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Entscheidung VG 3 K 1458/19


Metadaten

Gericht VG Potsdam 3. Kammer Entscheidungsdatum 14.12.2023
Aktenzeichen VG 3 K 1458/19 ECLI ECLI:DE:VGPOTSD:2023:1214.3K1458.19.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen Art 17 GDSGVO NW, Art 24 Abs 1 EUV 2018/1861, Art 24 Abs 2 EUV 2018/1861

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

Der Kläger, pakistanischer Staatsangehöriger, wurde durch das Bundespolizeipräsidium am 7. März 2016 zur Einreiseverweigerung im Schengener Informationssystem (SIS) ausgeschrieben. Er begehrt die Löschung der Ausschreibung, die zunächst auf drei Jahre befristet war und zuletzt bis zum 7. März 2024 verlängert wurde. Ihr liegt ein Fahndungsersuchen des pakistanischen Interpol-Zentralbüros vom 26. Januar 2016 zugrunde. Danach wird der Kläger verdächtigt, gemeinschaftlich mit seinem Bruder und weiteren Personen in Pakistan, wo er per Haftbefehl gesucht wird, einen Menschen getötet zu haben.

Am 9. Februar 2017 wurde der Kläger bei Einreise in Italien zum Zwecke der Auslieferung nach Pakistan vorläufig festgenommen. Da Pakistan keinen Auslieferungsantrag stellte und trotz Aufforderung Italiens angeforderte Unterlagen nicht übersandte, wurde der Haftbefehl mit Beschluss des italienischen Berufungsgerichts in Brescia am 29. März 2017 aufgehoben.

Den auf Löschung der Ausschreibung gerichteten Antrag des Klägers vom 22. Januar 2019 lehnte das Bundespolizeipräsidium mit Bescheid vom 14. Februar 2019 mit der Begründung ab, ein Anspruch auf Löschung bestehe nicht, weil die Ausschreibung rechtmäßig sei. Nach Art. 24 Verordnung (EG) Nr. 1987/2006 könnten Daten von Ausländern, die zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben seien, aufgrund einer nationalen Ausschreibung gespeichert werden. Die Anwesenheit des Klägers in der Bundesrepublik gefährde die öffentliche Sicherheit und Ordnung, da Erkenntnisse vorliegen, die den begründeten Verdacht einer schweren Straftat belegten. Es seien auch keine gewichtigen persönlichen Belange ersichtlich, unter deren Berücksichtigung von einer Ausschreibung abzusehen sei.

Dagegen erhob der Kläger Widerspruch, zu dessen Begründung er vortrug, die pakistanischen Behörden hätten mangels Übersendung von Unterlagen eine Überprüfung des Tatverdachts nicht ermöglicht. Der in Italien erlassene Haftbefehl sei durch das italienische Gericht aufgehoben worden, da nicht mehr von einem Tatverdacht ausgegangen werden könne. Es gelte die Unschuldsvermutung, sodass es an einem begründeten Verdacht der Begehung einer schweren Straftat fehle. Der im Haftbefehl Pakistans beschriebene Sachverhalt stelle sich nur noch als Vermutung dar.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16. April 2019 wies das Bundespolizeipräsidium den Widerspruch zurück. Das Fahndungsersuchen des Interpol-Zentralbüros in Pakistan sei weiterhin aktuell. Das in Italien erfolglos durchgeführte Auslieferungsverfahren sei unbeachtlich; die Auslieferung sei aus formalen Gründen gescheitert, eine Prüfung des Tatverdachts sei nicht erfolgt. Die Unschuldsvermutung gelte im Bereich der Gefahrenabwehr nicht. Die Ausschreibung zur Einreiseverweigerung sei auch verhältnismäßig; das Interesse an der Gefahrenabwehr für die Allgemeinheit überwiege das Interesse des Klägers an der Einreise und den Aufenthalt des Klägers im Gebiet der Schengener Vertragsstaaten.

Der Kläger hat am 7. Juni 2019 Klage erhoben, zu deren Begründung er ergänzend vorträgt, die Ablehnung des Löschungsantrags sei rechtswidrig und verletze ihn in seinen Rechten. Der angefochtene Bescheid sei rechtswidrig. Darin werde lediglich ausgeführt, das Interpol-Zentralbüro in Pakistan habe den Haftbefehl auf Aktualität geprüft. Welche weiteren Erkenntnisse herangezogen worden seien, um vom Vorliegen eines begründeten Tatverdachts auszugehen, sei nicht ersichtlich. Die Speicherung der Daten sei unrechtmäßig, weil die Annahme einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der hier einschlägigen Tatbestandsalternative einen begründeten Verdacht der Begehung einer schweren Straftat voraussetze. Dieser sei bei Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts im Sinne des § 170 Abs. 1 StPO gegeben, ein bloßer Anfangsverdacht genüge nicht. Die Annahme einer Gefahr beruhe vorliegend auf einen unzutreffend ermittelten Sachverhalt. Jedenfalls hätte die Aufhebung des italienischen Haftbefehls bei der Beklagten Zweifel nähren müssen, zumal der Kläger die Tat bestreite und von der pakistanischen Justiz auch nicht verurteilt worden sei. Auch seien das pakistanische Fahndungsschreiben betreffende Widersprüche von der Beklagten nicht berücksichtigt worden. So sei nach dem Bruder des Klägers wegen derselben Tat über Interpol gefahndet worden, der Kläger in dem den Bruder betreffenden Fahndungsschreiben aber nicht als Mittäter namentlich aufgeführt worden. Gegen den Bruder sei in Deutschland, wo dieser lebe, ein Ermittlungsverfahren wegen Totschlags geführt, aber eingestellt worden, da er sich zum Tatzeitpunkt nachweislich in Deutschland aufgehalten habe. Zudem seien im pakistanischen Fahndungsersuchen betreffend den Kläger Straftatbestände, z.B. Begünstigung, genannt, die mit dem angeblichen Tatvorwurf eines Tötungsdelikts nicht im Einklang zu bringen seien. Es dränge sich daher der Verdacht auf, dass nur ein Vorwand geschaffen worden sei, um den Kläger aus anderweitigen Motiven zu verfolgen. Auch habe es die Beklagte vor Verlängerung der Ausschreibung im SIS unterlassen, erneut deren Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Diese verstoße gegen sein durch Art. 6 GG verbürgtes Recht, seinen in Deutschland lebenden Bruder zu besuchen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundespolizeipräsidiums vom 14. Februar 2019 in Gestalt des Widerspruchbescheids derselben Behörde vom 16. April 2019 zu verpflichten, die Ausschreibung des Klägers zur Einreiseverweigerung im Schengener Informationssystem zu löschen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie führt ergänzend aus, die Voraussetzungen für eine Ausschreibung im SIS lägen weiterhin vor, insbesondere sei das Fahndungsersuchen weiterhin aktuell, wie eine Systemabfrage am Tag vor der mündlichen Verhandlung bestätigt habe. Ein begründeter Verdacht der Begehung einer schweren Straftat sei gegeben; der Kläger werde im pakistanischen Fahndungsersuchen mit personenbezogenen Daten bezeichnet, auch sei der Tatvorwurf mit Tatzeit, Tatort, Opfer und Zeugen hinreichend konkretisiert. Soweit dieser auf Widersprüche im Rahmen des pakistanischen Haftbefehls hinweise, seien die zitierten Bestimmungen des pakistanischen Strafgesetzbuchs nicht geprüft worden. Entsprechendes gelte hinsichtlich der vorgebrachten Einwände im Zusammenhang mit der gegen seinen Bruder erfolgten Ausschreibung, die Umstände seien mangels Kenntnis nicht berücksichtigt worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (vier Hefter) verwiesen. Diese waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage hat keinen Erfolg. Sie ist unbegründet.

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Löschung der Ausschreibung zur Einreiseverweigerung im SIS.

a) Anspruchsgrundlage hierfür ist nunmehr Art. 17 Buchst. d Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung, ABl. L 119 vom 4. Mai 2016, S. 1, im Folgenden: DSGVO) i.V.m. Art. 53 Abs. 1 Verordnung (EU) 2018/1861 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. November 2018 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des SIS im Bereich der Grenzkontrollen, zur Änderung des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen und zur Änderung und Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1987/2006.

Die Verordnung (EU) Nr. 2018/1861 gilt nach deren Art. 66 Abs. 5 ab dem gemäß Absatz 2 festgelegten Datum, d.h. mit Inbetriebnahme des SIS der sog. dritten Generation zum 7. März 2023 gemäß Art. 1 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2023/201 der Kommission vom 30. Januar 2023 (Abl. L 27 vom 31. März 2023, S. 29). Mit zum gleichen Zeitpunkt eingetretener Wirkung wurde die Verordnung (EG) Nr. 1987/2006, auf die sich die Beteiligten bislang gestützt haben, aufgehoben, vgl. Art. 65 Abs. 1 Verordnung (EU) 2018/1861.

b) Die Voraussetzungen von Art. 17 Buchst. d DSGVO, auf den Art. 53 Abs. 1 Verordnung (EU) 2018/1861 verweist, sind nicht erfüllt.

Nach Art. 17 Buchst. d DSGVO hat die betroffene Person das Recht, von dem Verantwortlichen zu verlangen, dass sie betreffende personenbezogene Daten unverzüglich gelöscht werden, sofern diese unrechtmäßig verarbeitet wurden, worunter auch das Speichern der Daten fällt, vgl. Art. 4 Nr. 2 DSGVO.

Die Daten des Klägers wurden nicht unrechtmäßig verarbeitet.

Eine Datenverarbeitung ist dann unrechtmäßig, wenn für sie weder eine Einwilligung der betroffenen Person noch eine sonstige Rechtsgrundlage vorliegt (Herbst, in: Kühling/Buchner/Herbst, DSGVO, 4. Aufl. 2024, Art. 17 Rn. 28), wobei die Rechtsgrundlage im Unionsrecht oder im nationalen Recht des jeweiligen Mitgliedstaates begründet sein kann, Art. 6 Abs. 3 Satz 1 DSGVO. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung ist der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. Herbst, in: Kühling/Buchner, DSGVO, 4. Aufl. 2024, Art. 17 Rn. 28a: „gegenwärtiger Zeitpunkt“).

Vorliegend ist Rechtsgrundlage für die Ausschreibung des Klägers zur Einreiseverweigerung Art. 24 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 2 Buchst. b Verordnung (EU) 2018/1861 (entspricht Art. 24 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. b Verordnung (EG) Nr. 1987/2006) i.V.m. § 30 Abs. 5 Bundespolizeigesetz [BPolG]). Nach Art. 24 Abs. 1 Buchst. a Verordnung (EU) 2018/1861 geben die Mitgliedstaaten eine Ausschreibung der Einreise- und Aufenthaltsverweigerung ein, wenn der Mitgliedstaat auf der Grundlage einer individuellen Bewertung, die eine Bewertung der persönlichen Umstände des betreffenden Drittstaatsangehörigen und der Auswirkungen der Einreise- und Aufenthaltsverweigerung für den betreffenden Drittstaatsangehörigen umfasst, zu dem Schluss gelangt, dass die Anwesenheit dieses Drittstaatsangehörigen in seinem Hoheitsgebiet eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder für die öffentliche oder die nationale Sicherheit in seinem Hoheitsgebiet darstellt, und der Mitgliedstaat folglich im Einklang mit seinen nationalen Rechtsvorschriften eine richterliche oder behördliche Entscheidung zur Einreise- und Aufenthaltsverweigerung erlassen und eine nationale Ausschreibung der Einreise- und Aufenthaltsverweigerung verhängt hat. Die Situationen nach Abs. 1 Buchst. a sind nach Art. 24 Abs. 2 Buchst. b Verordnung (EU) 2018/1861 u.a. gegeben, wenn gegen einen Drittstaatsangehörigen der begründete Verdacht besteht, dass er eine schwere Straftat begangen hat. Eine solche Situation liegt hier vor.

aa) Gegen den Kläger besteht der begründete Verdacht, dass er an einem in Pakistan verübten Tötungsdelikt beteiligt war.

Wann eine „Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit“ im Sinne des Art. 24 Abs. 1 Buchst. a Verordnung (EU) 2018/1861 und ein „begründeter Verdacht“ im Sinne des Art. 24 Abs. 2 Buchst. b Verordnung (EU) 2018/1861, bei dessen Vorliegen die Annahme einer Gefahr im Sinne des Abs. 1 gerechtfertigt ist, gegeben sind, wird weder in der Verordnung noch an anderer Stelle näher erläutert.

Anhaltspunkte zur Auslegung der Begriffe bieten die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs im Urteil vom 12. Dezember 2019 (C-380/18) zur Auslegung des Gefahrenbegriffs im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Buchst. e der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex – SGK). Nach dieser Vorschrift setzt die Einreise eines Drittstaatsangehörigen in das Unionsgebiet unter anderem voraus, dass dieser keine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. In dem Vorlageverfahren stellte sich die Frage, ob der bloße Verdacht der Begehung einer Straftat als Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen werden kann. Der Gerichtshof führte aus, dass den nationalen Behörden bei der Auslegung des Gefahrenbegriffs in Art. 6 Abs. 1 Buchst. e SGK nach dem Wortlaut, Zusammenhang und den Zielen der Regelung (vgl. ebd., Rn. 33) ein weiter Beurteilungsspielraum zukommt (ebd., Rn. 37). Die Vorschrift sei im Zusammenhang mit der weiteren Einreisevoraussetzung nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. d SGK zu betrachten (vgl. ebd., Rn. 35, 40), wonach ein Drittstaatsangehöriger, der in das Unionsgebiet einreisen wolle, nicht im SIS ausgeschrieben sein dürfe. Die hierfür zur Beurteilung maßgebliche Vorschrift des Art. 24 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 1987/2006 (nunmehr Art. 24 Abs. 1 Buchst. a Verordnung (EU) 2018/1861) zeige, dass nach dem Willen des Unionsgesetzgebers der bloße Verdacht einer begangenen Straftat eine Gefahr für die öffentliche Ordnung begründen könne (ebd., Rn. 31). Die Gefahrenbegriffe in Art. 6 Abs. 1 Buchst. d und e SGK seien gleich auszulegen (ebd., Rn. 43). Da hierbei aber der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten sei, könne eine Gefahr für die öffentliche Ordnung nur dann angekommen werden, wenn die Straftat, deren Begehung der Drittstaatsangehörige verdächtig sei, angesichts ihrer Art und der drohenden Strafe eine hinreichende Schwere aufweise (ebd., Rn. 48) und übereinstimmende, objektive und eindeutige Indizien, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine solche Straftat begangen habe, vorlägen (ebd., Rn. 49).

Da nach dem Vorstehenden die Gefahrenbegriffe in Art. 6 Abs. 1 Buchst. e SGK und Art. 6 Abs. 1 Buchst. d SGK i.V.m. (nunmehr) Art. 24 Abs. 1 Buchst. a Verordnung (EU) 2018/1861 inhaltsgleich auszulegen sind, sind auch die vom Europäischen Gerichtshof formulierten Anforderungen an den die Schwelle einer Gefahr für die öffentliche Ordnung überschreitenden Verdachtsgrad auf Art. 24 Abs. 2 Buchst. a Verordnung (EU) 2018/1861 übertragbar. Auf einen „begründeten“ Verdacht im Sinne von Art. 24 Abs. 1 Buchst. a Verordnung (EU) 2018/1861 kann folglich dann geschlossen werden, wenn übereinstimmende, objektive und eindeutige Indizien vorliegen, dass der Drittstaatsangehörige eine schwere Straftat verübt hat.

Dies ist im Fall des Klägers zu bejahen.

Nach dem Fahndungsersuchen des Interpol-Zentralbüros in Pakistan, das die Beklagte nach ihren unwidersprochenen Angaben am Tag vor der mündlichen Verhandlung auf Aktualität geprüft hat, ist der Kläger verdächtig, in Pakistan an einem Tötungsdelikt beteiligt gewesen zu sein. Nach Einschätzung der Beklagten rechtfertigt allein das Vorliegen des Fahndungsersuchens, das den Kläger hinreichend individualisiert und den Tatvorwurf mit Tatzeit, Tatort, Opfer und Zeugen hinreichend konkretisiert, den Schluss, dass der Verdacht im Fall des Klägers begründet ist. Dies genügt.

Soweit der Kläger geltend macht, das Fahndungsschreiben sei inhaltlich widersprüchlich, ist die Beklagte nicht verpflichtet (gewesen), den Widersprüchen nachzugehen und das Fahndungsschreiben inhaltlich zu prüfen. Denn hinsichtlich der Frage, ob ein begründeter Verdacht und damit eine Gefahr für die öffentliche Ordnung gegeben ist, steht der Behörde ein unmittelbar vom Unionsrecht vorgegebener weiter Beurteilungsspielraum zu, der von der Kammer nur eingeschränkt überprüfbar ist. Für ein solches Verständnis spricht zunächst der Wortlaut von Art. 24 Abs. 1 Buchst. a Verordnung (EU) 2018/1861, wonach die Annahme einer Gefahr für die öffentliche Ordnung auf einer „individuellen Bewertung“ des Mitgliedstaates beruht. Auch der Europäische Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 19. Dezember 2013 (C-84/12 – Koushkaki) angenommen, dass den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Prüfung eines Antrags auf Erteilung eines Visums über einen weiten Beurteilungsspielraum verfügen, der sich sowohl auf die Anwendungsvoraussetzungen der einschlägigen Vorschriften als auch auf die Würdigung der Tatsachen beziehe (ebd., Tenor zu 1., Rn. 55, 63). In der oben zitierten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung von Art. 6 Abs. 1 Buchst. e SGK nahm der Gerichtshof auf die Entscheidung vom 19. Dezember 2013 (C-84) Bezug, indem er ausführte, dass der den Behörden der Mitgliedstaaten zugestandene weite Beurteilungsspielraum auch dann zukommen müsse, wenn sie bestimmten, ob von einem Drittstaatsangehörigen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Buchst. e SGK ausgehe (C-380/18 –, juris Rn. 37). Da die Gefahrenbegriffe in Art. 6 Abs. 1 Buchst. d und e SGK bzw. Art. 24 Abs. 1 Buchst. a Verordnung (EU) 2018/1861 im Zusammenhang auszulegen sind, lässt dies den Schluss zu, dass den zuständigen Behörden ein weiter Beurteilungsspielraum auch in Bezug auf die Voraussetzungen von Art. 24 Abs. 1 Buchst. a Verordnung (EU) 2018/1861 eingeräumt ist.

Da das Unionsrecht selbst keine Vorgaben für den Umfang der gerichtlichen Kontrolle des als „weiten Beurteilungsspielraum“ bezeichneten behördlichen Entscheidungsspielraums macht, richten sich die Kontrollmaßstäbe nach den Grundsätzen, die das Bundesverwaltungsgericht zur gerichtlichen Überprüfung von Beurteilungsspielräumen nach deutschem Verwaltungsrecht entwickelt hat (so das Bundesverwaltungsgericht im Anschluss an die Entscheidung Koushkaki: Urteil vom 17. September 2015 – 1 C 37/14 –, juris Rn. 21 m.w.N.). Danach wird die Ausübung eines Beurteilungsspielraums auf der Tatbestandsseite nur darauf überprüft, ob die Behörde die gültigen Verfahrensbestimmungen eingehalten hat, von einem richtigen Verständnis des anzuwendenden Gesetzesbegriffs ausgegangen ist, den erheblichen Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt hat und sich bei der eigentlichen Beurteilung an allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe gehalten, insbesondere das Willkürverbot nicht verletzt hat (ebd. m.w.N.).

Ein solcher Beurteilungsfehler ist vorliegend nicht erkennbar. Die Beklagte hat ausgeführt, die Annahme eines begründeten Verdachts auf die Erkenntnisse des pakistanischen Fahndungsersuchens gestützt zu haben, worin der Kläger hinreichend individuell bezeichnet und der Tatvorwurf mit Tatzeit, Tatort, Opfer und Zeugen hinreichend konkret begründet werden. Anhaltspunkte für eine willkürliche Entscheidung, die von ihrem üblichen Verfahren abweicht, oder einen unzureichend ermittelten Sachverhalt sind nicht ersichtlich.

Nur ergänzend sei angemerkt, dass die vom Kläger geltend gemachten (vermeintlichen) Widersprüche in Bezug auf den Inhalt des über Interpol zirkulierenden Fahndungsschreibens nicht bestehen. Der Kläger bringt an, dass auch nach seinem Bruder, Zahid Hussein, wegen derselben Tat gefahndet werde oder worden sei, er, der Kläger, in dem seinen Bruder betreffenden gleichlautenden Fahndungsschreiben namentlich aber nicht als Mittäter genannt werde. Zum einen übersieht er, dass es in der „Zusammenfassung des Sachverhalts“ heißt, ...und „neun andere […] Personen“ seien an der Tat beteiligt gewesen, aber sodann nur acht Mittäter namentlich aufgeführt sind. Danach verbleibt Raum für die Annahme, dass der Kläger der neunte Mittäter ist. Zum anderen fällt auf, dass ...in dem ihn betreffenden Fahndungsschreiben nicht nur als Täter, sondern daneben auch als Mittäter gelistet ist, sodass sogar zwei weitere Tatverdächtige namentlich nicht benannt worden sind. Das den Bruder betreffende Fahndungsschreiben zwingt daher nicht zu der Schlussfolgerung, dass der Kläger an der Tat nicht beteiligt gewesen sein kann. Zweifel am Vorliegen eines begründeten Tatverdachts bestehen auch nicht aufgrund des Umstands, dass im Fahndungsersuchen weitere Straftatbestände genannt sind, die mit einem Tötungsdelikt auf den ersten Blick in keinem Zusammenhang stehen. Denn zum einen ist mangels Darstellung eines ausführlichen Sachverhalts offen, welches Verhalten dem Kläger konkret zur Last gelegt wird. Insbesondere ist nicht ausgeschlossen, dass der Kläger neben einen Totschlag auch eine Begünstigung verübt hat. Soweit er in diesem Zusammenhang vermutet, das angebliche Tötungsdelikt sei nur ein Vorwand, um ihn aus anderweitigen Motiven zu verfolgen, hat der Kläger schon nicht vorgetragen noch ist dies auch sonst nicht ersichtlich, aus welchen Gründen der pakistanische Staat ein anderweitiges Interesse an ihm haben sollte. Im Übrigen untersucht das Generalsekretariat von Interpol ein Fahndungsersuchen vor dessen Veröffentlichung auf Vereinbarkeit u.a. mit Art. 3 der Constitution of the ICPO – Interpol (Interpol-Satzung). Danach ist es der Organisation verboten, in Angelegenheiten tätig zu werden, die einen politischen, militärischen, religiösen und rassistischen Charakter aufweisen. Ferner obliegt es dem Kläger, sollte er das Fahndungsersuchen für unrechtmäßig erachten, einen Antrag auf dessen Löschung bei Interpol (über den internen Rechtsbehelf der sog. red notice challenge) oder Pakistan anzubringen. Die Unschuldsvermutung, auf die sich der Kläger beruft, gilt für Maßnahmen der Gefahrenabwehr, darunter fällt die Ausschreibung zur Einreiseverweigerung nach Art. 24 Abs. 1 Verordnung (EU) 2018/1861, nicht.

Auch soweit der Kläger geltend macht, die Aufhebung des in Italien erlassenen Haftbefehls zeige, dass der Tatverdacht gegen den Kläger entfallen sei, greift der Einwand nicht. Die Aufhebung des Haftbefehls und die Auslieferung des Klägers nach Pakistan scheiterten daran, dass Pakistan auf die Anforderung Italiens zur Übersendung von Unterlagen zur Prüfung der Haftgründe nicht reagiert hatte und keinen Auslieferungsantrag stellte. Mithin waren formale Gründe ursächlich, eine Prüfung des Tatverdachts durch die italienische Justiz erfolgte aber gerade nicht.

bb) Bei einem Tötungsdelikt handelt es sich um eine schwere Straftat, da sie mit mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe (vgl. Art. 24 Abs. 2 Buchst. a Verordnung (EU) 2018/1861) bedroht ist.

cc) Das Bestehen eines begründeten Verdachts der Begehung einer schweren Straftat führt zur Annahme einer Situation gemäß Abs. 24 Abs. 1 Buchst. a Verordnung (EU) 2018/1861, mithin einer Gefahr für die öffentliche Ordnung, Art. 24 Abs. 2 Buchst. b Verordnung (EU) 2018/1861.

dd) Diese Annahme beruht auf einer individuellen Bewertung des Beklagten, in der die persönlichen Umstände des Klägers und die Auswirkungen der Einreiseverweigerung berücksichtigt wurden, vgl. Art. 24 Abs. 1 Buchst. a Verordnung (EU) 2018/1861. Dieses Tatbestandsmerkmal ist Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nach Art. 21 Verordnung (EU) 2018/1861, der nach Absatz 1 verlangt, dass Angemessenheit, Relevanz und Bedeutung des Falls eine Ausschreibung im SIS hinreichend rechtfertigen. Insoweit hat der Beklagte zutreffend ausgeführt, dass die Maßnahme mit Blick auf die aus die sich bei Einreise ergebende Gefahr für die öffentliche Ordnung ergebende Gefahr angemessen ist. Insoweit ist einzustellen, dass es sich bei einem Tötungsdelikt um eine besonders schwere Straftat handelt und die mit der Einreise und dem Aufenthalt des Klägers verbundenen Gefahren damit eine besondere Erheblichkeit aufweisen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Oktober 2006 – 2 BvR 1908/03 –, juris Rn. 27). Die Abwehr dieser Gefahr überwiegt das Interesse des Klägers an der Einreise und dem Aufenthalt im Bundesgebiet. Soweit er geltend macht, in das Bundesgebiet einreisen zu wollen, um seinen hier lebenden Bruder besuchen zu können, ergibt sich auch unter Berücksichtigung seines Rechts aus Art. 6 GG nichts Anderes. Hier ist zu beachten, dass der Bruder anders als etwa Ehefrau und Kinder nicht zur Kernfamilie zählt und der Kläger mit diesem auf andere Weise Kontakt halten kann, etwa per Telefon oder Videotelefonie. Persönliche Treffen sind jedenfalls außerhalb des Schengen-Gebiets, wenn nicht sogar in Frankreich, wo sich der Kläger derzeit aufhält, möglich. Auch die jeweils für ein weiteres Jahr erfolgten Verlängerungen der Ausschreibung zur Einreiseverweigerung beruhen ausweislich der Gefahrenprognosen des Beklagten vom 16. Februar 2021, 4. März 2022 und 15. Februar 2023 auf einer individuellen Bewertung und sind verhältnismäßig.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Nebenentscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Beschluss

Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe:

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 2 GKG.