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Entscheidung 1 OAus 2/24


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 1. Strafsenat Entscheidungsdatum 15.01.2024
Aktenzeichen 1 OAus 2/24 ECLI ECLI:DE:OLGBB:2024:0115.1OAUS2.24.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Die Auslieferung des Verfolgten … an die Republik Polen zum Zwecke der Vollstreckung der durch rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts („Ort 06“) vom 7. Juni 2022 (II K 88/22) wegen Hehlerei, Fahrens unter Einfluss von Alkohol und Nichtbefolgung eines Anhaltesignals (Art. 291 § 1, Art. 178a § 1, Art. 178b des polnischen StGB) erkannten Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten sowie der durch weiteres rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts („Ort 06“) vom 7. August 2022 (II K 599/22) wegen Beleidigung eines Beamten in drei Fällen (Art. 224 § 2 in Verbindung mit Art. 226 § 1, Art. 11 § 2 des polnischen StGB) erkannten Freiheitsstrafe von acht Monaten, wovon noch sieben Monate und 23 Tage zu vollstrecken sind, ist unzulässig.

Die Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg, die Bewilligung der Auslieferung des Verfolgen an die Republik Polen wegen der vorgenannten Strafvollstreckung zu versagen, wird nach vollinhaltlicher Überprüfung bestätigt.

Die Festhalteanordnung des Amtsgerichts Cottbus vom 5. Januar 2024 wird aufgehoben.

Gründe

I.

1. Die polnischen Behörden ersuchen unter Bezugnahme auf den Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts Gorzów Wielkopolski vom 4. Oktober 2023 (Az. II Kop 94/23), dem die rechtskräftigen Urteile des Amtsgerichts („Ort 06“) vom 7. Juni 2022 (II K 88/22) und vom 7. August 2022 (II K 599/22) zu Grunde liegen, um Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Vollstreckung einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten (Urteil vom 7. Juni 2022) sowie einer Reststrafe von sieben Monaten und 23 Tagen von ursprünglich acht Monaten Freiheitsstrafe (Urteil vom 7. August 2022).

Ausweislich des Europäischen Haftbefehls wurde der Verfolgte (1.) durch Urteil des Amtsgerichts („Ort 06“) vom 7. Juni 2022 (Az. II K 88/22) wegen Hehlerei, Fahrens unter Einfluss von Alkohol und Nichtbefolgung eines Anhaltesignals (Art. 291 § 1, Art. 178a § 1, Art. 178b des polnischen StGB) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, die noch vollständig zu vollstrecken ist. Darüber hinaus wurde der Verurteilte (2.) durch dasselbe Gericht am 7. August 2022 (Az. II K 599/22) wegen Beleidigung eines Beamten in drei Fällen (Art. 224 § 2 in Verbindung mit Art. 226 § 1, Art. 11 § 2 des polnischen StGB) zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt; von dieser Strafe sind noch sieben Monate und 23 Tage zu vollstrecken.

Nach der deutschen Übersetzung des Europäischen Haftbefehls liegen den beiden Urteilen im Wesentlichen folgende Sachverhalte zugrunde:

(1.) Urteil vom 7. Juni 2022 (II K 88/22).

(a.) Am 17. Januar 2022 half der Verfolgte beim Verstecken eines zuvor in der Zeit vom 18. bis 19. November 2021 in („Ort 01“) entwendeten PKW Peugeot Boxer mit dem amtlichen Kennzeichen …, indem er es von einem Unbekannten übernahm und in das Gebiet der Republik Polen verbrachte. (b) Das genannte Fahrzeug führte der Verfolgte am selben Tag im Straßenverkehr in („Ort 02“), („Ort 03“), („Ort 04“), („Ort 05“) und („Ort 06“) im Zustand der Trunkenheit mit einem Atemalkoholgehalt von 1,12 mg/l, 1,07 mg/l, 0,92 mg/l und 0,93 mg/l. (c.) Am selben Tattag führte der Verfolgte den genannten PKW an den genannten Tatorten, wobei er der Aufforderung einer zur Kontrolle des Straßenverkehrs befugten Person, das Fahrzeug anzuhalten, nicht nachkam und weiterfuhr.

(2.) Urteil vom 7. August 2022 (II K 599/22)

(a.) Am 3. April 2022 beleidigte der Verfolgte im Kreiskrankenhaus und im Polizeipräsidium von („Ort 06“) die Polizeibeamten („Name 01“) und („Name 02“). Durch Drohungen und Tritte in den Beinbereich verhinderte er seine Festnahme. (b.) Am 29. März 2022 beleidigte er in („Ort 06“) in einer Wohnung, auf dem Weg zu einem Polizeiwagen und im Gebäude des Polizeipräsidiums die Polizeibeamten („Name 03“) und („Name 04“). Er stieß die Beamten weg, um seine Festnahme zu verhindern. (c.) Am 17. Juni 2022 beleidigte er in („Ort 06“) Polizeibeamte an verschiedenen Orten. Er zwang die Beamten, ihre gesetzlichen Pflichten aufzugeben, indem er sich zusammenraufte, und bedrohte die Polizeibeamten („Name 03“) und („Name 01“) mit dem Entzug ihres Lebens und der Begehung einer Körperverletzung.

2. Der Verfolgte befindet sich derzeit zur Vollstreckung einer wegen tateinheitlich begangenen gewerbsmäßigen schweren Bandendiebstahls, tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr erkannten Freiheitsstrafe von drei Jahren aus dem Urteil des Amtsgerichts Fürstenwalde/Spree vom 17. Februar 2023 (2 Ls 1/23, 228 Js 22897/22 Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder)) in der Justizvollzugsanstalt … . Er wurde in jener Sache am 23. August 2022 festgenommen und befand sich zunächst in Untersuchungshaft. Seit dem 9. Juni 2023 wird die Strafe vollstreckt. Zwei Drittel der Haft werden am 20. September 2024 erreicht sein; das Strafende ist auf den 21. September 2025 notiert.

3. Bei seiner haftrichterlichen Vernehmung zu dem Auslieferungsersuchen der polnischen Justizbehörden vor dem Amtsgericht Cottbus am 5. Januar 2024 hat sich der Verfolgte mit seiner Auslieferung nach Polen im vereinfachten Verfahren einverstanden erklärt und ebenso auf die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet. Zur Sache hat der Verfolgte bei seiner richterlichen Vernehmung angegeben, zu den Hauptverhandlungsterminen, die Gegenstand des Europäischen Haftbefehls sind, nicht geladen worden zu sein und auch sonst keine Kenntnis davon gehabt zu haben.

Das Amtsgericht Cottbus hat mit Beschluss vom 5. Januar 2024 gegen den Verfolgten eine Festhalteanordnung erlassen, infolgedessen Überhaft notiert wurde.

4. Ausweislich der Angaben in dem Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts Gorzów Wielkopolski vom 4. Oktober 2023 (Az. II Kop 94/23) ist der Verfolgte zu der Hauptverhandlung im Verfahren II K 88/22 (Urteil vom 7. Juni 2022) persönlich vor Gericht erschienen, im Verfahren II K 599/22 (Urteil vom 7. August 2022) dagegen nicht. In dem letztgenannten Verfahren sei er über den Termin benachrichtigt worden. Er sei durch keinen Verteidiger vertreten worden und habe keine Berufung gegen das Urteil eingelegt. Da diese Angaben für die Frage, ob ein Ausnahmefall nach § 83 Abs. 2 bis 4 IRG vorliegt, nicht ausreichend waren, hat die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg mit E-Mail vom 1. November 2023 das Bezirksgericht Gorzów Wielkopolski um ergänzende Stellungnahme gebeten.

Aus dem Antwortschreiben der polnischen Justizbehörden vom 28. November 2023 ergibt sich, dass der Verfolgte in dem Verfahren II K 599/22 (Urteil vom 7. August 2022) die Mitteilung über den Verhandlungstermin nicht abgeholt habe und die polnischen Behörden von der sogenannten Zustellfiktion ausgegangen seien.

Hinsichtlich des Verfahrens II K 88/22 (Urteil vom 7. Juni 2022) teilen die polnischen Behörden ergänzend mit, dass der Verfolgte gegen das erstinstanzliche Urteil vom 7. Juni 2022, das in seiner Anwesenheit ergangen war, Berufung eingelegt habe. Die Benachrichtigung über den Termin der Berufungshauptverhandlung habe der Verfolgte nicht abgeholt. Mit Urteil vom 27. September 2022 habe das Bezirksgericht in Gorzów Wielkopolski das angefochtene Urteil aufrechterhalten. Das Berufungsurteil sei dem Verfolgten nicht zugestellt worden.

5. Da das Berufungsurteil des Bezirksgerichts Gorzów Wielkopolski in der Strafsache II K 88/22 (Amtsgericht („Ort 06“)) und das Urteil des Amtsgericht („Ort 06“) vom 8. August 2022 (II K 599/22) in Abwesenheit des Verfolgten und ohne Vertretung durch einen Verteidiger ergangen sind und ein Ausnahmetatbestand nach § 83 Abs. 2 bis 4 IRG in keinem der beiden Fälle gegeben sei, hat die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg unter dem Datum des 11. Januar 2024, eingegangen beim Brandenburgischen Oberlandesgericht am 12. Januar 2024, beantragt, die Auslieferung des Verfolgten an die Republik Polen zum Zwecke der Vollstreckung noch zu verbüßender Freiheitsstrafen von einem Jahr und drei Monaten sowie von sieben Monaten und 23 Tagen aus den Urteilen des Amtsgerichts („Ort 06“) vom 7. Juni 2022 und vom 7. August 2022 für unzulässig zu erklären und der Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg, die Bewilligung der Auslieferung zu versagen, nach vollinhaltlicher Überprüfung zuzustimmen sowie die Festhalteanordnung des Amtsgerichts Cottbus aufzuheben.

II.

Der Senat folgt den Anträgen der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg.

1. Die Auslieferung des Verfolgten an die polnischen Justizbehörden zum Zwecke der Strafvollstreckung gemäß dem durch das EuHbG vom 20. Juli 2006 umgesetzten Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten sowie der maßgeblichen Bestimmungen des Achten Teils des IRG erweist sich als unzulässig.

a) Der seitens der Generalstaatsanwaltschaft des Landes gestellte Antrag nach § 29 Abs. 1 IRG, die Auslieferung für unzulässig zu erklären, ist – wie in der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft vom 11. Januar 2024 zutreffend ausgeführt ist – zulässig (vgl. ebenso OLG Celle, Beschluss vom 23. November 2015, 1 Ausl 46/14; OLG München, EuGH-Vorlage vom 09. April 2021, 1 AR 285/20, jeweils zit. n. juris; entgegen OLG Dresden, Beschluss vom 17. Februar 2021, OLGAusl 258/20; OLG Braunschweig, Beschluss vom 11. Februar 2021, 1 AR (Ausl) 17/20; OLG Rostock, Beschluss vom 15. Februar 2016, 20 OLGAusl 21/15, jeweils zit. n. juris). Das Rechtsschutzbedürfnis der Generalstaatsanwaltschaft für diesen Antrag ergibt sich daraus, dass der Verfolgte, der kein eigenes Antragsrecht hat, nicht als reines Objekt internationalen Rechts behandelt werden darf und einen Anspruch auf Rechtssicherheit hat, vgl. auch § 77 IRG i. V. m. § 296 Abs. 2 StPO. Diese Ansicht ist auch mit dem Wortlaut des § 29 Abs. 1 IRG vereinbar, da sich der Antrag darauf richten muss, „ob“ und nicht „dass“ die Auslieferung zulässig ist.

b) Dabei dürfte die Auslieferung des Verfolgten an die polnischen Justizbehörden zum Zwecke der Strafvollstreckung nach dem durch das EuHbG vom 20. Juli 2006 umgesetzten Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten sowie nach den maßgeblichen Bestimmungen des Achten Teils des IRG nicht von vornherein unzulässig (§ 15 Abs. 2 IRG) sein, da die materiellen Auslieferungsvoraussetzungen vorliegen.

Denn die Auslieferungsfähigkeit ist dem Grunde nach entsprechend den §§ 3, 81 Nr. 2 IRG gegeben. Die dem Ersuchen zugrundeliegenden Taten sind als Hehlerei, Trunkenheit im Verkehr sowie als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte sowie als Beleidigung auch nach deutschem Recht strafbar. Insbesondere bestehen keine Bedenken gegen die Zulässigkeit der Auslieferung, soweit dem Verfolgten mit Urteil vom 7. Juni 2022 wegen der festgestellten Atemalkoholkonzentration von 1,12, 1,07, 0,92 und 0,93 mg/l Trunkenheit im Verkehr vorgeworfen wird. Auch wenn ein Atemalkoholwert nach deutschem Recht nicht ohne Weiteres in eine Blutalkoholkonzentration umgerechnet werden kann (vgl. König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Auflage, StGB, § 316 Rn. 52), liegen die mitgeteilten Werte bei genereller Umrechnung in Blutalkoholkonzentration (Faktor 2) mit 2,24, 2,14, 1,84 und 1,86 Promille deutlich über dem Wert der absoluten Fahruntüchtigkeit von 1,1 Promille. Im Übrigen wäre die Auslieferung diesbezüglich akzessorisch in Zusammenhang mit den auslieferungsfähigen Taten der Hehlerei und der Beleidigung eines Beamten zulässig. Insoweit reicht es aus, dass es sich bei dem dem Verfolgten vorgeworfenen Führen eines Fahrzeugs im Straßenverkehr nach Genuss alkoholischer Getränke nach Art. 178a § 1 des polnischen Strafgesetzbuches um eine nach deutschem Recht ahndbare Ordnungswidrigkeit nach § 24 a StVG handelt (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 28. Dezember 2009 - 1 AK 85/09 juris; Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Auflage, § 4 Rn. 3).

Dies gilt auch, soweit dem Verfolgten vorgeworfen wird, die Aufforderung einer zur Kontrolle des Straßenverkehrs befugten Person zum Anhalten nicht befolgt zu haben. Dieses Verhalten ist zwar nach deutschem Recht nicht strafbar. Die Auslieferung ist insoweit dennoch akzessorisch zu den auslieferungsfähigen Taten zulässig. Auch hier reicht es aus, dass es sich bei dieser Tat nach deutschem Recht (§ 49 Abs. 3 Nr. 1 i. V. m. § 36 Abs. 5 Satz 4 StVO) um eine Ordnungswidrigkeit handelt (Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, a.a.0.).

Die zu vollstreckenden Strafen liegen auch über der Mindestsanktionsgrenze von 4 Monaten (§ 1 Nr. 2 IRG). Überdies enthält der Europäische Haftbefehl des Bezirksgerichts Gorzów Wielkopolski die nach § 83 a Abs. 1 Nr. 1 - 6 IRG erforderlichen Angaben und gibt die Identität des Verfolgten an, enthält die Bezeichnung und Anschrift der ausstellenden Justizbehörde, nennt die Art und die rechtliche Würdigung der Straftaten, einschließlich der gesetzlichen Bestimmungen, und beschreibt die Umstände, unter denen die Taten begangen sein sollen, mit Angabe jeweils der Tatzeit, des Tatortes und der Tatmodalitäten des Verfolgten ausreichend.

c) Die Auslieferung des Verfolgten an die Republik Polen erweist sich dennoch als unzulässig. Denn nach § 83 Abs.1 Nr. 3 IRG ist eine Auslieferung zum Zweck der Strafvollstreckung grundsätzlich unzulässig, wenn die verurteilte Person – wie es hier ausweislich der Ausführungen im Europäischen Haftbefehl und in der ergänzenden Stellungnahme der polnischen Justizbehörden vom 28. November 2023 der Fall war – zu der dem Urteil zugrunde liegenden Gerichtsverhandlung nicht persönlich erschienen ist. Ein Ausnahmetatbestand nach § 83 Abs. 2 bis 4 IRG liegt nach Auskunft des Bezirksgerichts Amtsgerichts Gorzów Wielkopolski vom 28. November 2023 jeweils nicht vor:

(1.) Sowohl nach dem Europäischen Haftbefehl als auch nach der vorgenannten Stellungnahme vom 28. November 2023 ist der Verfolgte zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung vom 7. August 2022 (II K 599/22) geführt hat, nicht persönlich geladen worden im Sinne von § 83 Abs. 2 Nr. 1 IRG. Die Voraussetzungen für einen Ausnahmetatbestand nach § 83 Abs. 2 Nr. 2, 3, Abs. 3, 4 IRG liegen nach den Angaben der polnischen Behörden ebenfalls nicht vor. Somit ist die Auslieferung des Verfolgten zur Vollstreckung des Urteils vom 7. August 2022 (II K 599/22) wegen der Abwesenheit des Verfolgten gern. § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG unzulässig.

(2.) In Bezug auf das Urteil vom 7. Juni 2022 (II K 88/22) ist – wie die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg in ihrer Stellungnahme vom 11. Januar 2024 ebenfalls zutreffend ausgeführt hat – fraglich, auf welche Verhandlung für die Frage des Vorliegens eines Auslieferungshindernisses abzustellen ist.

Nach der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist, wenn - wie hier - ein Verfahren mehrere Instanzen umfasst, die zu aufeinanderfolgenden Entscheidungen geführt haben, für die Frage, ob die Abwesenheit des Verurteilten ein Auslieferungshindernis begründet, die Verhandlung maßgeblich, die zu der letzten Entscheidung geführt hat, sofern das Gericht rechtskräftig über die Schuld des Betroffenen entschieden und ihn zu einer Strafe verurteilt hat, nachdem es die belastenden und die entlastenden Umstände in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht geprüft und dabei gegebenenfalls seine persönliche Situation berücksichtigt hat (Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 10. August 2017, C-270/17 PPU, Rn. 76, 81).

Das Kammergericht hat Zweifel daran geäußert, ob dieser Rechtsprechung zu folgen ist, und deshalb dem EuGH unter anderem die - auch hier relevante - Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob bei durchgeführtem Berufungsverfahren der Begriff der „Verhandlung“ in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI dahin auszulegen ist, dass er sich auf die der erstinstanzlichen Entscheidung vorangegangene Verhandlung bezieht, wenn nur der Verfolgte Berufung eingelegt hat und die Berufung verworfen worden ist (KG („Ort 01“), EuGH-Vorlage vom 14. Juni 2022, (4) 151 AuslA 147/21 (151/21), zit. n. juris). Zur Begründung hat es ausgeführt, dass nach deutschem Recht die Zustellungsmöglichkeiten weitreichender seien (z.B. § 40 Abs. 3 StPO), im Falle des Ausbleibens des nicht verteidigten Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung sein Rechtsmittel ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen sei (§ 329 Abs. 1 S. 1 StPO), das Verbot der reformatio in peius eine Verschlechterung der Position des Angeklagten verhindere und letztlich die zu vollstreckende Entscheidung bei einer Berufungsverwerfung das in Rechtskraft erwachsende erstinstanzliche Erkenntnis sei, bei der der Verfolgte anwesend gewesen war (KG a. a. O. Rn. 18ff.; siehe auch Senatsbeschluss vom 26. Oktober 2022 - 1 AR 36/22 (S)).

Mit Urteil vom 21. Dezember 2023 (C-397/22) hat der EuGH die Frage des Kammergerichts dahingehend beantwortet, dass Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen sei, dass sich die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ in dieser Bestimmung auf eine Berufungsverhandlung bezieht, die zu einem Urteil geführt hat, mit dem die erstinstanzliche Entscheidung bestätigt und somit die Rechtssache endgültig entschieden wurde. Der Umstand, dass dieses Berufungsverfahren ohne eine Prüfung in der Sache durchgeführt wurde, sei insoweit unerheblich. Ausschlaggebend für den Betroffenen sei die Entscheidung, durch die endgültig über den Sachverhalt entschieden werde und gegen die kein ordentliches Rechtsmittel mehr gegeben sei. In diesem Verfahrensstadium müsse der Betroffene in der Lage sein, seine Verteidigungsrechte uneingeschränkt auszuüben, um seinen Standpunkt wirksam darzulegen und so die endgültige Entscheidung, durch die ihm möglicherweise seine persönliche Freiheit entzogen werde, zu beeinflussen. Der Ausgang dieses Verfahrens sei insoweit unerheblich (EuGH a.a.O., Rn. 45f).

Danach ist in der polnischen Rechtssache II K 88/22 die Entscheidung des Bezirksgerichts in Gorzów Wielkopolski vom 27. September 2022 maßgeblich, die aufgrund einer Berufungshauptverhandlung erging, in der der Verfolgte nicht anwesend war. Ein Ausnahmetatbestand ist insoweit nicht gegeben. Der Verfolgte wurde nicht persönlich geladen im Sinne von § 83 Abs. 2 Nr. 1 IRG. Die Voraussetzungen von § 83 Abs. 2 Nr. 2 IRG liegen ebenfalls nicht vor. Zwar wird angenommen, dass ein Fluchtfall zu bejahen ist, wenn der Verfolgte, der selbst Berufung eingelegt hat und daher von dem Verfahren Kenntnis hat, die Nachricht über den Hauptverhandlungstermin nicht abholt, sondern sich versteckt hält (vgl. KG („Ort 01“), Beschluss vom 27. Juli 2017 - (4) 151 AuslA 87/17 (101/17) -, zit. n. juris, dort Rn. 15; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 17. August 2017 - Ausl 301 AR 61/17 -, zit. n. juris, dort Rn. 9). Davon ist hier auch auszugehen, da sich der Verfolgte im August 2023 und damit während des laufenden Berufungsverfahrens nach Deutschland begab zur Begehung einer Straftat, wegen der er mit Urteil des Amtsgerichts Fürstenwalde vom 17. Februar 2023 zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden ist (BI. 99ff d. A.). In diesem Verfahren befand er sich seit dem 23. August 2022 in Untersuchungshaft. Allerdings war ausweislich der Angaben des Bezirksgerichts Gorzów Wielkopolski an dem Verfahren kein Verteidiger beteiligt, so dass der Ausnahmetatbestand nach § 83 Abs. 2 Nr. 2 IRG zu verneinen ist.

Damit ist die Auslieferung in Bezug auf das Urteil des Bezirksgerichts Gorzów Wielkopolski vom 27. September 2022 gem. § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG ebenfalls nicht zulässig.

Zwar hat der EuGH festgestellt, dass diese Regelung gegen Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verstößt, da sie einer vollstreckenden Justizbehörde generell verwehrt, einen zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellten Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, wenn der Betroffene in der Verhandlung, die zu der betreffenden Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist (EuGH, Urteil vom 21.12.2023, C-397/22, Rn. 69). Die deutsche Regelung lasse der vollstreckenden Justizbehörde keinen Ermessensspielraum, obwohl Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 einen Fall der fakultativen Nichtvollstreckung eines Europäischen Haftbefehls vorsieht mit der Folge, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie feststellt, dass die Situation der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde, unter keinen der in Art. 4a Abs. 1 Buchstabe a bis d des Rahmenbeschlusses angeführten Tatbestände fällt, jedenfalls andere Umstände berücksichtigen kann, die es ihr erlauben, sich zu vergewissern, dass die Übergabe des Betroffenen nicht zu einer Verletzung seiner Verteidigungsrechte führt (EuGH a.a.O. Rn. 60). Das nationale Gericht ist verpflichtet, § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG unter Berücksichtigung seines gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der nach diesem Recht anerkannten Auslegungsmethoden so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks dieses Rahmenbeschlusses auszulegen, wobei eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem allerdings ausgeschlossen ist (EuGH a.a.O. Rn. 66f).

Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass es bei der Unzulässigkeit der Auslieferung gem. § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG verbleibt, da der einzig in Betracht kommende Ausnahmetatbestand des § 83 Abs. 2 Nr. 2 IRG nach seinem eindeutigen und insoweit nicht auslegungsfähigen Wortlaut (vgl. KG a. a. O. Rn. 36) voraussetzt, dass ein Verteidiger an dem Verfahren beteiligt war, wofür nach den Ausführungen im Europäischen Haftbefehl und in der ergänzenden Stellungnahme der polnischen Justizbehörden vom 28. November 2023 keine Anhaltspunkte bestehen.

2. Da sich die Auslieferung als unzulässig erweist, ist kein Bewilligungsermessen eröffnet, weshalb die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg beabsichtigt, die Bewilligung der Auslieferung des Verfolgten … zu versagen.

In Folge der Entscheidung des Europäische Gerichtshofs vom 24. November 2020 (Az. C-510/19) ist eine vollinhaltliche Überprüfung und Bestätigung der avisierten Bewilligungsentscheidung durch den Senat veranlasst, da die Staatsanwaltschaften der Bundesrepublik Deutschland nach §§ 146, 147 GVG nicht weisungsfrei, mithin keine „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI sind. Die im Rahmen einer europarechtskonformen Auslegung von § 79 Abs. 2 IRG veranlasste vollinhaltliche Überprüfung der beabsichtigten Bewilligungsentscheidung der Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg führt zu deren Bestätigung durch den Senat. Dies folgt zwingend aus dem Umstand, dass sich die Auslieferung als unzulässig erweist, wozu auf die vorstehenden Ausführungen zu II. 1. verweisen werden kann.

3. Wegen der Unzulässigkeit der Auslieferung des Verfolgten … unterliegt auch die Festhalteanordnung des Amtsgerichts Cottbus vom 5. Januar 2024 der Aufhebung.