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Entscheidung 12 NBs 9/23


Metadaten

Gericht LG Neuruppin 2. Große Strafkammer Entscheidungsdatum 28.06.2023
Aktenzeichen 12 NBs 9/23 ECLI ECLI:DE:LGNEURU:2023:0628.12NBS9.23.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Auf die Berufung des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Prenzlau vom 28.02.2023 – Az. 23 Ls 374 Js 31842/18 jug. (2) – aufgehoben.

Das im Hinblick auf die mit Urteil des Amtsgerichts Prenzlau vom 26.11.2020 – Az. 23 Ls 374 Js 31842/18 (11/20) – vorbehaltene Verhängung einer Jugendstrafe durchgeführte Nachverfahren wird eingestellt.

Die Kosten des Nachverfahrens einschließlich des Berufungsverfahrens sowie die dem Angeklagten darin jeweils entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse zur Last.

Angewendete Vorschriften:

§ 2 Abs. 2 JGG i.V.m. § 260 Abs. 3 StPO i.V.m. einer entsprechenden Anwendung der §§ 203, 207 Abs. 1 StPO

Gründe

I. Gang des Verfahrens:

Der Angeklagte wurde in dieser Sache mit Urteil des Amtsgerichts Prenzlau – Jugendschöffengericht – vom 26.11.2020 – Az. 23 Ls 374 Js 31842/18 (11/20) – wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, wegen Sachbeschädigung, wegen Diebstahls und wegen Unterschlagung schuldig gesprochen. Unter Einbeziehung des vorgängigen Urteils des Amtsgerichts Prenzlau – Jugendrichter – vom 30.11.2018 (Az. 20 Ds 50/18) wurde dabei die Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Zugleich wurde eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Nachdem der Angeklagte gegen dieses Urteil zunächst unter dem 03.12.2020 form- und fristgerecht sowie von vornherein beschränkt auf den Rechtsfolgenausspruch Berufung eingelegt hatte, erwuchs dieses Urteil am 26.04.2021 – nach erfolgter Rechtsmittelrücknahme – in Rechtskraft.

Mit Verfügung vom 13.12.2022 hat der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts beim Amtsgericht Prenzlau einen – ausweislich eines entsprechenden Vermerks mit dem Sekretariat des Verteidigers abgestimmten – Termin zur Hauptverhandlung für den 28.02.2023 anberaumt und den Angeklagten und seinen Verteidiger hierzu jeweils förmlich geladen, ohne dass der genaue Inhalt der entsprechenden Ladungsschreiben aktenkundig geworden ist.

Im Rahmen der in Anwesenheit des Angeklagten, seines Verteidigers, einer Vertreterin der Jugendgerichtshilfe sowie des Bewährungshelfers des Angeklagten durchgeführten Hauptverhandlung ist sodann – nach der Vernehmung des Angeklagten zu seinen Personalien und einer zehnminütigen Unterbrechung, deren Anlass nicht protokolliert worden ist – zunächst das Urteil vom 26.11.2020 nebst dem zugehörigen Bewährungsbeschluss verlesen worden. Anschließend sind diverse zu dem in dieser Sache beim Amtsgericht geführten Bewährungsheft gelangte Schriftstücke – insbesondere Berichte des Bewährungshelfers sowie zwischenzeitlich gegen den Angeklagten erhobene Anklageschriften – verlesen worden, gefolgt von einer zeugenschaftlichen Einvernahme des Bewährungshelfers, einem Bericht der Jugendgerichtshilfe, einer Verlesung eines Bundeszentralregisterauszugs sowie einigen Äußerungen des Angeklagten zu seiner aktuellen persönlichen und wirtschaftlichen Situation. Nach den Schlussanträgen aller Verfahrensbeteiligten und der Gewährung des letzten Wortes an den Angeklagten hat das Jugendschöffengericht schließlich ein Urteil gefällt, mit welchem – unter im Übrigen deklaratorischer Wiederholung des Tenors aus dem Urteil vom 26.11.2020 zu Schuldspruch, Einbeziehungsentscheidung und Adhäsionsausspruch – gegen den Angeklagten nunmehr „im Nachverfahren“ eine Jugendstrafe von elf Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verhängt worden ist.

Der Angeklagte hat gegen dieses Urteil mit Verteidigerschriftsatz vom 07.03.2023 form- und fristgerecht Berufung eingelegt. Die Berufung ist begründet und führt aufgrund des Vorliegens eines anfänglichen und dauerhaften Verfahrenshindernisses zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur Einstellung des gegen den Angeklagten duchgeführten Nachverfahrens.

II. Rechtliche Würdigung:

Das Amtsgericht hat, indem es anknüpfend an ein im hiesigen Verfahren rechtskräftig ergangenes Urteil, mit welchem gemäß § 27 JGG die Verhängung einer Jugendstrafe gegen den Angeklagten zur Bewährung ausgesetzt worden war, nunmehr mit dem angefochtenen Urteil eine Jugendstrafe gegen den Angeklagten verhängt hat, und wie schließlich auch aus dem Tenor des angefochtenen Urteils ersichtlich ein Nachverfahren im Sinne der §§ 30, 62 JGG durchgeführt. Die Kammer hatte das angefochtene Urteil durch das Berufungsurteil aufzuheben und das Nachverfahren gemäß § 2 Abs. 2 JGG i.V.m. § 260 Abs. 3 StPO einzustellen, da der Durchführung dieses Nachverfahrens bereits vor dem Amtsgerichts ein Verfahrenshindernis in Gestalt des Fehlens eines sogenannten „Weiterführungsbeschlusses“ entgegengestanden hat, wobei auch eine Nachholung eines solchen Beschlusses – jedenfalls im Berufungsverfahren – ausschied.

Im Schrifttum wird hierzu – soweit ersichtlich einhellig – die Ansicht vertreten, dass es zur Durchführung des Nachverfahrens nach den §§ 30, 62 JGG eines gemäß § 2 Abs. 2 JGG i.V.m. einer entsprechendne Anwendung der §§ 203, 207 Abs. 1 StPO zu erlassenden „Weiterführungsbeschlusses“ bedarf, durch welchen das Nachverfahren förmlich eingeleitet und der Angeklagte darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass ein solches gegen ihn durchgeführt wird und aufgrund welcher Umstände, in welchen das Gericht einer genaueren Prüfung zu unterziehende Anhaltspunkte für nunmehr zu Tage getretene schädliche Neigungen des Angeklagten erblickt, dies geschieht (Diemer/Schatz/Sonnen- JGG/Schatz, 8. Auflage 2020, § 62 Rn. 10; Brunner/Dölling-JGG/Brunner/Dölling, 14. Auflage 2023, § 62 Rn. 3; Eisenberg/Kölbel-JGG/Kölbel, 24. Auflage 2023, § 62 Rn. 7; Ostendorf-JGG/Ostendorf/Drenkhahn, § 62 Rn. 5; Meier/Rössner/Trüg/Wulf- JGG/Meier, 2. Auflage 2014, § 62 Rn. 4; BeckOK-JGG/Nehring, 29. Edition, Stand: 01.05.2023, § 30 Rn. 17; BeckOK-JGG/Kilian, 29. Edition, Stand: 01.05.2023, § 62 Rn. 17 - 19). Ein solcher „Weiterführungsbeschluss“ stellt sich hiernach als ein auf das Nachverfahren bezogenes Pendant zum Eröffnungsbeschluss im regulären Erkenntnisverfahren dar. Veröffentlichte Judikate zur Frage der Erforderlichkeit eines solchen Beschlusses sind nicht auszumachen.

Die Kammer schließt sich dieser im Schrifttum entwickelten Ansicht an, dass es zur Durchführung eines Nachverfahrens im Sinne der §§ 30, 62 JGG eines derartigen „Weiterführungsbeschlusses“ bedarf, und zieht hieraus zugleich auch den Schluss, dass jedenfalls das gänzliche Fehlen eines solchen Beschlusses – ebenso wie das gänzliche Fehlen eines Eröffnungsbeschlusses im regulären Erkenntnisverfahren – ein anfängliches und dauerhaftes Verfahrenshindernis darstellt, dessen Beseitigung jedenfalls im Berufungsverfahren nicht mehr in Betracht kommt.

Zwar hat sich der Gesetzgeber in § 62 Abs. 1 Satz 1 JGG darauf beschränkt, für das Nachverfahren in prozessualer Hinsicht eine Entscheidung aufgrund einer Hauptverhandlung durch Urteil anzuordnen, weshalb einerseits eine – unmittelbare oder zumindest entsprechende – Anwendung der das Hauptverfahren einschließlich der die Hauptverhandlung regelnden Normen der StPO zweifellos geboten sein dürfte, andererseits aber eine entsprechende Anwendung der gesetzlichen Vorgaben für das Zwischenverfahren auf den ersten Blick nicht auf der Hand liegen mag. Gegen die formal anmutende Anforderung eines „Weiterführungsbeschlusses“ ließe sich zudem einwenden, dass in allen anderen in der StPO bzw. im JGG geregelten Konstellationen einer „Bewährungsüberwachung“ ohnehin nur in einem schriftlichen Verfahren im Beschlusswege entschieden werde.

Gerade weil jedoch im Nachverfahren nach den §§ 30, 62 JGG nicht nur über die Vollstreckung einer bereits rechtskräftig verhängten Jugendstrafe, sondern über deren Verhängung als solche einschließlich ihrer Höhe zu entscheiden ist, und der Gesetzgeber ersichtlich gerade deshalb eine Entscheidung aufgrund einer Hauptverhandlung durch Urteil zwingend vorgeschrieben hat, erachtet die Kammer im Nachverfahren den vor der erstinstanzlichen Hauptverhandlung stehenden Erlass eines Beschlusses, durch den – ganz ähnlich wie durch einen Eröffnungsbeschluss, der zugleich den Abschluss des Zwischenverfahrens und den Beginn des Hauptverfahrens im regulären Erkenntnisverfahren darstellt – in für jeden Verfahrensbeteiligten unmissverständlicher Weise das Nachverfahren eingeleitet, mithin also im Mindesten das „Ob“ der Durchführung des Nachverfahrens positiv festgestellt wird, um insbesondere den Angeklagten über den Gegenstand der anstehenden Hauptverhandlung als solchen und die damit einhergehende Notwendigkeit, seine Verteidigung überhaupt entsprechend vorzubereiten, zu informieren. Ein ohne eine solche nach außen kundgetane richterliche Einleitungsentscheidung durchgeführtes Nachverfahren genügt daher in einer Weise, die jedenfalls einer Heilung in einer höheren Instanz nicht mehr zugänglich ist, nicht den vom Gesetzgeber in § 62 Abs. 1 Satz 1 JGG zumindest bereits angedeuteten und sich zudem jedenfalls aus Art. 20 Abs. 3, 103 Abs. 1 GG sowie Art. 6 EMRK verfassungs- und konventionsrechtlich ergebenden rechtsstaatlichen Mindestanforderungen.

Indem der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts nun vorliegend „kommentarlos“ einen Hauptverhandlungstermin anberaumt hat, ohne dessen Gegenstand – soweit erkennbar – irgendwie zu benennen, fehlte dem Angeklagten zu Beginn der Hauptverhandlung jede Grundlage für sein Verteidigungsverhalten, wie aber auch der Staatsanwaltschaft eine Grundlage für ihr Prozessverhalten fehlte. Ob eine ausdrückliche Benennung eines Nachverfahrens als Gegenstand der anberaumten Hauptverhandlung in der Terminierungsverfügung und hieran anknüpfend in den Terminsladungen bzw. ob eine entsprechende ausdrückliche Mitteilung des Vorsitzenden zu Beginn der Hauptverhandlung einem „Weiterführungsbeschluss“ im Sinne dieser rechtsstaatlichen Mindestanforderungen entsprochen hätte oder diesen hätte ersetzen können, konnte dabei vorliegend in Ermangelung von Anhaltspunkten für derartige Surrogathandlungen dahingestellt bleiben.

Nachdem das hiernach zu konstatierende Verfahrenshindernis des gänzlichen Fehlens eines das Nachverfahren im Sinne der §§ 30, 62 JGG einleitenden „Weiterführungsbeschlusses“ auch bereits in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung bestand und daher bereits vom Amtsgericht bei seiner Urteilsfällung zu berücksichtigen gewesen wäre, kam auch keine bloße Einstellung des Nachverfahrens im Beschlusswege gemäß § 2 Abs. 2 JGG i.V.m. § 206a Abs. 1 StPO in Betracht. Vielmehr bedurfte es der Aufhebung des auf dem Vorliegen des Verfahrenshindernisses beruhenden amtsgerichtlichen Urteil sowie zugleich der gebotenen Einstellungsentscheidung gemäß § 2 Abs. 2 JGG i.V.m. § 260 Abs. 3 StPO durch Berufungsurteil (Meyer-Goßner, in NStZ 2004, S. 353 (354)).

Mangels im Nachverfahren durch die Kammer getroffener Sachentscheidung steht einer erneuten Einleitung des Nachverfahrens durch das Amtsgericht unter Erlass eines entsprechenden „Weiterführungsbeschlusses“ jedoch grundsätzlich nichts entgegen.

III. Kostenentscheidung:

Die Kostenentscheidung beruht auf § 2 Abs. 2 JGG i.V.m. einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 Var. 3 StPO.