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Entscheidung 2 Reha 7/23


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 2. Strafsenat Entscheidungsdatum 15.01.2024
Aktenzeichen 2 Reha 7/23 ECLI ECLI:DE:OLGBB:2024:0115.2REHA7.23.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Tenor

1. Auf die Beschwerde der Betroffenen wird der Beschluss des Landgerichts Potsdam vom 5. August 2021 aufgehoben.

2. Das Verfahren des Landgerichts Potsdam BRH 245/09 wird wiederaufgenommen.

3. Der Bescheid des Aufnahmeheims der Jugendhilfe E… vom 2. August 1982 in Verbindung mit der Erziehungsvereinbarung vom 30. Juni 1982 wird für rechtsstaatswidrig erklärt und aufgehoben.

4. Die Betroffene hat in der Zeit vom 30. August 1982 bis 10. Mai 1985 zu Unrecht Freiheitsentzug erlitten.

5. Die notwendigen Auslagen der Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin beantragte mit Schreiben vom 27. Oktober 2009 ihre strafrechtliche Rehabilitierung hinsichtlich ihrer Einweisung in das Spezialkinderheim „A…R…“ in P… für den Zeitraum August 1982 bis Juli 1985. Mit Beschluss vom 19. Dezember 2011 (BRH 245/09) wies das Landgericht Potsdam den Rehabilitierungsantrag zurück.

Mit Anwaltsschriftsatz ihres Verfahrensbevollmächtigten vom 23. Juni 2020 verfolgte die Antragstellerin ihren Rehabilitierungsantrag weiter und beantragte die Wiederaufnahme des Rehabilitierungsverfahrens sowie die Erklärung der Rechtsstaatswidrigkeit ihrer Einweisung in das Spezialkinderheim „A… R…“ in P… und der damit verbundenen Freiheitsentziehung im Zeitraum vom 30. August 1982 bis 10. Mai 1985. Den Wiederaufnahmeantrag begründete sie mit neuen Beweismitteln, namentlich den nunmehr aufgefundenen Unterlagen zu ihrer Einweisung aus dem Bestand des Landesarchivs S… M542 P…. Zudem berief sie sich auf die Expertisen von Dr. W…, Dr. S… und Prof. Dr. L… und die infolge der Neufassung des § 10 Abs. 2 Satz 1 StrRehaG geänderte Rechtslage.

Das Landgericht Potsdam wies mit Beschluss vom 5. August 2021 den Wiederaufnahmeantrag zurück und verwarf den Zweitantrag als unzulässig.

Hiergegen wendet sich die Antragstellerin mit ihrer Beschwerde.

Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg beantragt, auf die Beschwerde den angegriffenen Beschluss des Landgerichts Potsdam aufzuheben und wie tenoriert zu erkennen.

II.

Die zulässige Beschwerde der Betroffenen ist begründet.

1. Der Wiederaufnahmeantrag ist zulässig.

Nach § 15 StrRehaG gelten im Rehabilitierungsverfahren, soweit im strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz nichts anderes bestimmt ist, die Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozessordnung entsprechend. Daraus folgt, dass im Rehabilitierungsverfahren grundsätzlich auch die strafprozessualen Vorschriften der §§ 359 f. StPO über die Wiederaufnahme „eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens“ entsprechende Anwendung finden können.

Die Überprüfung einer unanfechtbaren Rehabilitierungsentscheidung ist jedenfalls dann zuzulassen, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel im Sinn von § 359 Nr. 5 StPO vorgebracht werden und die Tatsachen glaubhaft sind (§ 10 Abs. 2 S. 1 StrRehaG) oder doch eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass sie glaubhaft gemacht werden können (vgl. § 370 Abs. 1 StPO). Neu sind die Tatsachen oder Beweismittel, wenn sie dem erkennenden Gericht nicht bekannt waren oder wenn sie zwar bekannt waren, aber der Entscheidung nicht zu Grunde gelegt worden sind, obwohl das möglich gewesen wäre.

Die Betroffene hat sich in ihrem Wiederaufnahmeantrag zumindest auch auf neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zu den tatsächlichen Umständen in Spezialkinderheimen, insbesondere die Expertisen von Dr. W…, Dr. S… und Prof. Dr. L…, welche 2012 veröffentlicht worden sind, und damit auf neue Tatsachen im Sinn von § 359 Nr. 5 StPO (vgl. hierzu auch Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschl. v. 22. März 2018, 2 Ws (Reha) 11/17; Beschl. v. 26. Oktober 2017, 2 Ws (Reha) 10/16; OLG Naumburg, Beschl. v. 19. Januar 2017, 2 Ws (Reh) 15/16; jeweils zitiert nach juris) berufen. Diese konnten bei der Beschlussfassung am 19. Dezember 2011 naturgemäß nicht berücksichtigt werden.

2. Der Antrag auf Rehabilitation ist auch begründet, da die Einweisung der Betroffenen in das Spezialkinderheim „A… R…“ in P… politischen Zwecken oder sachfremden Erwägungen gedient hat.

a) Der Senat geht von folgendem Sachverhalt aus:

Die Ehe der Eltern der Antragstellerin wurde mit Urteil des Kreisgerichts O… vom 21. März 1978 geschieden. Das Erziehungsrecht für die drei gemeinsamen älteren Kinder wurde der Mutter und für die beiden jüngeren Kinder, u. a. die Antragstellerin, dem Vater übertragen.

Seit dem Schuljahr 1978/1979 bis zum Schuljahr 1981/1982 fehlte die Antragstellerin jährlich bis zu 30 Tage unentschuldigt in der Schule, wobei mehrere Aussprachen zwischen der Schule und dem Vater im Ergebnis erfolglos geblieben waren.

Bereits zu einem nicht bekannten Zeitpunkt im Jahr 1980 stellte die Jugendhilfekommission L… einen Antrag auf Heimerziehung für die Antragstellerin. Mit Beschluss vom 16. Juli 1980 ordnete der Jugendhilfeausschuss des Rates des Kreises O… die Heimerziehung für die Antragstellerin an. Dabei wurde als pädagogische Zielsetzung die Verbesserung der Lernhaltung, die Normalisierung des gestörten Verhältnisses zum Vater und die Anpassung an die Normen gesellschaftlichen Zusammenlebens festgesetzt. Die Antragstellerin sollte in das Normalkinderheim „W…S…“ in T… eingewiesen werden.

Zur Sicherstellung des Schulbesuchs brachten der Vater der Antragstellerin bzw. dessen Lebensgefährtin die Antragstellerin in der Folge zur Schule und stellten durch die Anpassung der Arbeitszeiten die Betreuung der Antragstellerin und ihres Bruders sicher. Auf einen entsprechenden Antrag des Vaters der Antragstellerin nahm die Jugendhilfe des Rates des Kreises O… deshalb die Heimeinweisung am 1. September 1980 zurück.

Da die Antragstellerin im Schuljahr 1980/1981 erneut dem Unterricht fernblieb und Diebstähle begangen hatte, beantragten sowohl die Oberschule, die die Antragstellerin besuchte, als auch die Jugendhilfekommission L… am 24. Juni 1981 die Einweisung der Antragstellerin in ein Heim. Da der Vater der Antragstellerin im Rahmen der Sitzung des Jugendhilfeausschusses am 8. Juli 1981 von einem Orts- und Arbeitsstellenwechsel berichtete, nahm die Jugendhilfekommission den Antrag auf Heimeinweisung zurück.

Im Schuljahr 1981/1982 fehlte die Antragsteller erneut mehrere Tage unentschuldigt. Am 25. Januar 1982 setzte sie versehentlich einen Schuppen in Brand, da sie vergessen hatte, den Stecker aus einer Steckdose, die ihr Bruder selbst in dem Schuppen verlegt hatte, zu ziehen.

Im Rahmen einer Aussprache mit der Schule am 18. März 1982 sowie im Rahmen der Sitzung des Jugendhilfeausschusses beim Rat des Kreises O… am 23. Juni 1982 erklärte der Vater der Antragstellerin, dass er die Einweisung der Antragstellerin in ein Heim wünsche.

Mit Erziehungsvereinbarung vom 30. Juni 1982 zwischen dem Vater der Antragstellerin und dem Referat Jugendhilfe des Rat des Kreises O… wurde die Unterbringung der Antragstellerin in einem Heim der Jugendhilfe vereinbart. Dabei setzten sie die positive Veränderung der Lernhaltung, die Normalisierung der gestörten Beziehung zwischen Vater und der Antragstellerin sowie die Anpassung der Antragstellerin an die gesellschaftlichen Normen des Lebens als pädagogisches Ziel.

Mit Bescheid vom 2. August 1982 wies das Aufnahmeheim der Jugendhilfe E… die Antragstellerin in das Spezialkinderheim „A… R…“ in P… ein, wo diese am 30. August 1982 aufgenommen wurde und bis zum 10. Mai 1985 verblieb.

b) Dass die Einweisung auf der Grundlage der Erziehungsvereinbarung zwischen dem Vater der Betroffenen und dem Rat des Kreises O… vom 30. Juni 1982 getroffen wurde, steht einer Rehabilitierung nicht entgegen.

Angesichts der Freiwilligkeit ihres Abschlusses zwischen hierbei gleichberechtigten Beteiligten stellt eine Erziehungsvereinbarung zwar in der Regel keine rehabilitierungsfähige Anordnungsgrundlage dar (vgl. KG, Beschl. v. 18. Dezember 2019, 7 Ws 2-6/19 Reha, zitiert nach juris). Ausnahmsweise kann eine solche Vereinbarung jedoch rehabilitierungsfähig sein, wenn Unterbringungen jenseits förmlicher Anordnungsentscheidungen gleichwohl hoheitlich veranlasst sind, beispielsweise wenn eine Unterbringung bereits auf eine Erziehungsvereinbarung gestützt werden kann und nur deshalb von einer förmlichen Entscheidung bei Vorliegen der Anordnungsvoraussetzungen bewusst abgesehen wird, bei missbräuchlichem hoheitlichem Handeln unter dem bloßen Deckmantel einer Vereinbarung auf Augenhöhe oder bei hoheitlichem Eingreifen in wesentliche Regelungen der bestehenden Vereinbarungen (vgl. KG, a.a.O.).

So verhält es sich hier, denn die Einweisung des Ausnahmeheims der Jugendhilfe E…. vom 2. August 1982 greift in wesentliche Regelungen der bestehenden Erziehungsvereinbarung ein, gemäß derer eine Unterbringung in einem Spezialkinderheim nicht vorgesehen war.

Zwar sollte die Betroffene ausweislich der Erziehungsvereinbarung in einem Heim der Jugendhilfe untergebracht werden. Jedoch gingen der erziehungsberechtigte Vater und die Betroffene aufgrund nachfolgender Umstände ersichtlich davon aus, dass eine Unterbringung in einem Normalkinderheim erfolgen sollte.

Der Jugendhilfeausschuss des Rates des Kreises O… hatte bereits mit Beschluss vom 16. Juli 1980 die Unterbringung der Betroffenen in einem Normalkinderheim angeordnet, wobei diese im Wesentlichen auf den schlechten Einfluss der Mutter, Schulbummeleien, einer fehlenden Tagesstruktur und der fehlenden Kontrolle durch den erziehungsberechtigten Vater gestützt worden war. Diese Sachlage hatte sich bis Juni 1982 nicht wesentlich geändert. Die Schule berichtete von weiteren Schulbummeleien sowie der weiterhin fehlenden Kontrolle und dem fehlenden Einfluss des Vaters (Bl. 56 f. des Sonderbandes). Einzig eine fahrlässige Brandstiftung in Bezug auf eine Scheune, die die zum damaligen Zeitpunkt 12-jährige Betroffene verursacht haben soll und bei der kein Schaden entstanden ist, trat hinzu. Bereits die im Wesentlichen unveränderte Sachlage sowie die Tatsache, dass der Erziehungsvereinbarung die gleichen pädagogischen Zielsetzungen wie im Einweisungsbeschluss 1980 zu Grunde lagen, sprechen dafür, dass der Vater von einer Unterbringung in einem Normalkinderheim ausgegangen ist.

Dies wird auch durch einen Schriftwechsel zwischen der Betroffenen und ihrem Verfahrenspfleger im Herbst 1982 ersichtlich. In ihrem Brief vom 20. September 1982 beschwert sich die Betroffene, dass viele Versprechungen, die der Verfahrenspfleger ihr gemacht habe, sich nicht bewahrheitet hätten. Beispielsweise sei sie davon ausgegangen, dass sie unbegleiteten Ausgang erhalte. In seinem Antwortschreiben vom 8. Oktober 1982 teilt der Verfahrenspfleger daraufhin mit, dass er im Rahmen eines Gesprächs in ihrem Vaterhaus nur erzählt habe, „wie es allgemein in Heimen vor sich geht. Du befindest Dich in einem Spezialheim.“ In einem weiteren Brief vom 2. November 1982 nimmt der Verfahrenspfleger zunächst auf die Heimeinweisung in T… im Jahre 1980 Bezug, was „ein Normalheim [ist] und euch nicht geschadet hätte. Nun ist inzwischen ein Spezialkinderheim daraus geworden und dort geht es eben auch speziell zu.“ Letztlich legt der Verfahrenspfleger in diesem Schreiben deutlich offen, dass „die Einweisung […] übrigens von höherer Stelle entsprechend eurer nicht geraden dünnen Akte“ - und damit entgegen der ursprünglichen Vereinbarung - erfolgt sei.

c) Die Unterbringung in dem Spezialkinderheim diente (jedenfalls) sachfremdem Zwecken. Nach dem nunmehr geltenden § 10 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG wird vermutet, dass die Anordnung der Unterbringung in einem Heim für Kinder und Jugendliche der politischen Verfolgung oder sachfremden Zwecken diente, wenn eine Einweisung in ein Spezialheim oder eine vergleichbare Einrichtung, in der eine zwangsweise Umerziehung erfolgte, stattfand.

Diese Vermutung kann nur durch die positive Feststellung, dass die Einweisung aus anderen als den dort genannten Gründen erfolgt ist, widerlegt werden (vgl. Senat, Beschl. v. 25. Mai 2021, 2 Ws (Reha) 13/20). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn positiv festgestellt werden könnte, dass die Betroffene zuvor durch massive Straffälligkeit aufgefallen wäre oder sich gemeingefährlich verhalten hätte (vgl. Senat, Beschl. v. 4. Oktober 2021, 2 Reha 11/21, zitiert nach juris).

Gemessen hieran ist die zu Gunsten der Betroffenen streitende Vermutung des § 10 Abs. 3 S. 1 StrRehaG nicht widerlegt. Zum Zeitpunkt der Einweisung war die Betroffene 12 Jahre alt und damit auch nach dem Strafgesetzbuch der ehemaligen DDR strafunmündig (§ 65 Abs. 1 und 2 StGB/DDR). Bereits deshalb konnten weder die fahrlässige Brandstiftung noch kleinere Diebstähle aus dem Jahr 1980, welche im Übrigen noch nicht den Grad massiver Taten erreicht hatten, eine Einweisung in ein Spezialkinderheim rechtfertigen.

3. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst (vgl. § 14 Abs. 1 StrRehaG). Die Auslagenentscheidung beruht auf §§ 14 Abs. 4, 15 StrRehaG, 467 Abs. 1 StPO.