Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat | Entscheidungsdatum | 11.04.2013 | |
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Aktenzeichen | L 13 SB 169/12 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 193 SGG |
1. Eine Behörde gibt in der Regel Anlass zur Klageerhebung, wenn sie eine Entscheidung trifft, ohne den Sachverhalt zuvor zureichend aufgeklärt zu haben.
2. Eine Behörde hat im sozialgerichtlichen Verfahren eine prozessuale Fürsorgepflicht gegenüber dem Rechtsschutzsuchenden zu beachten. Die Behörde muss insbesondere darauf hinwirken, dass das Sozialgericht den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufklärt.
3. Erkennt eine Behörde, dass das Sozialgericht den Rechtsstreit ohne zureichende Sachverhaltsaufklärung entscheiden wird, muss sie zur Wahrung ihrer prozessualen Fürsorgepflicht gegenüber dem Rechtsschutzsuchenden das Gericht auf die Notwendigkeit weiterer Sachaufklärung hinweisen.
4. Verletzt eine Behörde eine prozessuale Fürsorgepflicht gegenüber dem Rechtsschutzsuchenden, kann dies Anlass zur Rechtsmitteleinlegung durch den Rechtsschutzsuchenden geben.
Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des Verfahrens vor dem Sozialgericht Berlin zum Aktenzeichen S 33 SB 35/10 und vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg zum Aktenzeichen L 13 SB 80/11 jeweils zur Hälfte zu erstatten. Im Übrigen findet keine Kostenerstattung statt.
I.
Die Beteiligten streiten noch über die außergerichtlichen Kosten des durch Rücknahme der Berufung erledigten Rechtsstreits, der das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) betroffen hat.
Bei der 1936 geborenen Klägerin hatte der Beklagte mit Bescheid vom 24. September 2008 unter Zuerkennung der Merkzeichen „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung), „B“ (Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson) und „T“ (Teilnahme am Sonderfahrdienst) einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 festgestellt, die Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ jedoch abgelehnt.
Am 2. April 2009 stellte die Klägerin einen Verschlimmerungsantrag und machte hierbei das Merkzeichen „RF“ geltend.
Auf der Grundlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Arbeitsmediziners vom 29. April 2009, der bei Verneinung des Vorliegens der Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ einen GdB von 100 feststellte und hierbei folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde legte (in Klammern jeweils die verwaltungsinternen zugeordneten Einzel-GdB):
a) Kunstgelenkersatz der Hüfte links, Funktionsbehinderung des Hüftgelenkes beidseits, Kunstgelenkersatz des Knies rechts, Funktionsbehinderung des Kniegelenkes beidseits, Funktionsbehinderung des oberen Sprunggelenkes beidseits, Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseits, chronische venöse Insuffizienz (Krampfaderleiden) des Beines beidseits, Polyneuropathie (70),
b) Herzleistungsminderung, Herzrhythmusstörungen, Herzklappenfehler, pulmonale Hypertonie, Bluthochdruck (50),
c) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Wirbelsäulenfehlhaltung und Verschleiß, Bandschäden im Lendenwirbelsäulenbereich, Spinalkanalstenose (40),
d) mehrfach operiertes Brustdrüsenleiden links nach Ablauf der Heilungsbewährung (30),
e) Hörminderung, Ohrgeräusche (30),
f) medikamentös behandeltes Schilddrüsenleiden (20),
g) Sehminderung, eingepflanzte Kunstlinse beidseits (20),
h) Depression (20),
i) Verlust der Gallenblase, Bauchnarbenbruch (20),
j) Funktionsbehinderung des Schultergelenks beidseits (20),
k) Lungenfunktionseinschränkung (20),
l) Diabetes mellitus (10),
m) Harninkontinenz (10),
n) Leberschaden (10),
lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 16. Juni 2009 eine Neufeststellung ab. Den hiergegen gerichteten Widerspruch der Klägerin wies er nach versorgungsärztlicher Auswertung der vorgelegten ärztlichen Unterlagen mit Widerspruchsbescheid vom 15. Dezember 2009 zurück.
Mit der am 6. Januar 2010 beim Sozialgericht Berlin erhobenen Klage (Aktenzeichen S 33 SG 35/10) hat die Klägerin die Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ begehrt. Zur Begründung machte sie unter Verweis auf den zuerkannten GdB von 100 geltend, dass ihr insbesondere durch die Spinalkanalstenose eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht möglich sei. Sie könne nur kurz stehen und nicht lange sitzen. Die meiste Zeit liege sie. Zudem leide sie an einer schweren Harninkontinenz.
Nach Anhörung der Klägerin hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 23. März 2011 die Klage unter Auswertung der ihm vorliegenden ärztlichen Befunde abgewiesen.
Auf die Berufung der Klägerin (Aktenzeichen L 13 SB 80/11) hat der Senat durch Urteil vom 10. August 2011 mit der Begründung, das Sozialgericht habe zu Unrecht durch Gerichtsbescheid entschieden und den Sachverhalt nicht aufgeklärt, die Entscheidung aufgehoben und die Sache an die erste Instanz zurückverwiesen.
Das Sozialgericht hat daraufhin Beweis erhoben durch Einholung des Sachverständigengutachtens des Allgemeinmediziners Dr. S vom 3. April 2012, der nach Untersuchung der Klägerin festgestellt hat, dass sie wegen ihrer Behinderungen nicht dauernd daran gehindert ist, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.
Mit Richterbrief vom 18./19. April 2012 hat das Sozialgericht der Klägerin mitgeteilt, dass es nicht beabsichtige, weitere Ermittlungen von Amts wegen durchzuführen. Mit Schreiben vom 14./15. Juni 2012, der Klägerin am 20. Juni 2012 zugestellt, hat es ausgeführt, es erwäge, über die Klage durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, und der Klägerin Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb eines Monats eingeräumt. Die Klägerin hat mit dem am 3. Juli 2012 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz beantragt, den Arzt Dr. G nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu hören.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 6. Juli 2012 zurückgewiesen: Die Voraussetzungen für das Merkzeichen „RF“ seien nicht erfüllt. Auch der gerichtliche Sachverständige habe in seinem Gutachten, gegen das die Klägerin keine Einwendungen vorgebracht habe, keine den Klageanspruch stützenden Feststellungen getroffen. Dem Antrag der Klägerin nach § 109 SGG sei nicht zu entsprechen, da eine Beweisaufnahme den bereits zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid vorgesehenen Rechtsstreit verzögern würde und der Antrag aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden sei.
Am 19. Juli 2012 hat die Klägerin erklärt, mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid nicht einverstanden zu sein. Gegen den Gerichtsbescheid hat sie Berufung zum Landessozialgericht eingelegt, mit der sie zunächst die Verpflichtung des Beklagten begehrte, bei ihr für den Zeitraum ab 2. April 2009 das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ festzustellen. Sie hat eine Verletzung rechtlichen Gehörs geltend macht. Denn das Sozialgericht habe vor Ablauf der Anhörungsfrist durch Gerichtsbescheid entschieden. Ferner sei ihr Antrag nach § 109 SGG ignoriert worden.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 11. April 2013 hat die Klägerin die Berufung zurückgenommen. Die Beteiligten haben eine gerichtliche Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits beantragt.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegen-stand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.
II.
Nach der Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache durch Rücknahme der Berufung ist auf den Antrag der Beteiligten nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden. Diese Kostenentscheidung ist nach billigem Ermessen des Gerichts unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes zu treffen.
1. Der Beklagte hat der Klägerin dessen außergerichtliche Kosten des Klageverfahrens zur Hälfte zu erstatten.
Hierbei ist im vorliegenden Fall allerdings nicht darauf abzustellen, wer den Prozess voraussichtlich gewonnen hätte. Denn die Erfolgsaussicht der Klage war bis zum Abschluss des Klageverfahrens erster Instanz zum Aktenzeichen S 33 SG 35/10 nicht einzuschätzen, da der Sachverhalt seinerzeit nicht hinreichend aufgeklärt worden ist. Dies geschah – nach Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht – erst im erneuten Klageverfahren, durch Einholung des Sachverständigengutachtens des Allgemeinmediziners Dr. S vom 3. April 2012 (siehe unten Nr. 3).
Eine Beteiligung des Beklagten an den außergerichtlichen Kosten ist jedoch deshalb angezeigt, weil er die Erhebung der Klage (mit-) veranlasst hat. Zu berücksichtigen ist, dass der Beklagte der ihn nach § 20 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch treffenden Verpflichtung, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären, im Feststellungs- und Widerspruchsverfahren nicht hinreichend genügte. Vielmehr beschränkte er sich darauf, Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte einzuholen und die ihm vorliegenden ärztlichen Unterlagen durch den versorgungsärztlichen Dienst auswerten zu lassen. Diese Ermittlungen „vom Schreibtisch aus“ sind jedoch in dem durch medizinische Fragen geprägten Gebiet des Schwerbehindertenrechts in der Regel nicht ausreichend. Um im vorliegenden Fall seiner Aufgabe – nämlich die nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen der Klägerin und deren Ausmaß zu ermitteln, um auf der Grundlage dieser Erkenntnisse über die Zuerkennung des begehrten Merkzeichens „RF“ zu entscheiden – gerecht zu werden, hätte der Beklagte die Klägerin durch einen Arzt untersuchen lassen müssen. Da er dies unterlassen und damit Veranlassung zur Klageerhebung gegeben hat, entspricht es billigem Ermessen, dass er der Klägerin die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Klageverfahrens zum Aktenzeichen S 33 SB 35/10 zu erstatten hat.
2. Der Beklagte hat der Klägerin auch deren außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens zum Aktenzeichen L 13 SB 80/11 zur Hälfte zu erstatten.
Diese anteilige Kostentragungspflicht des Beklagten folgt daraus, dass er die Einlegung der Berufung zu einem nicht gänzlich unerheblichen Teil (mit-) veranlasst hat.
Die Entscheidung des Sozialgerichts im Klageverfahren erster Instanz zum Aktenzeichen S 33 SB 35/10 leidet – abgesehen davon, dass es durch Gerichtsbescheid entschieden hat, obwohl die dafür in § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt waren – an einem wesentlichen Verfahrensmangel, da das Sozialgericht den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt hat. Es hat verfahrensfehlerhaft gegen seine Aufklärungspflicht gemäß § 103 SGG verstoßen, wonach alle entscheidungserheblichen Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats darf sich in einem – wie dem Schwerbehindertenrecht – medizinisch geprägtem Sachgebiet ein Gericht mangels entsprechender medizinischer Fachkenntnisse nicht allein auf die aktenkundigen ärztlichen Unterlagen und die dazu nach Aktenlage ergangenen versorgungsärztlichen Stellungnahmen stützen. Die Auswertung eingeholter Befundberichte der behandelnden Ärzte genügt im Regelfall nicht, um der richterlichen Amtsermittlungspflicht gerecht zu werden. Vielmehr bedarf es im gerichtlichen Verfahren (zumal den Gerichten – anders als dem Beklagten – kein versorgungsärztlichen Dienst angegliedert ist) zur Aufklärung eines Sachverhalts in medizinischer Hinsicht regelmäßig der Einholung eines Sachverständigengutachtens, wobei sowohl im Hinblick auf das jeweilige medizinische Fachgebiet als auch im Hinblick auf die sozialmedizinischen Erfordernisse auf eine hinreichende Qualifikation und Erfahrung von Sachverständigen zu achten ist. Dies ist, wie bereits dargelegt worden ist, im Verfahren des ersten Rechtszuges versäumt worden. Anstatt sich darauf zu beschränken, die von der Klägerin vorgelegten Arztbriefe entgegen zu nehmen, hätte das Sozialgericht sich zu medizinischen Ermittlungen gedrängt fühlen müssen. Da es dies unterlassen hat, ist seinerzeit nicht hinreichend aufgeklärt worden, welche Funktionsbeeinträchtigungen bei der Klägerin bestehen und ob die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ erfüllt sind.
Dieser in den Verantwortungsbereich des Gerichts fallende Verfahrensmangel allein führt allerdings noch nicht zu einer Beteiligung des Beklagten an den außergerichtlichen Kosten der Klägerin. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass den Beklagten nicht nur im behördlichen, sondern auch noch im gerichtlichen Verfahren eine Fürsorgepflicht gegenüber der Klägerin trifft. Dies wird insbesondere dadurch deutlich, dass § 69 SGG (wie § 61 VwGO und § 57 FGO) den Kläger und den Beklagten als „Beteiligte“ bezeichnet. Das sozialgerichtliche Verfahren kennt – anders als die Zivilprozessordnung – keine „Parteien“, da es zwar formal als kontradiktorisches Verfahren ausgestaltet ist, jedoch in der Sache nicht dazu dient, einen Streit zwischen zwei Kontrahenten, die widerstreitende Interessen vertreten, zu schlichten bzw. (notfalls durch gerichtliche Entscheidung) zu beenden. Um einen derartigen dem Zivilprozess typischen Zweiparteienstreit kann es in den Verfahren der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeit schon deshalb nicht gehen, weil die Behörde keine „eigenen“ Interessen, sondern wegen seiner aus Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Bindung allein ein dem Gesetz und Recht entsprechendes Ergebnis verfolgen darf. Hieraus erwächst in Fällen wie dem vorliegenden die Verpflichtung des Beklagten, zu Gunsten der Klägerin zu intervenieren, wenn abzusehen ist, dass das Sozialgericht dessen Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG nicht genügen wird. Falls – wie hier mit der Anhörung der Beteiligten zu der beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid – erkennbar wird, dass das Sozialgericht trotz fehlender Sachaufklärung das Klageverfahren abzuschließen gedenkt, dann ist der Beklagte gehalten, dem zu widersprechen und nicht etwa durch sein Schweigen seine Zustimmung zu erteilen. Sollte der Beklagte dieser Verpflichtung nicht entsprechen, etwa weil er zu Unrecht den Sachverhalt für aufgeklärt hält, so hat er der Klägerin deren Kosten des daraufhin angestrengten Berufungsverfahrens zu einem Teil zu erstatten.
3. Eine Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Klägerin im erneuten Klage- und Berufungsverfahren findet nicht statt. Denn die Klägerin hätte voraussichtlich ohne die Rücknahme der Berufung den Rechtsstreit verloren.
Das Sozialgericht hat in dem der Gerichtsbescheid vom 6. Juli 2012 im Ergebnis zutreffend erkannt, dass der Bescheid des Beklagten vom 16. Juni 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Dezember 2009 rechtmäßig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt. Sie hat keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „RF“.
Maßgebliche Anspruchsgrundlage für das Begehren der Klägerin ist § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX). Danach stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auch das Vorliegen gesundheitlicher Merkmale fest, soweit sie Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 5 der Schwerbehindertenausweisverordnung gehört zu diesen Merkmalen das Merkzeichen „RF“, das im Schwerbehindertenausweis einzutragen ist, wenn der Schwerbehinderte die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht bzw. für die Zeit ab dem 1. Januar 2013 für die Ermäßigung von der Rundfunkbeitragspflicht erfüllt.
Landesrechtlich maßgeblich sind insoweit für die Zeit bis zum 31. Dezember 2012 die Vorschriften des am 1. April 2005 in Kraft getretenen § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 und 8 sowie Abs. 3 des Rundfunkgebührenstaatsvertrages in der Fassung des Achten Staatsvertrages zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge (Achter Rundfunkänderungsstaatsvertrag) in Verbindung mit § 1 des Berliner Zustimmungsgesetzes vom 27. Januar 2005 (GVBl. Seite 82) – wobei spätere Änderungen, zuletzt im 14. Rundfunkänderungsstaatsvertrag in Verbindung mit § 1 des Berliner Zustimmungsgesetzes vom 15. Dezember 2010 (GVBl. S. 551) die insoweit maßgeblichen Voraussetzungen unberührt gelassen haben – sowie für die Zeit ab dem 1. Januar 2013 der zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretene § 4 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages in der Fassung des 15. Rundfunkänderungsstaatsvertrages in Verbindung mit dem Berliner Zustimmungsgesetz vom 20. Mai 2011 (GVBl. S. 211).
Nach der vorliegend in Betracht kommenden Vorschrift des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrages in der Fassung des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrages werden für die Zeit bis zum 31. Dezember 2012 von der Rundfunkgebührenpflicht befreit
behinderte Menschen, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenigstens 80 vom Hundert beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.
Unter den identischen Voraussetzungen wird der nunmehr ab dem 1. Januar 2013 durch diesen Personenkreis zu leistende Rundfunkbeitrag nach § 2 Abs. 1 auf ein Drittel ermäßigt (vgl. § 4 Abs. 2 Nr. 3 des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages in der Fassung des 15. Rundfunkänderungsstaatsvertrages).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - sind als öffentliche Veranstaltungen Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art zu verstehen, die länger als 30 Minuten dauern, also nicht nur Ereignisse kultureller Art, sondern auch Sportveranstaltungen, Volksfeste, Messen, Märkte und Gottesdienste (vgl. BSG, Urteil vom 17. März 1982, 9a/9 RVs 6/81, SozR 3870 § 3 Nr. 15 = BSGE 53, 175). Die Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen kann nur dann bejaht werden, wenn der Schwerbehinderte in einem derartigen Maße eingeschränkt ist, dass er praktisch von der Teilnahme am öffentlichen Gemeinschaftsleben ausgeschlossen und an das Haus gebunden ist. Mit dieser sehr engen Auslegung soll gewährleistet werden, dass der auch aus anderen Gründen problematische Nachteilsausgleich „RF“ (vgl. insbesondere BSG, Urteile vom 10. August 1993, 9/9a RVs 7/91, in: Breith 1994, S. 230, und vom 16. März 1994, 9 RVs 3/93, bei Juris, das die Auffassung vertritt, es erscheine wegen der nahezu vollständigen Ausstattung aller Haushalte in Deutschland mit Rundfunk- und Fernsehgeräten zunehmend zweifelhaft, dass durch den Nachteilsausgleich „RF“ tatsächlich ein behinderungsbedingter Mehraufwand ausgeglichen werde) nur Personengruppen zugute kommt, die den ausdrücklich genannten Schwerbehinderten (Blinden und Hörgeschädigten) und den aus wirtschaftlicher Bedrängnis sozial Benachteiligten vergleichbar sind.
Der Senat vermag den vorliegenden ärztlichen Feststellungen nicht zu entnehmen, dass die Klägerin die geschilderten Voraussetzungen erfüllt. Bei ihr bestehen keine Leiden im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrages bzw. des § 4 Abs. 2 Nr. 3 des Rundfunkbeitragstaatsvertrages, die sie ständig daran hinderten, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.
Die Klägerin leidet unstreitig unter körperlichen Einschränkungen, die sich insbesondere auf dessen Fortbewegungsfähigkeiten auswirken und deretwegen das Versorgungsamt ihr die Merkzeichen "G", „B“ , „aG“ und „T“ zuerkannte. Allerdings ist es ihr – wie der Sachverständige Dr. S nachvollziehbar ausgeführt hat – trotz ihrer Leiden nicht verwehrt, öffentliche Veranstaltungen aufzusuchen. Hierbei ist es unerheblich, dass sie öffentliche Veranstaltungen nur unter Verwendung von technischen Hilfsmitteln, d.h. von Gehhilfen, eines Rollators, eines Rollstuhls oder eines Liegestuhls, und mit Hilfe einer Begleitperson besuchen kann. Denn durch die Notwendigkeit entsprechender Hilfsmittel und einer Begleitperson ist ein Schwerbehinderter nicht von öffentlichen Veranstaltungen ständig ausgeschlossen (so BSG, Urteil vom 3. Juni 1987, 9a RVs 27/85, SozR 3870 § 3 Nr. 25). Ebensowenig wirken sich die übrigen von dem Gutachter dokumentieren Leiden der Klägerin auf deren Fähigkeit aus, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Auch leidet die Klägerin an keinen neuropsychiatrischen Erkrankungen, die unüberwindbare Hemmschwellen bedingen, öffentliche Veranstaltungen aufzusuchen. Schließlich werden aufgrund der Feststellungen des Sachverständigen auch keine Umstände aufgezeigt, die dafür sprächen, dass bei ihr derart außergewöhnliche Besonderheiten gegeben wären, die es rechtfertigten, den gesetzlichen Regelfällen vergleichbar, die Voraussetzungen von der Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht bzw. von der Rundfunkbeitragspflicht aufgrund einer besonderen Härte als gegeben anzusehen (§ 6 Abs. 3 des Rundfunkgebührenstaatsvertrages bzw. § 4 Abs. 6 des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages).
Zwar leidet die angefochtene Entscheidung an einem wesentlichen Verfahrensmangel, da das Sozialgericht den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt hat, indem es vor Ablauf der Anhörungsfrist durch Gerichtsbescheid entschieden hat. Der Gehörsverstoß des Sozialgerichts ist jedoch dem Beklagten kostenmäßig nicht anzulasten, da er insoweit keinen Einfluss auf die Verfahrensgestaltung gehabt hat.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).