Gericht | VG Potsdam 13. Kammer | Entscheidungsdatum | 25.02.2021 | |
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Aktenzeichen | 13 K 3478/17.A | ECLI | ECLI:DE:VGPOTSD:2021:0225.13K3478.17.A.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 60 Abs 5 AufenthG 2004, § 60 Abs 7 AufenthG 2004 |
Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
Ziffer 6. des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 20. Mai 2017 wird aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Kläger begehrt die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach Afghanistan.
Er ist afghanischer Staatsangehöriger mit paschtunischer Volkszugehörigkeit und muslimisch-sunnitschen Glaubens. Er ist am 1...in G... geboren und stammt aus der Provinz P.... Nach eigenen Angaben reiste er am 16. November 2015 auf dem Landweg nach Deutschland ein und beantragte am 18. März 2016 Asyl.
Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 29. August 2016, die auf Paschtu durchgeführt wurde, gab er im Wesentlichen an, dass in Afghanistan die Sicherheit für sein Leben nicht mehr gewährleistet gewesen sei. Die Taliban hätten mitbekommen, dass er in der Firma seines Schwagers gearbeitet habe, die wiederum für amerikanische Firmen tätig gewesen sei. Sie hätten gedroht, ihn zu töten, weil er ein Ungläubiger sei.
Mit Bescheid vom 20. Mai 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Asylanerkennung sowie auf Gewährung subsidiären Schutzes ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen. Es forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Bei Nichteinhaltung der Ausreisefrist werde er nach Afghanistan bzw. in einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet ist, abgeschoben. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Am 6. Juni 2017 hat der Kläger Klage erhoben zu deren Begründung er im Wesentlichen auf seine Ausführungen in der Anhörung am 29. August 2016 Bezug nimmt. Ergänzend trägt er vor, dass er am 12. Oktober 2017 in einer religiösen Zeremonie in P... eine bulgarische Staatsangehörige geheiratet habe. Aus dieser Beziehung sei am 1...der gemeinsame Sohn, ebenfalls bulgarischer Staatsbürger, hervorgegangen. Zum Nachweis legt er eine Kopie der Heiratsurkunde des Vereins der M..., des bulgarischen Reisepasses und der Geburtsurkunde des Kindes vor. Er lebe derzeit mit der Mutter des Kindes und dem Kind zusammen in Deutschland. Die Vaterschaft stehe einer Abschiebung entgegen.
Nachdem der Kläger seine Klage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen hat, soweit diese auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie subsidiären Schutzes gerichtet gewesen ist, beantragt er nunmehr noch,
die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 20. Mai 2017 zu verpflichten, festzustellen, dass in seiner Person Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.
Mit Beschluss vom 1. Februar 2021 hat die Kammer den Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, weil darauf mit der Ladung hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -). Die Entscheidung ergeht durch den Einzelrichter, dem der Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) zur Entscheidung übertragen worden ist.
Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, war das Verfahren gemäß
§ 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
Im Übrigen ist die Klage zulässig.
Der Kläger verfolgt im Wesentlichen ein Verpflichtungsbegehren – die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots durch das Bundesamt –, beantragt allerdings ebenfalls die Aufhebung des Bescheids, was sich hinsichtlich der Abschiebungsandrohung in Ziffer 5. und der Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ziffer 6. des Bescheides auswirkt, da hier nicht die Situation der Versagungsgegenklage vorliegt. Eines hilfsweisen gestellten Antrages gegen die Abschiebungsandrohung oder auf Verkürzung der Frist das Einreise- und Aufenthaltsverbots bedarf es nicht (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. Juli 2020 – OVG 3 B 2/20 –, juris Rn. 17).
Die Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet, darüber hinaus unbegründet.
Die zuletzt noch angegriffenen Ziffern 4. und 5. des Bescheides des Bundesamtes vom 20. Mai 2017 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten; hinsichtlich der Ziffer 6. ist der Bescheid hingegen rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG) keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG hinsichtlich der Islamischen Republik Afghanistan (I.). Auch die Ausreiseaufforderung ist rechtmäßig (II.). Die Entscheidung zum gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot hingegen ist ermessensfehlerhaft (III.).
I. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685; Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 –, juris Rn. 25). Soweit – wie in Afghanistan – ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind
(vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. August 2018 – 1 B 42.18 –, juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“; Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 –, juris Rn. 25 unter Bezugnahme auf EGMR, Urteil vom 28. Juni 2011 – 8319/07 [Sufi und El-mi/Vereinigtes Königreich] –, NVwZ 2012, 681 Rn. 278 ff.).
Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist keine Extremgefahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von
§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlich. Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen vielmehr ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ erreichen; diese Voraussetzung kann erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. August 2018 – 1 B 42.18 –, juris Rn. 11, 13). Dies macht letztlich deutlich, dass bei „nichtstaatlichen“ Gefahren für Leib und Leben ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich ist, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem etwa die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind (vgl. Bayerischer VGH, Urteil vom 8. November 2018 – 13a B 17.31918 –, juris Rn. 20; OVG Lüneburg, Urteil vom 29. Januar 2019 – 9 LB 93/18 –, juris Rn. 51).
Dabei ist im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich aber auch ausreichend ist daher die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 – 10 C 5.09 –, juris Rn. 22).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist der zur Entscheidung berufene Einzelrichter davon überzeugt, dass dem Kläger keine Folter und, in seinem besonderen Einzelfall, trotz einer außergewöhnlichen Sicherheits- und humanitären Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in Afghanistan droht.
Mit Blick auf die Bewertung der allgemeinen Sicherheitslage und der humanitären Verhältnisse in Kabul – als Zielort der Abschiebung (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Oktober 2018 – A 11 S 316/17–, juris Rn. 202 f.) – schließt sich der zur Entscheidung berufene Einzelrichter nach eigener Prüfung dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2020 – A 11 S 2042/20 –, juris Rn. 34 ff., an. Auf die dortigen Ausführungen zur aktuellen humanitären und wirtschaftlichen Situation in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie wird verwiesen.
Diesen folgt der zur Entscheidung berufene Einzelrichter, mit der Konsequenz, dass derzeit angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie auch im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK regelmäßig erfüllt sind, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. Derartige Umstände können insbesondere dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2020 – A 11 S 2042/20 –, juris Rn. 105).
In Anwendung dessen droht dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan keine extreme Gefahrenlage, die zu einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK führt.
Der Kläger ist – trotz seines Kindes und seiner Ehefrau mit bulgarischen Staatsbürgerschaften – für die Bewertung des Vorliegens eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots dem Personenkreis der alleinstehenden, leistungsfähigen, männlichen Afghanen zuzurechnen. Denn Hintergrund der Berücksichtigung von Familienangehörigen bei der Rückkehrprognose im Rahmen von § 60 Abs. 5 S. 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK ist, dass sich der einzelne Rückkehrer dann nicht nur in der verfassungsrechtlich geschützten Rechtspflicht zur Unterhaltsgewähr und Versorgung, sondern auch in einer entsprechenden sittlich-moralischen Pflicht sieht. Bei der Rückkehr im Familienverband, bei der lediglich ein Familienmitglied sein eigenes Existenzminimum (notdürftig) sichern könnte, nicht aber das seiner Angehörigen, steht dieses vor einer Alternative. Der Rückkehrer kann entweder unter Verletzung seiner Familienobliegenheiten zunächst vollständig seine eigene Existenz (hinreichend) sichern und dafür auch die tatsächliche Existenzgefährdung oder eine konventionswidrige Situation der von ihm abhängigen Angehörigen in Kauf nehmen. Alternativ kann der Ausländer unter dem Eindruck der in der Existenz gefährdeten Familienmitglieder auf die hinreichende Sicherung seiner eigenen Existenz durch „Teilen“ mit Familienangehörigen auch dann verzichten, wenn dies zu einer konkret drohenden Verletzung von Leib, Leben oder der Freiheit der eigenen Person führt.
Art. 6 Grundgesetz (GG) und Art. 8 EMRK schützen jedenfalls normativ die – für die Rückkehrprognose naheliegende – Entscheidung eines Elternteils, auf die Erfüllung grundlegender familiärer Solidarpflichten auch dann nicht zugunsten der eigenen Existenzsicherung zu verzichten, wenn damit das eigene Existenzminimum unterschritten und für die eigene Person eine mit Art. 3 EMRK unvereinbare Lage herbeigeführt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45 /18 –, juris Rn. 27;
VG Cottbus, Urteil vom 19. November 2020 – 3 K 304/17.A –, juris Rn. 72). Diese Voraussetzungen liegen bei dem Kläger offensichtlich nicht vor.
Der Kläger verfügt mit Blick auf die bulgarische Staatsangehörigkeit seines Kindes und seiner Ehefrau nicht über eine in diesem Sinne berücksichtigungsfähige Familie, mit der er gemeinsam abgeschoben werden könnte. Dass von einer gemeinsamen Rückkehr nach Afghanistan auszugehen sei, trägt der Kläger auch nicht vor. Soweit er ein Abschiebungsverbot wegen seiner in Deutschland verbleibenden Familienmitglieder mit bulgarischer Staatsbürgerschaft geltend macht, kann hieraus insbesondere mit Blick auf die familiäre Bindung nur ein inlandsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60a Abs. 2 AufenthG folgen, das von der Ausländerbehörde, nicht aber in diesem Verfahren zu beachten ist (vgl. VG München, Beschluss vom 22. Mai 2020 – M 10 S 20.31295 –, juris Rn. 19; Urteil vom 10. April 2020 – M 6 K 19.33373 –, juris Rn. 15; VG Oldenburg, 5. Februar 2019 – 7 A 4566/18 –, juris Rn. 16 ff. – insbesondere in Bezug auf Art. 8 EMRK; Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht 13. Auflage 2020, Ziff. 60a.2.1.1.2.1). Dies gilt auch unter Berücksichtigung der gegenüber seinem bulgarischen Kind und seiner bulgarischen Ehefrau bestehenden Unterhaltspflichten (vgl. VG München, Urteil vom 10. April 2020 – M 6 K 19.33373 –, juris Rn. 16; VG Cottbus, Urteil vom 27. Oktober 2020 – 2 K 1387/17.A –, S. 37 d. Entscheidungsabdrucks; Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht 13. Auflage 2020, Ziff. 60a.2.1.1.2.1), zumal ohnehin solange nicht mit einer Abschiebung zu rechnen sein dürfte, soweit er seinen Unterhaltspflichten auch nachkommt (vgl. VG München, Urteil vom 10. April 2020 – M 6 K 19.33373 –, juris Rn. 16). Daher ist davon auszugehen, dass er bei Rückkehr nach Afghanistan ausschließlich seinen eigenen Lebensunterhalt zu erwirtschaften hat (vgl. VG Cottbus, Urteil vom 19. November 2020 – 3 K 304/17.A –, juris Rn. 73).
Der Kläger ist 3... Jahre alt und gesund. Er spricht mit Paschtu eine der afghanischen Landessprachen. Er ist auch mit den Lebensgewohnheiten in Afghanistan vertraut, weil er dort bis zu seinem 28. Lebensjahr gelebt, die Schule bis zur zehnten Klasse besucht und einige Zeit als Dolmetscher in dem Transportunternehmen seines Schwagers sowie – (nur) nach seinen Angaben in der Anhörung beim Bundesamt – als Koch gelernt und ebenfalls einige Zeit als solcher gearbeitet hat. Auch in Deutschland hat er weitere Arbeitserfahrung als Koch gesammelt. Somit ist er auch erwerbsfähig.
In der Person des Klägers liegen zudem besondere begünstigende Umstände vor, weil er in Afghanistan über ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres Netzwerk verfügt. Es ist nach seinen Angaben zwar nicht davon auszugehen ist, dass er eine finanzielle Unterstützung erfahren wird, dennoch hat er einen ersten Anlaufpunkt und ist nicht alleine. Nach Überzeugung des Einzelrichters wird insbesondere sein in Kabul, dem Ort der Abschiebung, lebender Bruder in der Lage sein, ihm über seine Kontakte, und womöglich auch die Kontakte seiner Kinder, den Zugang zu einer das Existenzminimum sichernden Arbeit zu verschaffen. Dafür ist es nicht von Belang, dass sein Bruder, wie der Kläger behauptet, arm und nicht in der Lage sei, für seine eigenen Kinder zu sorgen. Denn für die Vermittlung von Kontakten und des Zugangs zum örtlichen Arbeitsmarkt ist der Grad des Wohlstandes irrelevant. Maßgeblich ist, ob ein Netzwerk vorhanden ist, über das der in Kabul lebende Bruder nach Überzeugung des Einzelrichters schon zur Sicherung seines eigenen Lebensunterhalts verfügen wird. Auch wenn der Kläger derzeit nur sporadischen Kontakt zu seinem Bruder haben mag, so ist davon auszugehen, dass sich dies bei einer Rückkehr nach Afghanistan und konkret nach Kabul ändern würde und der Kläger Zugriff auf das Netzwerk seines Bruders erhielte. Ob darüber hinaus auch die in G... lebende Schwester und deren zum Teil erwachsenen Kinder dem Kläger ein weiteres relevantes Netzwerk vermitteln, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen.
In Anbetracht dieser Umstände ist zu erwarten, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, seine Existenz jedenfalls auf niedrigem Niveau sicherzustellen. Er hat in der mündlichen Verhandlung einen aufgeschlossenen und selbstbewussten Eindruck vermittelt. Daher wird er sich auch unter den widrigen Umständen in Afghanistan durchsetzen und Obdach sowie Arbeit finden können.
Aus dem Umstand, dass sich der Kläger mehrere Jahre in Deutschland aufgehalten hat, folgt nichts anderes. Zwar ist nicht auszuschließen, dass afghanische Staatsangehörige, die aus dem westlichen Ausland nach Afghanistan zurückkehren, zusätzlichen Sicherheitsrisiken ausgesetzt sind, weil sie von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen werden. Allerdings sind dem Auswärtigen Amt keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 16. Juli 2020, S. 24; ausführlich dazu Hessischer VGH, Urteil vom 27. September 2019 – 7 A 1923/14.A –, juris Rn. 130 ff.). Individuelle gefahrerhöhende Umstände, die im Fall des Klägers eine abweichende Bewertung rechtfertigen, sind nicht ersichtlich.
Ungeachtet dessen können Rückkehrer aus dem westlichen Ausland Unterstützungsmaßnahmen unterschiedlicher Programme in Anspruch nehmen. Sie umfassen u.a. Geldleistungen sowie die Unterstützung bei der Weiterreise, Wohnungssuche und Arbeitssuche. Auch psychologische Beratung kann in Anspruch genommen werden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 16. Juli 2020, S. 24; ausführlich dazu OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18. Juni 2019 – 13 A 3930/18.A –, juris Rn. 248 ff.). Von derartigen Unterstützungsmaßnahmen kann auch der Kläger profitieren. Anhaltspunkte dafür, dass Rückkehrhilfen infolge der Covid-19-Pandemie nicht (mehr) zur Verfügung stehen, bestehen nicht (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 19. Mai 2020 – A 8 K 9604/17 –, juris Rn. 45; Urteil vom 8. September 2020 – A 8 K 10988/17 –, juris Rn. 68). Auch das Auswärtige Amt geht in seinem aktuellen Lagebericht vom 16. Juli 2020 davon aus, dass UNHCR und IOM in der ersten Zeit (weiterhin) Unterstützung leisten (vgl. S. 24).
Der Kläger kann zudem sicher und legal nach Kabul reisen. Dort gibt es einen Flughafen, der mit internationalen und nationalen Passagierflügen bedient wird und an dem die Abschiebungen aus Deutschland enden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2. September 2019, S. 31 f.; BfA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 13. November 2019, S. 37) und der auch gegenwärtig wieder angeflogen wird (vgl. OCHA, Afghanistan: Strategic Situation Report: Covid-19, No. 83, 5. November 2020, S. 3).
Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen im Fall des Klägers hinsichtlich Afghanistans nicht vor.
Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die einen Ausländer im Zielstaat erwarten – insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage – kann Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen werden, wenn der Betroffene bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG), ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 – 1 B 25.18 –, juris Rn. 13; Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 –, juris Rn. 38). Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Die Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Der erforderliche hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Dies bedeutet nicht, dass im Fall der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. September 2011 – 10 C 23.10 –, juris Rn. 21 f.; Beschluss vom 14. November 2007 – 10 B 47.07 –, juris Rn. 3).
Unter Berücksichtigung obiger Grundsätze und der aktuellen Erkenntnismittel sind die Voraussetzungen aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Fall des Klägers nicht gegeben. Da der Kläger ersichtlich nicht erkrankt ist bzw. keine Vorerkrankungen aufweist, liegt bei ihm derzeit keine erhebliche konkrete Gefahr aufgrund der Covid-19-Pandemie vor. Im Übrigen wird auf die Ausführungen zu Art. 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK verwiesen. Insbesondere sind hinsichtlich allgemeiner Gefahren im Zielstaat die Anforderungen in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG – eine mit hoher Wahrscheinlichkeit drohende Extremgefahr – höher als jene in
§ 60 Abs. 5 AufenthG (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. August 2018 – 1 B 42.18 –, juris Rn. 13), so dass im Lichte des Nichtvorliegens eines Abschiebungsverbots nach Art. 60 Abs. 5 AufenthG erst recht die Voraussetzungen aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung hier nicht gegeben sind (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. Dezember 2018 – A 11 S 316/17 –, juris Rn. 453; Urteil vom 29. Oktober 2019 – A 11 S 1203/19 –, juris Rn. 104; OVG Lüneburg, Urteil vom 29. Januar 2019 – 9 LB 93/18 –, juris Rn. 189).
II. Die Abschiebungsandrohung begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
III. Der Kläger dringt allerdings mit der Anfechtung der Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes durch.
Nach § 11 Abs. 1 S. 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Das Verbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen, die Länge steht im Ermessen der Beklagten (§ 11 Abs. 2 S. 3 und Abs. 3 S. 1 AufenthG). Gemäß § 114 Satz 1 VwGO ist diese Ermessensentscheidung gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar. Als beachtliche Ermessensfehler kommen nur eine Ermessensüberschreitung oder ein Ermessensfehlgebrauch in Betracht, was auch den Fall miteinschließt, dass die Behörde das ihr eingeräumte Ermessen nicht erkannt hat (Ermessensausfall, Ermessensnichtgebrauch; u.a. BVerwG, Urteil vom 27. Mai 2010 – 5 C 8/09 – juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. Juli 2020 – OVG 3 B 2/20 –, juris Rn. 32).
Vorliegend hat die Beklagte von ihrem Ermessen nicht ausreichend Gebrauch gemacht. Notwendig bei dieser Einzelfallentscheidung ist eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse, den Ausländer eine gewisse Zeit vom Bundesgebiet fernzuhalten, und dem privaten Interesse des Ausländers an einer baldigen Wiedereinreise und einem erneuten Aufenthalt in Deutschland (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 6. April 2017 – 11 ZB 17.30317 –, juris Rn. 12). In die Ermessensentscheidung einzubeziehen sind insbesondere auch Integrationsleistungen des Ausländers, wie z.B. eine im Inland begonnene oder abgeschlossene Ausbildung und – schon im Hinblick darauf notwendigerweise vorhandene – gute Sprachkenntnisse, soweit der Ausländer die Sprachkenntnisse während des Aufenthalts in Deutschland erlangt hat; solchen Integrationsleistungen kommt maßgebliche Bedeutung für die Frage zu, wie stark die Bindungen des Ausländers an das Bundesgebiet sind. Dabei sind nicht ausschließlich solche Aspekte zu berücksichtigen, die eine baldige Wiedereinreise erforderlich machen. Für die Tragweite des Freiheitseingriffs können auch Integrationsleistungen relevant sein, die unterhalb dieser Schwelle liegen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. Juli 2020 – OVG 3 B 2/20 –, juris Rn. 37 und 41; zum letztgenannten Aspekt a.A. Bayerischer VGH, Beschluss vom 6. April 2017 – 11 ZB 17.30317 –, juris Rn. 12).
Die Beklagte ist mit der hier streitigen Ermessensentscheidung ihrer ständigen Verwaltungspraxis zu § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gefolgt, wonach in Fällen, in denen keine individuellen Gründe vorgebracht werden oder ersichtlich sind, generell aus Gründen der Gleichbehandlung eine Frist von 30 Monaten festgesetzt und damit das in § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG festgelegte Höchstmaß von fünf Jahren zur Hälfte ausgeschöpft wird. Damit wird sie den individuellen Umständen des Klägers nicht gerecht. Der Kläger arbeitet seit 2016 in einem Restaurant als Koch, spricht Deutsch und hat während seiner Zeit in Deutschland eine bulgarische Staatsbürgerin geheiratet und mit ihr ein gemeinsames Kind. Sie bewohnen eine gemeinsame Wohnung. Damit und nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck des erkennenden Einzelrichters hat der Kläger eine wesentlich festere Bindung zur Bundesrepublik aufgebaut als viele junge Männer der heranzuziehenden Vergleichsgruppe. Er wohnt mit seiner Familie in einer eigenen Wohnung, hat eine feste Arbeit und damit auch ein soziales Umfeld und sich eigenständig in Deutschland ein neues Leben aufgebaut. Die Beklagte ist gehalten, diese persönlichen Umstände in eine Abwägung einzustellen. Eine derartige Differenzierung ist mit Blick auf den Grund- und Menschenrechtsschutz der Betroffenen aus Art. 7 GRCh, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 2 Abs. 1 GG einerseits und das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG andererseits zwingend geboten (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. Juli 2020 – OVG 3 B 2/20 –, juris Rn. 49) und blieb vorliegend aus, womit sich die Befristung im entscheidungserheblichen Zeitpunkt ermessensfehlerhaft und rechtswidrig darstellt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).