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Türkei; Ausweisung; Btm-Handel; langjährige Freiheitsstrafe; seelische Erkrankung der (geschiedenen) Ehefrau; unstreitige Wiederaufnahme der Beziehung; Zumutbarkeit der Rückkehr oder Trennung; medizinische Behandlung in der Türkei; unterbliebene Befristung der Wirkungen der Ausweisung (Altfall); Berufung auf Schutz nach Art. 28 Abs. 3a Unionsbürgerrichtlinie


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 7. Senat Entscheidungsdatum 05.07.2013
Aktenzeichen OVG 7 N 49.13 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 55 AufenthG, Art 8 MRK, Art 28 Abs 3a EGRL 38/2004, § 124 Abs 2 Nr 1 VwGO, § 124 Abs 2 Nr 2 VwGO, § 124 Abs 2 Nr 3 VwGO, § 124 Abs 2 Nr 5 VwGO, § 124a Abs 4 S 4 VwGO, § 124a Abs 5 S 2 VwGO

Tenor

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 31. Januar 2011 wird abgelehnt.

Die Kosten des Zulassungsverfahrens trägt der Kläger.

Der Streitwert wird für die zweite Rechtsstufe auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

Der Kläger wendet sich gegen seine aus Gründen der Spezialprävention wegen Handels mit Kokain, derentwegen er durch Urteil des Landgerichts Berlin vom 6. Mai 2008 rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden ist, verfügte (Ermessens)Ausweisung im Bescheid des Beklagten vom 3. November 2009. Die hiergegen gerichtete Anfechtungsklage hat das Verwaltungsgericht Berlin durch Urteil vom 31. Januar 2011 als unbegründet abgewiesen.

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil hat auf der Grundlage der gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO allein maßgeblichen Darlegungen, soweit sie rechtzeitig geltend gemacht worden sind, keinen Erfolg.

1. Die innerhalb der Zulassungsbegründungsfrist geltend gemachten Ausführungen des Klägers im Schriftsatz vom 26. April 2011 zum Zulassungsgrund des Bestehens ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) rechtfertigen eine Zulassung der Berufung nicht.

Derartige Zweifel bestehen dann, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung der angegriffenen Entscheidung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. Juni 2000 - 1 BvR 830/00 -, NVwZ 2000, 1163 f.) und nicht nur die Begründung der angefochtenen Entscheidung oder nur einzelne Elemente dieser Begründung, sondern auch die Richtigkeit des Ergebnisses der Entscheidung derartigen Zweifeln unterliegt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. März 2004, Buchholz 310 § 124 Nr. 33). Davon ist hier nach dem Zulassungsvorbringen des Klägers im genannten Schriftsatz nicht auszugehen.

Hierin macht er zunächst geltend, die verfügte Ausweisung greife unverhältnismäßig in seine Rechte und die seiner schwer erkrankten türkischen „Ehefrau“ ein, zu der nach dem Urteil eine durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Beziehung bestehe. Ihre schutzwürdigen Belange seien im Bescheid und im angegriffenen Urteil nicht zutreffend gewichtet bzw. deren Bedeutung verkannt worden. Denn seine in Berlin lebende geschiedene Ehefrau sei aufgrund ihrer psychischen Erkrankung zwingend auf seine nur hier zu erbringende dauerhafte Lebenshilfe im Alltag angewiesen. Sie leide, wie sich aus bereits erstinstanzlich eingereichten ärztlichen Berichten vom 29. November 2007 und 28. August 2010 ergebe, unter schweren und wiederkehrenden Depressionen und Angstzuständen, die sich seit der Inhaftierung des Klägers und aufgrund seiner möglichen Abschiebung verschlimmert hätten. Infolgedessen sei sie suizidgefährdet. Den Kontakt zu ihm durch Besuchsaufenthalte aufrechtzuerhalten, sei sie nicht in der Lage. Ein Umzug in die Türkei sei ihr aufgrund der Schwere der Erkrankung nicht zumutbar, da sie in der Türkei keine vergleichbare medizinische Versorgung vorfinden würde und nicht krankenversichert sei.

Dieses Vorbringen ist nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Ergebnisrichtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils zu begründen. Es ist schon nicht substantiiert und nachvollziehbar dargelegt, warum die geltend gemachte psychische Erkrankung entgegen der Annahme im Urteil Besuchsaufenthalte in der Türkei beim Kläger ausschließen soll. Dies gilt gerade auch mit Blick darauf, dass die diagnostizierten Depressionen und Angstzustände maßgeblich mit der Trennung von ihm zusammenhängen bzw. hierdurch zumindest verschlimmert werden. Auch für die unsubstantiierte Behauptung, in der Türkei gebe es für die Behandlung dieser seelischen Krankheiten „keine vergleichbare Behandlung“, werden keinerlei konkrete Anhaltspunkte dargelegt und sind angesichts der guten Gesundheitsversorgung zumindest in den türkischen Großstädten und hinsichtlich derart allgemeiner Erkrankungen wie Depressionen und Angstzuständen auch nicht ersichtlich. Der Hinweis auf eine in der Türkei bisher fehlende Krankenversicherung verfängt schon deshalb nicht, weil der türkische Staat für türkische Staatsbürger, die über kein Einkommen verfügen, die komplette medizinische Behandlung übernimmt (vgl. nur , ).

Im Übrigen belegen die genannten ärztlichen Berichte aber auch nicht die Darstellung, dass die geschiedene Ehefrau „zwingend“ auf des Klägers dauerhafte Lebenshilfe angewiesen sei. Der Arztbrief vom 29. November 2007 spricht lediglich von einer in jüngster Zeit erfolgten Annäherung zum geschiedenen Ehemann bzw. davon, dass abzuwarten bleibe, inwieweit die erhoffte Annäherung an den Partner Früchte trage. Zwar führt der ärztliche Bericht vom 28. August 2010 abschließend aus, dass eine weitere Trennung durch die Abschiebung des Klägers bei ihr „wahrscheinlich“ zur Verschlechterung des psychischen Zustandes verbunden mit der Notwendigkeit stationärer Krankenhausaufenthalte zur Suizidprophylaxe führen könne. Das reicht jedoch nicht aus, ein zwingendes dauerhaftes Angewiesensein auf Lebenshilfe durch ihn zu belegen, zumal in dem Bericht weder fachärztliche oder medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten erörtert noch eine weitere alternative Unterstützung insbesondere durch den mit ihr zumindest seinerzeit zusammenlebenden Sohn erwähnt werden, auf die sie angesichts der langjährigen Haft des Klägers in der Vergangenheit ohnehin zurückgreifen musste.

Inwieweit die Berufung des Klägers im nach Ablauf der Zulassungsbegründungsfrist eingereichten Schriftsatz vom 23. Juni 2011 auf einen weiteren Arztbericht vom 16. Mai 2011 als Vertiefung bisherigen Vorbringens zu berücksichtigen ist, kann im Ergebnis dahinstehen. Denn es ist, wie oben ausgeführt, nicht nachvollziehbar dargelegt, warum seine geschiedene Ehefrau nicht mit ihm in die Türkei übersiedeln könnte oder zumindest Besuchsreisen zumutbar erscheinen.

Angesichts dessen und vor dem Hintergrund der im Urteil des Verwaltungsgerichts dargelegten, nicht fristgerecht angegriffenen spezialpräventiven Erwägungen ist nicht ersichtlich, dass der mit der Ausweisung des Klägers verbundene Eingriff in das Privat- und Familienleben, soweit trotz der im Bundesgebiet erfolgten Scheidung von letzterem überhaupt gesprochen werden kann, als unverhältnismäßig und damit nicht durch Art. 8 Abs. 2 EMRK gedeckt anzusehen ist.

Soweit der Kläger mit der Zulassungsbegründung ferner geltend macht, angesichts der dargelegten schweren Erkrankung der „Ehefrau“ habe die Ausweisung mit sofortiger Wirkung befristet werden müssen, vermag auch das ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung nicht zu begründen.

Denn im maßgeblichen Zeitpunkt des Ablaufs der Zulassungsbegründungsfrist (vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 12. November 2002 - 7 AV 4.02 -, juris Rz. 5) galt noch nicht die erst am 26. November 2011 in Kraft getretene Neuregelung des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in der Fassung des Art. 1 Nr. 9 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. November 2011 (BGBl. I S. 2258), wonach - vorbehaltlich der Ausnahmen in Satz 7 der Vorschrift - auch im Anfechtungsprozess über die Ausweisung ein uneingeschränkter Befristungsanspruch besteht und dort mittels eines - als minus enthaltenen - Verpflichtungsbegehrens auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung durchzusetzen bzw. nachzuholen ist (BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2012 - 1 C 19.11 -, juris Rz. 30 ff. m.w.N.). Vielmehr hing im Falle einer spezialpräventiven Ausweisung - wie vorliegend - die Frage, ob deren Wirkungen von Amts wegen zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit zu befristen waren, von den gesamten Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere dem Ausmaß der von dem Ausländer ausgehenden Gefahr, der Vorhersehbarkeit der künftigen Entwicklung dieser Gefahr und den schutzwürdigen Belangen des Ausländers und seiner Angehörigen (BVerwG, a.a.O., Rz. 33 m.w.N.). Die seitens des Klägers hier nur geltend gemachte schwere Erkrankung seiner Ehefrau gibt allein jedoch keine Veranlassung, eine Befristung der Ausweisung des Klägers - bzw. gar eine sofortige Befristung - bereits im Zeitpunkt des Ablaufs der Zulassungsbegründungsfrist für geboten zu erachten.

Ferner rügt der Kläger, das verwaltungsgerichtliche Urteil habe sich nicht damit auseinandergesetzt, dass angesichts der schweren Erkrankung seiner „Ehefrau“ seiner Ausweisung der Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Unionsbürgerrichtlinie (RiL 2004/38/EG) entgegenstehe. Das ist schon unzutreffend, da im Urteil zum einen ausgeführt wird, diese Regelung gelte schon deshalb nicht, weil der Kläger als türkischer Staatsangehöriger kein Unionsbürger sei, zum anderen seien die hiernach bestehenden Voraussetzungen für seine Ausweisung erfüllt. Im Übrigen hat der EuGH inzwischen die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, dass diese Regelung nicht auf türkische Staatsangehörige anwendbar sei, um Bedeutung und Tragweite des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 zu bestimmen, bestätigt (Urteil vom 8. Dezember 2011 – C-371/08 Ziebell/Örnek, juris Rz. 74).

Das Zulassungsvorbringen des Klägers im Schriftsatz vom 14. Januar 2013, hinsichtlich dessen eine Zuordnung zu den Zulassungsgründen nach § 124 Abs. 2 VwGO nicht erfolgt ist, so dass es nur der Prüfung des Zulassungsgrundes des Bestehens ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils bedarf, betrifft zeitlich nach Ablauf der Zulassungsbegründungsfrist eingetretene Veränderungen (Nachholung des Hauptschulabschlusses, Lehrgangsteilnahme, Übernahme in den offenen Vollzug und Aufnahme einer Erwerbstätigkeit), die im hiesigen Verfahren nicht berücksichtigungsfähig sind (§ 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO).

2. Der weiterhin geltend gemachte Zulassungsgrund der besonderen tatsächli-chen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) ist ebenfalls nicht begründet dargelegt.

Eine Rechtssache weist jedenfalls dann keine besonderen Schwierigkeiten i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf, wenn die Angriffe des Rechtsmittelführers gegen die Würdigung, die die erstinstanzliche Entscheidung tragen, keinen begründeten Anlass zu Zweifeln an ihrer Richtigkeit geben bzw. sich ohne weiteres im Zulassungsverfahren klären lassen, so dass es der Durchführung eines Rechts-mittelverfahrens nicht bedarf.

Da der Kläger insoweit nur auf sein Vorbringen zur Begründung des Vorliegens ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts verweist und solche nach den obigen Ausführungen nicht bestehen, können damit besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache nicht erfolgreich dargelegt werden.

3. Der Kläger hat auch nicht dargetan, dass der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zukäme.

Dieser Zulassungsgrund liegt vor, wenn der Rechtsstreit eine entscheidungser-hebliche, bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechts- oder Tatfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem erstrebten Rechtsmittelverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts einer obergerichtlichen Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf (vgl. zum Revisionsrecht: BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261/97 -, NJW 1997, 3328). Demgemäß fordert die Darlegung dieses Zulassungsgrundes prinzipiell die Formulierung einer solchen klärungsfähigen und auch -bedürftigen Rechts- oder Tatfrage von fallübergreifender Bedeutung (vgl. OVG Berlin, Beschluss vom 4. März 2005 - OVG 1 N 72.05 -). Daran fehlt es vorliegend.

Denn die vom Kläger aufgeworfene Frage, ob es ermessensfehlerhaft ist, das zwischen dem ausgewiesenen Ausländer und seiner geschiedenen, schwer erkrankten Ehefrau bestehende schutzwürdige Familienleben als nachrangig einzustufen, wenn ihre medizinische Versorgung im Rückkehrland nicht gewährleistet sei, geht schon von einer nicht substantiiert dargelegten - und im Übrigen nach den obigen Ausführungen auch nicht bestehenden - Prämisse aus, dass die medizinische Versorgung bei Rückkehr in die Türkei nicht gesichert sei. Zudem ist diese Frage einer fallübergreifenden Klärung nicht zugänglich, da ihre Beantwortung von den jeweiligen konkreten Umständen des Einzelfalles abhängt, insbesondere auch den vom ausgewiesenen Ausländer ausgehenden Gefahren, einer zumutbaren Beschränkung der geschiedenen Ehefrau auf Besuchsreisen und der Möglichkeit und Zumutbarkeit der Aufrechterhaltung der Kontakte auf anderen Wegen.

4. Soweit der Kläger schließlich einen Verfahrensmangel gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO mit der Begründung geltend macht, die Ablehnung der Beweisanträge verletze ihn in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör, ist das schon deshalb verfehlt, weil dies voraussetzen würde, dass die Entscheidung auf diesem Mangel beruhen kann. Das ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Denn die in der mündlichen Verhandlung gestellten und beschiedenen Beweisanträge beziehen sich durchgängig auf die Frage, ob die Annahme der Zugehörigkeit des Klägers zum Umfeld der „organisierten Kriminalität“ („OK“) gerechtfertigt ist. Darauf ist die verwaltungsgerichtliche Entscheidung jedoch ersichtlich nicht gestützt, wie die Ausführungen auf Seite 7 des Urteilsabdrucks belegen (dortiger Absatz 2).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).