Erziehungsberechtigten für die Abwehr der Gefährdungssituation verantwortlich sind. In der Praxis bewährt haben sich spezielle Vereinbarungen zum Schutz des Kindes bzw. Jugendlichen im Hilfeplan, so genannte Schutzpläne (Radewagen, ZKJ 2020, 295/299; ders./Lehmann/Stücker, JAmt 2018, 10).

Der hier zunächst informell geschlossene und am 19. Juni 2017 schriftlich fixierte Schutzplan wurde zwar, wie üblich, durch das Jugendamt vorgegeben und nimmt – jedenfalls in seiner niedergelegten Form – schon durch seine äußere Aufmachung den Anschein des Amtlichen in Anspruch. Er ist unter den Briefbogen des Beklagten gesetzt, den er als Urheber erkennen lässt, enthält eine Verpflichtung allein der Eltern und verwendet zudem den behördlichen, hier allerdings fehlgehenden Begriff der „Auflagen“, die sie zu erfüllen hätten (vgl. Radewagen/Lehmann/Stücker, JAmt 2018, 10). Alles zusammen macht das „strukturelle Machtverhältnis“ und jedenfalls faktische Machtgefälle deutlich, das dem Abschluss dieser Vereinbarung zugrunde liegt und auf einen gewissen Druck des Beklagten auf ihren Abschluss hindeutet (vgl. dies., ebd. S. 11 f). Inhaltlich ist gegen die von dem Kläger zu 1 und seiner Ehefrau ja letztlich auch angenommene Vereinbarung indes nichts zu erinnern. Sie bezweckte die Absicherung der Ende März mit dem so genannten Clearing eingeleiteten Sachverhaltsaufklärung und -einschätzung unter Zuhilfenahme der durch den Beklagten eingeschalteten Familientherapeutinnen. Die Regelung war entsprechend zeitlich beschränkt und auch inhaltlich nicht zu weitgehend. Dass sie für eine gewisse Zeit den ungehinderten Umgang des Klägers zu 1 mit dem Kläger zu 3 ausschloss, war angesichts der Gewichtigkeit einer möglichen Gefährdung ohne greifbare relativierende Punkte für den beabsichtigt beschränkten Zeitraum mit dem Elternrecht auf der einen, vor allem aber mit dem Kindeswohl auf der anderen Seite zu vereinbaren.

bb)

Das Jugendamt kam seiner gesetzlichen Pflicht zur Sachaufklärung jedoch ab Juli 2017 nicht mehr hinreichend nach. Der am 10. Juli 2017 vorgelegte „Clearing-Bericht“ beantwortete die maßgebliche Frage nach dem Gefährdungsrisiko für das Kind allenfalls vordergründig. Tatsächlich bot er Anlass für eine weitergehende Untersuchung mit anderer Methodik, die jedoch pflichtwidrig unterblieb.

Der „Clearing-Bericht“ stellt ausführlich nicht nur die Situation des Kindes in der Familie einschließlich der Familien- und Paardynamik dar, sondern in umfangreichen „Anamnesen“ auch die Biografien der Eltern. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse fließen in die Bewertung ein. Die Eltern machten im Nachhinein aber ausführlich deutlich, dass sie die tatsächliche Grundlage des Berichtes für fehlerhaft hielten, und legten Punkt für Punkt die Aussagen dar, die ihnen in dem Bericht zugeschrieben werden, die sie aber so nicht getroffen hätten. Das Jugendamt setzte sich hiermit nicht auseinander. Es erwog nicht die Relevanz der zahlreichen Widersprüche für das Ergebnis und nahm sie nicht zum Anlass, die Berichterstatterinnen um Stellungnahme und gegebenenfalls Korrektur des Berichtes zu bitten.

Im zentralen Abschnitt 5 zur „Beantwortung der Clearingfragen“ befasst sich der Bericht zudem nur sehr am Rande in nicht ausreichender Weise mit der Gefährdung des Kindeswohls. Er fokussiert fast ausschließlich auf die strafgerichtlich festgestellte Delinquenz des Kindesvaters und wertet sie. Die maßgeblichen Fragen werden hingegen nicht beantwortet. Die aus der festgestellten Tat abzuleitenden Risiken für das Kind und seine künftige Entwicklung bleiben in allen Punkten offen. Die Gefährdung des Klägers zu 3 wurde weder bestätigt noch ausgeschlossen. Für einen direkten Übergriff ihm gegenüber durch den Kläger zu 1 gebe es keine Anhaltspunkte. Eine geschlechtsunabhängige Pädophilie des Klägers zu 1 mit der naheliegenden Gefährdung auch des Sohnes könne weder bestätigt noch ausgeschlossen werden. Gleiches gelte für die Frage, ob sich ein angenommener Empathie-Mangel gegenüber den missbrauchten Kindern auch auf den eigenen Sohn beziehe. Trotz dieser in allen Punkten offenen Bewertung empfiehlt der Bericht einschneidende Maßnahmen, um einer gleichermaßen möglichen wie fernliegenden Gefährdung des Kindes zu begegnen. Dass diese Maßnahmen ihrerseits das Kindeswohl beeinträchtigen, wird zwar thematisiert, aber allein der Verantwortung des Vaters zugeschrieben.

Das Jugendamt führte die ihm obliegende Gefährdungsabschätzung ungeachtet der aufgezeigten, auf der Hand liegenden Lücken im Clearingbericht nicht fort, sondern betrachtete sie offenbar als abgeschlossen. Es ging selbst den in dem Bericht aufgeworfenen Fragen nicht nach. Eine Untersuchung des Kindesvaters wurde zunächst nicht eingeleitet. Es verblieb bei den – bis zur Vorlage des Berichtes zeitlich beschränkten – „Auflagen“ in der Schutzplanvereinbarung, ohne dass weitere die Kindesgefährdung begründende Anhaltspunkte vorlagen. Solche ergaben sich insbesondere nicht aus der zwischenzeitlich erfolgten, im Bericht berücksichtigten strafgerichtlichen Verurteilung des Klägers zu 1. Denn die der Verurteilung zugrundeliegenden Tatsachen waren bereits seit Februar 2017 im Wesentlichen bekannt.

Das Jugendamt nahm auch nicht die Folgen in den Blick, die aus der Umsetzung des Schutzplans für das Kindeswohl des Klägers zu 3 erwuchsen. Es hielt vielmehr selbst nach der Vorlage weiterer Unterlagen und Erkenntnisse an dem sowohl die Eltern wie das Kind deutlich belastenden Schwebezustand fest, der nur in der anfänglichen Situation der Unsicherheit noch hinzunehmen war. Die mit ihm verbundene Ungewissheit über die Gestaltung des Familienlebens war aber immer weniger gerechtfertigt, je deutlicher die hieraus erwachsende Belastung für das Kind wurde und je weniger der bloße Gefahrenverdacht begründet werden konnte. Der ausführliche Bericht der Umgangsbetreuerinnen vom August 2017 zu den positiven Folgen jeder Kontaktaufnahme zwischen dem Kindesvater und seinem Sohn für dessen Entwicklung hätte Anlass für eine Neubewertung des Schutzplans geboten, die indes nicht erfolgte. Noch mehr gilt dies für den im November 2017 durch den Kläger zu 1 vorgelegten Bericht seines Sexualtherapeuten, in dem es unmissverständlich heißt: „Hinweise auf eine akute Gefährdung haben sich nicht ergeben.“

Eine dem Beklagten günstigere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus seinem Vorbringen im nachgelassenen Schriftsatz vom 30. Oktober 2023, wonach er versucht habe, Mitte Oktober 2017 und, nach Erhalt der ersten Absage Anfang November 2017, erneut Anfang Dezember 2017, den Kläger sexualpsychologisch begutachten zu lassen. Diese Begutachtungsversuche betrafen in unzureichender Weise nur einen Teilaspekt. Die zentrale Frage nach der möglichen Kindeswohlgefährdung durch entweder den ungehinderten Kontakt des Vaters zum Kind oder im Gegenteil die Trennung des Vaters vom Kind wurde hingegen wiederum nicht in den Blick genommen. Zudem erfolgte die – nach allem ohnehin völlig unzureichende – Sachaufklärung nur zögerlich und ohne die bei Eingriffen in das Grundrecht der Eltern auf Betreuung und Erziehung des Kindes und in das Recht des Kindes auf Erziehung durch seine Eltern gebotene Beschleunigung. Die hiermit verbundenen Belastungen insbesondere für das Kind wurden augenscheinlich ausgeblendet.

cc)

Diese Verfahrensgestaltung entsprach ersichtlich nicht dem durch § 8a Abs. 1 SGB VIII gesetzlich Vorgegebenen. Sie war insbesondere nicht durch den dem Jugendamt zustehenden Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum gedeckt.

Es ist anerkannt, dass auch im Amtshaftungsprozess nicht jede staatliche Maßnahme der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Prinzipiell hat der mit der Amtshaftungsklage befasste Zivilrichter die als amtspflichtwidrig beanstandete Maßnahme grundsätzlich selbständig und in vollem Umfang nachzuprüfen (BGH, Urteil vom 21. April 1988 – III ZR 255/86 –, NJW 1989, 96). Der Gesetzgeber kann aber innerhalb der von der Verfassung gezogenen Grenzen Durchbrechungen des Grundsatzes vollständiger gerichtlicher Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen vorsehen, etwa durch Begründung eines Einschätzungs- und Beurteilungsspielraums (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 13. August 2013 – 2 BvR 2660/06 –, EuGRZ 2013, 563, Rdnr. 53 f). In diesem Fall ist die fachgerichtliche Prüfung auf die Einhaltung seiner gesetzlichen Grenzen beschränkt. Soweit sie diese nicht verletzt, ist die beanstandete behördliche Maßnahme schon nicht amtspflichtwidrig, mag auch ein anderes pflichtgemäßes Verhalten denkbar sein (Thomas ebd. Rdnr. 161; Papier/Shirvani, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, 99. Ergänzungslieferung mit Stand September 2022, Art. 34 GG Rdnr. 163).

Für die Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit einer Maßnahme der Jugendhilfe ist dem Jugendamt ein solcher Beurteilungsspielraum eröffnet. Die Entscheidung ist das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des Kindes bzw. des Jugendlichen und mehrerer Fachkräfte, welches nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthält, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss. Entsprechend hat sich die (verwaltungs)gerichtliche Überprüfung darauf zu beschränken, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden sind, ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind (BVerwG, Urteil vom 24. Juni 1999 – 5 C 24/98 –, BVerwGE 109, 155, Rdnr. 39).

Das gilt freilich nicht für die Verfahrensvorschrift des § 8a Abs. 1 SGB VIII. Sie gehört vielmehr zu den allgemeingültigen fachlichen Maßstäben, die den Beurteilungsspielraum erst begründen. Sie schafft den Rahmen des behördlichen Tätigwerdens und sichert die Voraussetzungen der fachlichen Beurteilung, ob eine Kindeswohlgefährdung anzunehmen ist. Es handelt sich bei ihr um eine zentrale Verfahrensvorschrift zum „Wie“ des Tätigwerdens, deren Einhaltung der Behörde gerade nicht freigestellt ist. Sie regelt in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise die zur effektiven Erfüllung des staatlichen Schutzauftrags der Kinder- und Jugendhilfe unverzichtbare Informationsbeschaffung und -verarbeitung und kann schon deshalb nicht einer Nachprüfung entzogen sein (vgl. Bringewat ebd. Rdnr. 5; Kößler ebd. Rdnr. 9 f). Der Einschätzungs- oder Beurteilungsspielraum betreffend die Erforderlichkeit bestimmter Maßnahmen, etwa der Anrufung des Familiengerichts nach § 8a Abs. 2 Satz 1 SGB VIII, ist dem nachgelagert und setzt eine ausreichende Sachaufklärung und fachliche Beurteilung aller maßgeblichen Umstände voraus.

d)

Die Bediensteten des Beklagten handelten wenigstens fahrlässig.

Eine Amtspflichtverletzung ist fahrlässig begangen, wenn der Amtsträger die im betreffenden amtlichen Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Der Sorgfaltsmaßstab ist also ein objektiv-abstrakter, kein individuell-subjektiver. Er ist auf die allgemeinen Verkehrsbedürfnisse ausgerichtet und orientiert sich daher an den Anforderungen, die von einem pflichtgetreuen Durchschnittsbeamten erwartet werden können. Es kommt auf die Kenntnisse und Einsichten an, die für die Führung des übernommenen Amtes im Durchschnitt erforderlich sind. Eine objektiv unrichtige Gesetzesauslegung oder Rechtsanwendung ist unter Beachtung dieses objektivierten Fahrlässigkeitsmaßstabs dann schuldhaft, wenn sie gegen den klaren, bestimmten und eindeutigen Wortlaut der Norm verstößt oder wenn die bei ihr aufgetretenen Zweifelsfragen durch die höchstrichterliche Rechtsprechung geklärt sind. Der Amtsträger hat sich sorgsam über die Rechtslage zu unterrichten, er muss die für sein Amt erforderlichen Rechts- und Verwaltungskenntnisse besitzen oder sich verschaffen. Auf der anderen Seite handelt der Amtsträger nicht fahrlässig, wenn seine objektiv unrichtige Normauslegung eine Vorschrift betrifft, deren Inhalt zweifelhaft sein kann und durch eine höchstrichterliche Rechtsprechung noch nicht klargestellt ist. Ist der Beamte nach sorgfältiger Prüfung bei der Anwendung eines neuen Gesetzes zu einer rechtlich vertretbaren Auslegung gelangt, so kann ihm aus der Tatsache, dass seine Rechtsauffassung später von den Gerichten nicht gebilligt wird, kein Schuldvorwurf gemacht werden. Der Schuldvorwurf entfällt aber nur, wenn die letztlich als unzutreffend erkannte Rechtsmeinung nicht nur vertretbar, sondern auch aufgrund sorgfältiger rechtlicher und tatsächlicher Prüfung gewonnen worden ist (BGH, Urteile vom 14. Juni 2018 – III ZR 54/17, NJW 2018, 2723 Rdnr.58; vom 10. Februar 2011 − III ZR 37/10, NJW 2011, 2586; vom 11. Dezember 1997 – III ZR 52/97, NJW 1998, 1307/1308; Papier/Shirvani, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 839 BGB Rdnr. 346 f).

Nach diesen Maßstäben handelten die Bediensteten des Beklagten fahrlässig. Die sie treffenden Amtspflichten zur Sachverhaltsaufklärung mussten ihnen bekannt sein. Dass der „Clearing-Bericht“ die maßgebliche Frage nach der möglichen Gefährdung des Kindes nicht beantwortete, sondern eindeutig offen ließ, war auch ohne die für eine tiefere psychologische Beurteilung notwendige Fachkenntnis erkennbar. Es kann daher dahinstehen, welche besonderen Fachkenntnisse gerade § 8a Abs. 1 SGB VIII an die mit der Gefährdungsbeurteilung befassten Bediensteten von Jugendämtern stellt (vgl. Bringewat ebd. Rdnr. 58; Jox, in: BeckOnline-Großkommentar zum SGB mit Stand 1. Oktober 2022, § 8a SGB VIII Rdnr. 51).

e)

aa)

Die Schädigung des Klägers zu 1 und des Klägers zu 3 liegt primär in der durch den Beklagten zu vertretenden Verzögerung der letztlich durch das Familiengericht veranlassten Sachaufklärung um gut ein dreiviertel Jahr. Das Jugendamt hätte bereits im Juli 2017 auf Grund des „Clearing-Berichtes“ ein Gutachten zu der aus der Delinquenz des Klägers zu 1 abzuleitenden Gefährdung für seinen Sohn, den Kläger zu 3, beauftragen müssen, das auch die Folgen der Trennung des Klägers zu 3 von seinem Vater für sein Kindeswohl betrachtet. Notfalls hätte es hierfür wegen der erwähnten besseren gerichtlichen Erkenntnismöglichkeiten das Familiengericht einschalten müssen. Das hätte den die Beteiligten erkennbar und durch die Umgangsbegleiterinnen sowie die Verfahrensbeiständin bestätigten belastenden Zeitraum der Trennung und der Zukunftsungewissheit deutlich verkürzt. Soweit der Beklagte davon ausgeht, eine frühere Begutachtung des Klägers hätte nicht sicher zum selben Ergebnis geführt, fehlt eine fachlich fundierte Auseinandersetzung mit dem von ihm nunmehr als ungenügend erachteten Gutachten, gegen dessen Verwendung im familiengerichtlichen Verfahren er keine Bedenken hatte.

Es ist höchstrichterlich anerkannt, dass in Verfahren über das Umgangs- und Sorgerecht zeitnahe Entscheidungen von besonderer Bedeutung sind. Es geht für alle Verfahrensbeteiligten naturgemäß um besonders bedeutende, die weitere Zukunft maßgeblich beeinflussende Entscheidungen, die in der Regel auch unmittelbaren Einfluss auf die persönlichen Beziehungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern nehmen. In Verfahren, die das Verhältnis einer Person zu ihrem Kind betreffen, obliegt den staatlichen Gerichten – und Behörden – daher eine besondere Förderungspflicht, weil immer die Gefahr besteht, dass allein der fortschreitende Zeitablauf irreparable Folgen für das Verhältnis zwischen dem Kind und den Eltern haben und zu einer faktischen Entscheidung der Sache führen kann. Insbesondere bei kleinen Kindern ist die Gefahr irreparabler Folgen durch fortschreitenden Zeitablauf besonders groß. Denn kleine Kinder empfinden bezogen auf objektive Zeitspannen den Verlust der Bezugsperson – anders als ältere Kinder oder gar Erwachsene – schneller als endgültig. In diesen Fällen schreitet die Gefahr der Entfremdung, die für das Verfahren Fakten schaffen kann, mit jeder Verfahrensverzögerung fort, so dass die Möglichkeiten einer Zusammenführung schwinden und letztendlich zunichte gemacht werden können, wenn Eltern und Kind sich nicht sehen dürfen. Bei sehr kleinen Kindern besteht deshalb eine Verpflichtung zur „größtmöglichen Beschleunigung“ des Verfahrens. Eingriffe in das Grundrecht der Eltern und des Kindes auf Betreuung nach Art. 6 Abs. 2 GG durch eine ungenügende Förderung des Verfahrens berühren zugleich ihr Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK. Sie sind grundsätzlich in ihrem Gewicht mit einer schwerwiegenden Persönlichkeitsrechtsverletzung vergleichbar, wenn die Verzögerung zur Folge hat, dass das den Eltern ebenso wie dem Kind zustehende Umgangsrecht durch Zeitablauf faktisch entwertet oder doch sehr erheblich eingeschränkt wird. Das kann eine Geldentschädigung für erlittene immaterielle Nachteile rechtfertigen (BGH, Urteil vom 6. Mai 2021 – III ZR 72/20 –, BGHZ 230, 14 = NJW 2021, 3194, Rdnr. 23 ff). Für behördliche Eingriffe in diese Grundrechte kann im Ergebnis wegen der identischen Schutzrichtung nichts anderes gelten.

bb)

Nicht die gesamte Verfahrensverzögerung kann aber allein dem Beklagten angelastet werden. Nach § 839 Abs. 3 BGB ist für diejenigen Monate ein Ersatzanspruch der Kläger ausgeschlossen, in denen sie es vorwerfbar unterlassen haben, rechtzeitig Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen. Unter den primär zu ergreifenden Rechtsmitteln in diesem Sinne sind alle Rechtsbehelfe zu verstehen, die sich gegen die eine Amtspflichtverletzung darstellende Handlung oder Unterlassung richten und sowohl deren Beseitigung oder Berichtigung als auch die Abwendung des Schadens zum Ziel haben und herbeizuführen geeignet sind. Dazu zählen nicht nur die gesetzlich vorgesehenen ordentlichen Verfahrensmittel wie zum Beispiel das Widerspruchsverfahren, die verwaltungsgerichtliche Klage und der verwaltungsgerichtliche Eilrechtsschutz. Hierzu sind nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung vielmehr auch formlose Rechtsbehelfe wie Gegenvorstellungen, Erinnerungen an die Erledigung eines Antrages, Dienstaufsichtsbeschwerden und Fachaufsichtsbeschwerden zu rechnen. Die Möglichkeit der Einlegung eines solchen Rechtsmittels führt zum Anspruchsausschluss nach § 839 Abs. 3 BGB, wenn dieses überhaupt und innerhalb einer für den Betroffenen zumutbaren Zeit zum Erfolg geführt hätte. Dabei ist für die Erfolgsaussicht grundsätzlich maßgebend, welche Entscheidung der zuständigen Stelle sachlich richtig gewesen wäre. Darauf, welche Entscheidung diese Stelle (mutmaßlich) tatsächlich getroffen hätte, kommt es im Falle formloser Rechtsbehelfe nur an, wenn die Feststellung möglich ist, dass die zuständige Behörde durch den Rechtsbehelf nicht veranlasst worden wäre, das Fehlverhalten der ihrer Aufsicht unterstehenden Behörde zuzugeben und zu korrigieren.

Ob dem Geschädigten das Nichtergreifen im Sinne eines „Verschuldens gegen sich selbst“ vorzuwerfen ist, ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles nach den Verhältnissen des Verkehrskreises zu beurteilen, dem der Verletzte angehört. Es ist darauf abzustellen, welches Maß an Umsicht und Sorgfalt von Angehörigen dieses Kreises verlangt werden muss. Auf Belehrungen und Erklärungen eines Beamten ihm gegenüber darf der Staatsbürger grundsätzlich vertrauen, und es kann ihm in der Regel nicht zum Verschulden gereichen, wenn er nicht klüger ist als der Beamte. Beim Vorwurf des fahrlässigen Verhaltens spielen auch Bildungsstand und Geschäftsgewandtheit des Betroffenen eine Rolle (BGH, Urteil vom 15. November 1990 – III ZR 302/89 –, BGHZ 113, 17 = NJW 1991, 1168 Rdnr. 22; Thomas ebd. Rdnr. 699).

Die schuldhafte Nichteinlegung eines Rechtsbehelfs lässt einen Schadensersatzanspruch nach § 839 BGB allerdings nur insoweit entfallen, als der Schaden durch die Einlegung des Rechtsbehelfs hätte vermieden werden können. Hätte der Rechtsbehelf den Schaden nur teilweise abwenden können, dann entfällt auch der Amtshaftungsanspruch nur zu einem entsprechenden Teil. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Schaden bereits während des Laufes des Rechtsmittelverfahrens ganz oder zum Teil entstanden wäre oder sich in dieser Zeit vergrößert hätte. Für etwaige bereits vorher entstandene Schäden bleibt der Anspruch bestehen, das heißt hier hat eine zeitliche Differenzierung zu erfolgen (BGH, Urteil vom 11. März 2010 – III ZR 124/09 –, NJW-RR 2010, 1465/1467 Rdnr. 17; Urteil vom 5. Februar 1987 – III ZR 16/86 –, Rdnr. 31).

Nach diesen Maßstäben ist es den Klägern – dem Kläger zu 3 vertreten durch seine Eltern – zunächst nicht vorzuwerfen, dass sie sich anfänglich den Vorgaben der Fachbehörde gebeugt und wie bereits in der Phase des initialen „Clearings“ die von der Behörde vorgegebene Umgangsregelung akzeptiert haben. Dies auch angesichts dessen, dass sie die Entwicklung nicht passiv abgewartet, sondern im Gegenteil aktiv an der von der Behörde gewünschten Aufklärung mitgewirkt haben. Das betrifft sowohl ihre Stellungnahmen bzw. Richtigstellungen zu dem für die Behörde ersichtlich handlungsleitenden „Clearing-Berichts“, wie auch die Bemühungen des Klägers zu 1, seine darin als erforderlich angedeutete Begutachtung einzuleiten.

Anders zu beurteilen ist dies freilich, wie auch das Landgericht im Grundsatz zutreffend sieht, für den Zeitraum ab dem Jahreswechsel 2017/2018. Die Kläger waren ab Mitte November 2017 anwaltlich beraten und vertreten. Die von ihnen eingeschaltete Rechtsanwältin drängte die Behörde am 29. November 2017 zu einer Förderung des Verfahrens. Sie konnte zunächst darauf vertrauen, dass die Behörde ein Anwaltsschreiben zum Anlass für eine nähere Prüfung der Angelegenheit nehmen würde, wie dies ja auch tatsächlich erst einmal geschah. Sie konnte auch zunächst abwarten, dass die Behörde ihre Ankündigung im Schreiben vom 13. Dezember 2017 umsetzen würde, das Familiengericht anzurufen. Das hätte das Verfahren in der gebotenen Weise beschleunigt.

Als allerdings im Januar 2018 deutlich wurde, dass die Behörde tatsächlich kein gerichtliches Verfahren einleitete, hätte es den Klägern oblegen, Rechtsschutz zu suchen. Eine Anrufung des Familiengerichts konnte von ihnen allerdings entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht verlangt werden. Die Verfahren nach §§ 1666 f BGB, § 157 FamFG sind amtswegige Verfahren mit dem Ziel, die Eltern stärker in die Pflicht zu nehmen und auf sie dahingehend einzuwirken, dass sie öffentliche Hilfen annehmen und mit dem Jugendamt kooperieren (BT-Drs. 16/6308, 237; Hammer in: Prütting/Helms, FamFG, § 157 FamFG Rdnr. 2). Das Gericht kann mit Geboten und Verboten gegenüber den Eltern (bzw. Erziehungsberechtigten) eine Gefährdung des Kindeswohls abzuwenden suchen. Vorgaben an das Jugendamt ermöglicht das Verfahren nicht. Das Familiengericht hat keine Befugnis zum Erlass von Anordnungen zur Durchsetzung des Kindeswohls gegenüber Behörden. Diese sind nicht Dritte im Sinne des § 1666 BGB, weshalb die Familiengerichte auch die Jugendämter nicht zur Unterlassung von Maßnahmen der Jugendhilfe wie etwa einer Inobhutnahme verpflichten können. Die Kontrolle dieser Behörden obliegt vielmehr den Verwaltungsgerichten (BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2021 – XII ARZ 35/21 –, NJW 2021, 3470 = NZFam 2021, 1019, Rdnr. 8 bei juris). Familiengericht und Jugendamt sollen im Verfahren nach § 157 FamFG nur zusammenwirken und die jeweiligen Erkenntnisse, Einschätzungen und Tätigkeiten miteinander abstimmen (Hammer ebd. Rdnr. 6). So gut wie immer initiiert auch das Jugendamt in diesen Fällen das gerichtliche Verfahren (vgl. BT-Drs. 16/6308, 237), gelegentlich auch Dritte wie die Schule oder Ärzte. Zwar steht auch Eltern rechtlich die Möglichkeit der Anrufung des Familiengerichts offen. Hiervon wird aber faktisch nie Gebrauch gemacht. Im Gegenteil empfinden Eltern das Verfahren nach § 1666 BGB vielmehr regelmäßig als eine erhebliche Belastung (vgl. Hammer ebd. Rdnr. 8 f).

Die Kläger hätten aber das Jugendamt wenigstens durch eine Dienstaufsichtsbeschwerde zu einer beschleunigten Sachbehandlung anhalten und so den für sie schwer belastenden Schwebezustand auflösen können. Das haben sie in vorwerfbarer Weise nicht getan. Es steht auch nicht im Sinne der oben angeführten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs fest, dass diese Dienstaufsichtsbeschwerde keinen Erfolg gehabt hätte.

Im Ergebnis ist den Klägern von der Verzögerung des Verfahrens um etwa neun Monate ein Zeitraum von etwa vier Monaten zuzurechnen. Für die ihnen insoweit entstandenen Schäden können sie nach § 839 Abs. 3 BGB keinen Ersatz verlangen. Damit ist der Anspruch der Kläger auf Ersatz für eine Verzögerung von fünf Monaten beschränkt.

4.

Für den genannten Zeitraum erachtet der Senat unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles eine immaterielle Entschädigung für den Kläger zu 3 in Höhe von 2.500 € für angemessen. Er orientiert sich hierbei an den Entschädigungssummen, die in Verfahren wegen der menschenrechtswidrigen Verzögerungen von Umgangsverfahren durch die Gerichte zugesprochen werden (vgl. die Nachweise bei BGH, Urteil vom 6. Mai 2021 – III ZR 72/20 –, BGHZ 230, 14, Rdnr. 31). Er berücksichtigt hierbei freilich auch die erheblichen Unterschiede in den längerfristigen Folgen des Umgangsausschlusses für das Kind und die Beziehung zu dem Elternteil. Dabei ist im Streitfall auch in den Blick zu nehmen, dass der Umgang zwischen Vater und Sohn in dem maßgeblichen Zeitraum nicht vollständig ausgeschlossen war, sondern ein – wenn auch nur begleiteter – Umgang stattfand.

Der immaterielle Schaden des Klägers zu 1 ist nach Auffassung des Senats unter Abwägung aller maßgeblichen Umstände demgegenüber deutlich geringer mit lediglich 1.000 € zu bemessen. Auf der einen Seite ist zu berücksichtigen, dass der Eingriff in das Elternrecht des Klägers zu 1 zwar eine gewichtige Grundrechtsposition betrifft. Auf der anderen Seite sind die seelischen Folgen der Trennung eines sechs- bis siebenjährigen Kindes von seinen Eltern bzw. einem Elternteil nach Auffassung des Senats beim Kind gravierender als bei dem betroffenen Elternteil. Ebenfalls zu berücksichtigen ist zudem, dass der Kläger zu 1 das Tätigwerden des Jugendamtes und damit auch den behördlichen Eingriff in das ungestörte Familienleben letztlich selbst verursacht hat, wenn auch nicht die schadenstiftende Verfahrensverzögerung als solche. Auch hier ist schließlich zu berücksichtigen, dass der Umgang zwischen Vater und Sohn in dem maßgeblichen Zeitraum nicht vollständig ausgeschlossen war, sondern immerhin ein – wenn auch nur begleiteter – Umgang stattfand.

5.

Der zweitinstanzlich vom Kläger zu 1 darüber hinaus noch geltend gemachte materielle Schaden in Form von frustrierten Aufwendungen für Urlaubsreisen ist nicht durch die dem Beklagten vorzuwerfende Verzögerung der Sachaufklärung verursacht worden und damit insgesamt nicht zu ersetzen. Angesichts des tatsächlichen Verlaufs im später eingeleiteten gerichtlichen Verfahren ist anzunehmen, dass auch das Gericht für die Zeit bis zum Abschluss der Begutachtung an der vorläufigen Umgangsregelung festgehalten hätte. Auch bei sofortiger Anrufung des Gerichts im Juli 2017 wären die Urlaubsreisen folglich nicht wie geplant möglich gewesen. Im Übrigen ist der Vortrag, wie der Beklagte bereits erstinstanzlich geltend gemacht hatte, nur teilweise substantiiert und vom Kläger zu 1 nicht näher ausgeführt worden.

6.

Die Kostenentscheidung folgt §§ 92, 269 Abs. 3, 344 ZPO; der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 und 544 Abs. 1 Nr. 2 ZPO, die Streitwertentscheidung auf §§ 47 und 48 GKG.

Gründe im Sinne des § 543 Abs. 2 ZPO, die Revision zuzulassen, bestehen nicht.