Gericht | VG Cottbus 1. Kammer | Entscheidungsdatum | 20.02.2024 | |
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Aktenzeichen | VG 1 L 357/23 | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2024:0220.1L357.23.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 36 Abs. 4 S. 1 und 3 BbgSchulG, § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO |
1. Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
I. Das Gericht hat das Rubrum dahingehend berichtigt, dass nicht das Land Brandenburg, sondern das S_____, das den verfahrensgegenständlichen Ablehnungsbescheid vom 05. September 2023 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 24. November 2023 erlassen hat, entsprechend § 78 Abs. 1 Nr. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) in Verbindung mit § 8 Abs. 1 und 2 Satz 1 des Brandenburgischen Verwaltungsgerichtsgesetzes (BbgVwGG) richtiger Antragsgegner ist (vgl. zur entsprechenden Anwendung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren: Kopp/ Schenke, VwGO, 28. Auflage 2022, § 78 Rn. 10 m. w. N.).
II. Der sinngemäße Antrag der Antragstellerin,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihren minderjährigen Sohn R_____ vorläufig bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens – VG 1 K 1517/23 – von der Pflicht zum Besuch der Berufsschule im laufenden Schuljahr 2023/2024 zu befreien,
ist zulässig, aber unbegründet.
1. Der Antrag ist nach § 123 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) als einstweilige Anordnung in Form der Regelungsanordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO statthaft. Das Begehren der Antragstellerin, §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO, ist nicht auf die Suspendierung eines belastenden Verwaltungsakts, sondern auf die Erweiterung ihres Rechtskreises, nämlich auf die (vorläufige) Befreiung ihres minderjährigen Sohnes R_____ (nachfolgend: R_____) von der Pflicht zum Besuch der Berufsschule, § 36 Abs. 3 Satz 1 bis 3 und § 39 des Gesetzes über die Schulen im Land Brandenburg (Brandenburgisches Schulgesetz – BbgSchulG), gerichtet. Dieses Begehren ist in der Hauptsache mit der Verpflichtungsklage, § 42 Abs. 1, 1. Alt. VwGO, zu verfolgen. Gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 und 3 BbgSchulG kann das staatliche Schulamt im Rahmen der Berufsschulpflicht eine Schülerin oder einen Schüler auf Antrag der Eltern von der Pflicht zum Schulbesuch befreien, wenn ein wichtiger Grund dies rechtfertigt und eine entsprechende gleichwertige Förderung anderweitig gewährleistet ist. Über die begehrte Befreiung entscheidet das staatliche Schulamt folglich durch Erlass eines Verwaltungsakts.
Dem Gebot effektiven Rechtsschutzes, Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG), entspricht es im einstweiligen Anordnungsverfahren zudem, den wörtlich gestellten Antrag, den Antragsgegner „zu verpflichten, R_____(…) antragsgemäß unter Aufhebung [seines] (…) Ablehnungsbescheides vom 05.09.2023 (…) in der Fassung des Widerspruchsbescheides (…) von der Schulbesuchspflicht bezogen auf das Schuljahr 2023/2024 zu befreien“, dahingehend auszulegen, dass die Antragstellerin vorliegend (nur) eine vorläufige Befreiung ihres Sohnes von der Pflicht zum Besuch der Berufsschule bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens verfolgt. Der Anspruch auf (endgültige) Befreiung von der Pflicht zum Besuch der Berufsschule im laufenden Schuljahr 2023/2024 bleibt dagegen der Entscheidung im Hauptsacheverfahren – VG 1 K 1517/23 – vorbehalten.
Der Antragstellerin mangelt es vorliegend auch nicht, wie vom Antragsgegner mit der Antragserwiderung erstmals eingewandt, an der erforderlichen Antragsbefugnis. Das Elternrecht aus Art. 6 des Grundgesetzes (GG) steht ungeachtet seines individualrechtlichen Charakters beiden Elternteilen in unteilbarer Verantwortung zur gemeinsamen Ausübung zu. Nach § 1626 Abs. 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) haben die Eltern die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge). Die elterliche Sorge umfasst die Sorge für die Person (Personensorge) und das Vermögen des Kindes (Vermögenssorge) sowie seine Vertretung, § 1626 Abs. 1 Satz 2, § 1629 Abs. 1 Satz 1 BGB. Nach § 1627 Satz 1 BGB haben die Eltern die elterliche Sorge in eigener Verantwortung und in gegenseitigem Einvernehmen zum Wohl des Kindes auszuüben; sie vertreten das Kind gemeinschaftlich, § 1629 Abs. 1 Satz 2, 1. Hs. BGB. Die damit im Regelfall gemeinsame elterliche Sorge erfordert eine einvernehmliche Ausübung der elterlichen Befugnisse im Verwaltungsverfahren aber auch bei etwaigen gerichtlichen oder außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren (Beschluss der Kammer vom 11. August 2023 – VG 1 L 177/23 –, juris Rn. 5 unter Verweis auf OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. August 2011 – OVG 3 S 93.11 –, juris Rn. 3; zuletzt: OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10. September 2015 – OVG 3 A 5.14 –, juris Rn. 68 [Normenkontrolle gegen eine Schülerbeförderungssatzung]; VG Aachen, Beschluss vom 17. August 2006 – 9 L 429/06 –, juris Rn. 4).
Diesem Erfordernis wurde in dem vorliegenden Eilverfahren entsprochen, nachdem der von der Antragstellerin geschiedene Vater von R_____, Herr H_____, seine „Abtretungserklärung“ vom 01. Dezember 2022 am 10. Januar 2024 hinsichtlich des gemeinsamen Sorgerechts ergänzt und damit sowohl den Antrag der Antragstellerin auf Befreiung des gemeinsamen Sohnes von der Schulbesuchspflicht vom 03. September 2023 als auch die Führung des vorliegenden Eil- sowie des Hauptsacheverfahrens (VG 1 K 1517/23) nachträglich genehmigt hat (vgl. zu dieser Möglichkeit: Beschluss der Kammer vom 16. August 2022 – VG 1 L 211/22 –; S. 3 BA [n. v.]).
Durchgreifende Zweifel an der Wirksamkeit dieser Erklärung bestehen nicht, auch wenn diese lediglich als einfache E-Mail vorgelegt worden ist. Zwingende Formerfordernisse sind insoweit nicht vorgesehen, der Vater von R_____ erläutert die fehlende Möglichkeit einer Unterzeichnung und die Erklärung nimmt ausdrücklich Bezug auf die „Abtretungserklärung“ vom 01. Dezember 2022, die zumindest die Kopie der handschriftlichen Unterschrift des Vaters von R_____aufweist und die der Antragsgegner im Übrigen im Verwaltungsverfahren bis zu dessen Abschluss mit Erlass des Widerspruchsbescheides vom 24. November 2023 selbst noch als ausreichend angesehen hatte, um die Antragsbefugnis der Antragstellerin anzunehmen. So führt der Antragsgegner im Widerspruchsbescheid (Seite 2) ausdrücklich aus, der Vater von R_____habe die Antragstellerin mit der Erklärung vom 01. Dezember 2022 bevollmächtigt, „ihn in allen Angelegenheiten der elterlichen Sorge für R_____zu vertreten.“ Diese Auslegung entspricht freilich nicht dem Wortlaut der „Abtretungserklärung“ vom 01. Dezember 2022, weshalb zumindest eine entsprechende Ergänzung derselben – wie zwischenzeitlich erfolgt – erforderlich war. Im Übrigen hat die Antragstellerin rechtzeitig binnen der Monatsfrist des § 74 Abs. 1 VwGO – die Zustellung des Widerspruchsbescheides erfolgte am 29. November 2023 – am 22. Dezember 2023 (Hauptsache-)Klage erhoben, sodass auch insoweit keine Bedenken gegen eine nachträgliche Genehmigung des durch die Antragstellerin bzw. Klägerin angestrengten Eil- bzw. Klageverfahrens bestehen.
2. Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung liegen jedoch nicht vor.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn die Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Eine einstweilige Anordnung kommt danach nur in Betracht, wenn der Rechtsschutzsuchende die Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung durch das Gericht (den Anordnungsgrund) und einen materiellen Anspruch auf Erlass der begehrten Regelung (den Anordnungsanspruch) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 und § 294 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO).
Richtet sich das Antragsbegehren auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, was mit der sinngemäß beantragten Befreiung von der Schulbesuchspflicht im bereits laufenden Schuljahr 2023/2024 zumindest teilweise der Fall ist, gelten gesteigerte Anforderungen. Denn eine einstweilige Anordnung hat sich entsprechend dem Sicherungszweck des Anordnungsverfahrens im Grundsatz auf die Regelung eines vorläufigen Zustandes zu beschränken, die der Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren im Hauptsacheverfahren nicht vorgreifen darf. Eine Vorwegnahme der Hauptsache ist im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung deshalb nur ausnahmsweise zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes zulässig. Dies setzt voraus, dass anderenfalls schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile drohten, die durch die Hauptsacheentscheidung nicht mehr beseitigt werden könnten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 1988 – 2 BvR 745/88 –, juris Rn. 17; BVerwG, Beschluss vom 21. März 1997 – 11 VR 3.97 –, juris Rn. 13; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. Juli 2006 – OVG 4 S 89.05 –, juris Rn. 2) und dass der Antragsteller mit seinem Begehren im Hauptsacheverfahren erkennbar erfolgreich sein würde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. August 1999 – 2 VR 1.99 –, juris Rn. 24; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11. Mai 2007 – OVG 3 S 27.07 –, juris Rn. 3).
a) Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.
Entsprechend den soeben dargelegten Voraussetzungen ist vom Bestehen eines Anordnungsanspruchs vorliegend nur dann auszugehen, wenn das Gericht im Rahmen einer im Eilverfahren gebotenen und allein möglichen summarischen Prüfung zu der Auffassung gelangt, dass die Antragstellerin in der Hauptsache mit hoher Wahrscheinlichkeit obsiegen wird. Das ist vorliegend nicht der Fall.
Gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 BbgSchulG kann das staatliche Schulamt im Rahmen der Vollzeitschulpflicht eine Schülerin oder einen Schüler auf Antrag der Eltern von der Pflicht zum Schulbesuch befreien, wenn ein wichtiger Grund dies rechtfertigt und eine entsprechende gleichwertige Förderung anderweitig gewährleistet ist. Dies gilt auch im Rahmen der Berufsschulpflicht, wenn dies der Förderung der beruflichen Entwicklung dient, § 36 Abs. 4 Satz 3 BbgSchulG. Das Kriterium der „Förderung der beruflichen Entwicklung“ konkretisiert den ermessensleitenden Grundsatz der möglichst gleichwertigen Förderung hinsichtlich des Einzelfalls (LT-Drs. 3/2371, Seite 54).
Der zum Entscheidungszeitpunkt über den Eilantrag 17-jährige Sohn der Antragstellerin unterliegt der allgemeinen Schulpflicht im Land Brandenburg und ist daher zum Besuch der Berufsschule verpflichtet. Die allgemeine Schulpflicht, § 36 Abs. 1 BbgSchulG, umfasst die Pflicht zum Besuch des Bildungsgangs der Grundschule und eines Bildungsgangs der Sekundarstufe I (Vollzeitschulpflicht) sowie eines Bildungsgangs gemäß § 15 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 a., b. und d. BbgSchulG (Berufsschulpflicht), § 36 Abs. 3 Satz 1 BbgSchulG. Nach Satz 2 kann die Berufsschulpflicht auch in Bildungsgängen gemäß § 15 Absatz 3 Satz 1 Nr. 3 c., e. und f. erfüllt werden. Für Jugendliche ohne Berufsausbildungsverhältnis, zu denen auch R_____zählt, dauert die Berufsschulpflicht bis zum Ablauf des Schuljahres, in dem sie das 18. Lebensjahr vollenden, § 39 Abs. 3 Satz 1 BbgSchulG.
Zur Auslegung des Befreiungstatbestands führt das OVG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 15. Juni 2021 – OVG 3 S 112/20 –, S. 2 bis 4 BA [n. v.]) aus:
„Bei der Auslegung des § 36 Abs. 4 BbgSchulG muss zunächst berücksichtigt werden, dass der Gesetzgeber die allgemeine Schulpflicht nicht nur einfachgesetzlich in §§ 36 ff. BbgSchulG als einen für alle schulpflichtigen Kinder verbindlichen Regelfall ausgestaltet hat, der die schulische Erziehung und Bildung jedes jungen Menschen gewährleistet (§ 36 Abs. 1 Satz 1 BbgSchulG). Vielmehr ist die Schulpflicht auch verfassungsrechtlich in Art. 30 Abs. 1 der Verfassung des Landes Brandenburg (VerfBbg) vorgegeben und dem Staat kommt sowohl bundes- als auch landesverfassungsrechtlich gemäß Art. 7 Abs. 1 GG, Art. 30 Abs. 2 Satz 1 VerfBbg ein Bildungs- und Erziehungsauftrag gegenüber allen schulpflichtigen Kindern zu.
Die allgemeine Schulpflicht dient als geeignetes und erforderliches Instrument dem legitimen Ziel, den staatlichen Erziehungsauftrag durchzusetzen. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist anerkannt, dass dieser Auftrag nicht nur die Vermittlung von Wissen und die Erziehung zu einer selbstverantwortlichen Persönlichkeit zum Gegenstand hat, sondern sich auch auf eine Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger richtet, die gleichberechtigt und verantwortungsbewusst an den demokratischen Prozessen in einer pluralistischen Gesellschaft teilhaben. Soziale Kompetenz im Umgang auch mit Andersdenkenden, gelebte Toleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung einer von der Mehrheit abweichenden Überzeugung können effektiver eingeübt werden, wenn Kontakte mit der Gesellschaft und den in ihr vertretenen unterschiedlichen Auffassungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern Teil einer mit dem regelmäßigen Schulbesuch verbundenen Alltagserfahrung sind (so BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 2006 – 2 BvR 1693/04 - juris Rn. 16; zu den Zielen und Grundsätzen der Erziehung und Bildung vgl. ferner § 4 BbgSchulG). Insoweit tritt der in Art. 7 Abs. 1 GG, Art. 30 Abs. 2 Satz 1 VerfBbg normierte staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag gleichrangig neben das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 27 Abs. 2 VerfBbg. Er ist dem Elternrecht nicht generell untergeordnet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. April 2003 – 1 BvR 436/03 - juris Rn. 6; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3. November 2020 – OVG 3 S 90/20 - juris Rn. 13), sondern das elterliche Erziehungsrecht wird vielmehr durch die Vorgabe einer allgemeinen Schulpflicht und den damit verbundenen sozialen wie kulturellen Integrationsauftrag der öffentlichen Schule in zulässiger Weise beschränkt (vgl. dazu Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band VII, § 156 Rn. 88 m.w.N.).
Gemessen daran ist an die als Ausnahmevorschrift ausgestaltete (vollständige) Befreiung von der verfassungsrechtlich geforderten allgemeinen Schulpflicht ein strenger Maßstab anzulegen. Ein wichtiger Grund, der ausnahmsweise eine Befreiung von der Pflicht zum Schulbesuch im Sinne von § 36 Abs. 4 BbgSchulG rechtfertigen kann, setzt voraus, dass der Schulbesuch in jeder Hinsicht unzumutbar ist.“
Die Auffassung, dem sei nicht zu folgen, weil die Einschränkung, an das Vorliegen eines wichtigen Grundes als weitere – ungeschriebene – Voraussetzung eine Unzumutbarkeit des Schulbesuchs in jeder Hinsicht zu fordern, weder dem Gesetzestext noch der Gesetzesbegründung entnommen werden könne (so VG Frankfurt (Oder), Beschluss vom 26. Januar 2022 – VG 1 L 302/21 –, S. 7 BA [n. v.]) verkennt, dass nach Sinn und Zweck der gesetzlichen Ausgestaltung in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis die allgemeine Schulpflicht ausnahmslos durchgeführt und nur in zwingenden Ausnahmefällen eine Befreiung hiervon erteilt werden soll. Ein wichtiger Grund setzt daher nach zutreffender Auffassung voraus, dass ein Besuch einer Schule gerade als solcher – als einer besonderen Organisation zur gemeinschaftlichen Unterrichtung eines wechselnden Schülerbestandes – im konkreten Einzelfall unmöglich oder mit nicht vertretbarem Aufwand zu ermöglichen ist (so bereits Beschluss der Kammer vom 15. Juli 2004 – 1 L 665/03 –, S. 5 BA; Urteil der Kammer vom 27. Juli 2005 – 1 K 1369/04 –, S. 7 BA [beide n. v.]; jeweils m. w. N.) oder – mit anderen Worten – in jeder Hinsicht unzumutbar ist (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15. Juni 2021 – OVG 3 S 112/20 –, S. 4 BA).
Eine Unzumutbarkeit des Schulbesuchs in diesem Sinne ist für den Sohn der Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht.
R_____besucht die Berufsbildungsstufe (BBS) der „S_____“ in M_____, eine Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, an der er seine Berufsschulpflicht – und damit seine allgemeine Schulpflicht – erfüllen kann, § 39 Abs. 1 Satz 2 BbgSchulG. Gemäß § 30 Abs. 1 Satz 1 BbgSchulG fördern Förderschulen die schulische und berufliche Eingliederung, gesellschaftliche Teilhabe und selbstständige Lebensgestaltung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Unter anderem die Schule mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt „geistige Entwicklung“ vermittelt eine allgemeine Bildung und führt jeweils einen Bildungsgang zum Erwerb eines eigenen Abschlusses, § 30 Abs. 1 Satz 3, 2. Alt. BbgSchulG. Ziele und Aufgaben der sonderpädagogischen Förderung werden im Einzelnen in § 1 Abs. 3 bis 5 der Verordnung über Unterricht und Erziehung für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf (Sonderpädagogik-Verordnung – SopV) vom 20. Juli 2017 (GVBl.II/17, [Nr. 41]) näher beschrieben. Gemäß Nr. 1 Abs. 2 der Verwaltungsvorschriften zur Sonderpädagogik-Verordnung (VV-SopV) vom 12. November 2018 (Abl. MBJS/18, [Nr. 28], S. 372) wird die allgemeine Förderung der Schule für Schülerinnen und Schüler durch einen individuellen Lehrplan auf der Grundlage der prozessbegleitenden Diagnostik und Förderung umgesetzt. Der individuelle Lernplan beinhaltet insbesondere die Lernausgangslage, Zielsetzung der Förderung, Umfang und Inhalt der Fördermaßnahmen, fachliche Verantwortlichkeit, Überprüfung der Ergebnisse. Der individuelle Lernplan wird durch die Klassenlehrkraft unter Beteiligung der unterrichtenden Lehrkräfte und Eltern regelmäßig fortgeschrieben. Für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf wird die allgemeine Förderung durch die sonderpädagogische Förderung erweitert und unterstützt. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass der Unterstützungsbedarf von R_____dem Schreiben der Schulleiterin der „S_____“ vom 13. Januar 2023 (Anlage 2 zur Antragsschrift) nach sowohl im pflegerischen Bereich als auch im Unterricht größer geworden sein und stetig zunehmen soll. Dass lässt jedoch nicht den Schluss zu, dass der Schulbesuch in jeder Hinsicht unzumutbar ist. Der Antragsgegner hat insoweit bereits im Ausgangsbescheid vom 05. September 2023 darauf verwiesen, dass Schülerinnen und Schüler aus R_____Klasse entsprechend ihrer Beeinträchtigung individuell gefördert werden. Es kann danach keine Rede davon sein, dass R_____in der Schule bis zum Eintritt seiner Volljährigkeit lediglich „verwahrt“ werde, wie die Antragstellerin meint.
Auch durch Vorlage der ärztlichen Stellungnahme des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin Dr. med. C_____ vom 23. August 2023 (Anlage 3 zur Antragsschrift) ist eine Unzumutbarkeit des Schulbesuchs für R_____nicht glaubhaft gemacht. Vielmehr geht daraus hervor, dass aktuell in seiner Schule wöchentlich Logopädie erfolgt. Soweit in der Stellungnahme darauf hingewiesen wird, dass aufgrund seiner Grunderkrankungen zusätzlich Physio- und Ergotherapie medizinisch notwendig seien und R_____wegen des langen Unterrichts und des späten Schulschlusses nachmittags keine ausreichende Konzentration und Kraft zur Durchführung von Physio- und Ergotherapie habe, lässt das nicht erkennen, dass eine vollständige Befreiung von der Schulbesuchspflicht zwingend geboten wäre. Notwendig ist außerhalb der Schule zwei Mal wöchentlich Physio- und einmal wöchentlich Ergotherapie, wie aus der sozialpädriatischen ärztlichen Stellungnahme des Sozialpädriatischen Zentrums (SPZ) für chronisch kranke Kinder der Charité vom 29. September 2023 (Anlage 9 zur Antragsschrift) hervorgeht. Insofern dürfte anstelle einer vollständigen Befreiung von der Schulbesuchspflicht eine (zeitweise) Freistellung von der Teilnahme am Ganztagsangebot in medizinisch oder pädagogisch besonders begründeten Fällen (vgl. § 18 Abs. 5 Satz 2 BbgSchulG) ausreichen, um die erforderliche Physio- und Ergotherapie durchführen zu können. Im Übrigen sind konkrete Auswirkungen der „nicht ausreichenden“ Konzentration bzw. Kraft auf die Durchführung der Physio- bzw. Ergotherapie anhand der ärztlichen Stellungnahme vom 23. August 2023 nicht dargelegt, sodass für das Gericht nicht nachvollziehbar ist, ob deren Durchführung durch den Schulbesuch vollständig verhindert oder lediglich erschwert bzw. zeitlich verkürzt wird. Auch gibt die Stellungnahme des SPZ vom 29. September 2023 – anders als die Stellungnahme des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin Dr. med. C_____vom 23. August 2023 – keinerlei Hinweise darauf, dass es aufgrund des Schulbesuchs von R_____zu Problemen bei der Durchführung der notwendigen Physio- und Ergotherapie kommt.
Der Annahme einer Unzumutbarkeit des Schulbesuchs steht darüber hinaus entgegen, dass die Schule R_____seit dem 04. Mai 2023 im Rahmen der Berufsorientierung ein wöchentliches Praktikum im Förder- und Beschäftigungsbereich (FBB) der H_____ ermöglicht, wodurch sie ihn bereits jetzt auf einen möglichen Übergang in einen FBB vorbereitet.
Dass der derzeit in Aussicht stehende Platz im FBB der H_____nach Beendigung der Schulpflicht für R_____nicht mehr zu Verfügung stehen wird, ist ebenfalls nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsgegner hat zutreffend darauf hingewiesen, dass entsprechende Belege, die diese Behauptung untersetzen könnten, fehlen. Das insoweit vorgelegte Schreiben der Z_____des A_____vom 08. November 2022 (Anlage 5 zur Antragsschrift), wonach aktuell keine Aufnahmekapazitäten im FBB der Werkstatt bestehen, ist zur Glaubhaftmachung ersichtlich nicht geeignet, weil es nicht den in Aussicht genommenen Platz im FBB der H_____ betrifft und weil es sich um eine Momentaufnahme handelt, die auch keineswegs mehr als „aktuell“ bezeichnet werden kann. Das Schreiben war bereits im Zeitpunkt der Antragstellung über ein Jahr alt. Auch das Schreiben der H_____ vom 11. August 2023 (Anlage 4 zur Antragsschrift) bietet keine greifbaren Anhaltspunkte für die Annahme, der in Aussicht genommene Platz im FBB werde R_____, der noch im laufenden Schuljahr das 18. Lebensjahr vollendet, nach Ende seiner Schulbesuchspflicht (die Sommerferien beginnen am 18. Juli 2024, mithin in etwa 5 Monaten) nicht mehr zur Verfügung stehen. Der Eintritt dieses Umstands ist danach keineswegs „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“, wie von der Antragstellerin vorgetragen, anzunehmen, sondern allenfalls ungewiss. Die Antragstellerin hat zudem bereits in ihrem Schreiben an den Antragsgegner vom 09. Januar 2023 (Bl. 1 BA II) ausgeführt, „ein freier Platz im FBB Bereich in der Werkstatt für Behinderte in E_____für R_____“ stehe bis zum 01. Februar 2023 zu Verfügung. Entgegen dieser Ankündigung steht der Platz für R_____jedoch auch heute noch, über ein Jahr später, zur Verfügung. Es liegt daher keineswegs, wie die Antragstellerin meint, auf der Hand, dass die Vorhaltung dieses Platzes kostenfrei unter Inkaufnahme wirtschaftlicher Einbußen des Trägers nicht bis zur Volljährigkeit R_____erfolgt. Bisher ist dies offenbar geschehen und es dauert bis zum Beginn der Sommerferien, wie bereits ausgeführt, nur noch etwa fünf Monate. Auch ist nicht von vornherein auszuschließen, dass – falls erforderlich – nicht doch ein anderer Platz für R_____in einem FBB gefunden wird. Den o. g. Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs genügt der Vortrag damit ersichtlich nicht.
Nach alledem kann offen bleiben, ob – wovon die Beteiligten übereinstimmend auszugehen scheinen – im Übrigen ein wichtiger Grund im Sinne von § 36 Abs. 4 Satz 1 BbgSchulG vorliegt bzw. glaubhaft gemacht ist, wobei das Regelbeispiel gem. § 36 Abs. 4 Satz 2 BbgSchulG als Auslegungshilfe heranzuziehen ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15. Juni 2021 – OVG 3 S 112/20 –, S. 4 BA [n. v.]; ähnlich: Hanßen/Glöde, BbgSchulG – Kommentar, Werkstand: AL 37 Dezember 2023, § 36 Rn. 18).
Ebenfalls keiner Entscheidung bedarf die Frage, ob das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals der anderweitigen Gewährleistung einer entsprechenden gleichwertigen Förderung glaubhaft gemacht ist. Wie bereits oben dargelegt, konkretisiert das Kriterium der „Förderung der beruflichen Entwicklung“ in § 36 Abs. 4 Satz 3 BbgSchulG den ermessensleitenden Grundsatz der möglichst gleichwertigen Förderung hinsichtlich des Einzelfalls. Gegen die Annahme der Gleichwertigkeit hat der Antragsgegner nachvollziehbar eingewandt, dass dem Schreiben der H_____vom 11. August 2023 zu entnehmen sei, dass der Schwerpunkt des FBB darin liege, für den einzelnen schwerstbehinderten Menschen eine ihm angemessene Beschäftigung, vor allem im Sinne von Arbeit, zu organisieren und, dass im Vergleich zum Schulalltag der Fokus hier weniger auf Vermittlung theoretischer Inhalte und Kulturfähigkeiten als auf Förderung lebenspraktischer Fertigkeiten und Fähigkeiten liege, weshalb die Maßnahme im FBB nicht die gesetzgeberische Zielsetzung der schulischen Erziehung und Bildung erfülle. Dass das Unterrichtsangebot R_____nicht mehr erreiche, behauptet die Antragstellerin lediglich, ohne diese Behauptung zu untersetzen. Insbesondere die vorliegenden fachärztlichen Stellungnahmen geben für diese Annahme nichts her und auch dem Schreiben der Schulleiterin der „S_____“ vom 13. Januar 2023 lässt eine solche Deutung nicht zu. Letzteres geht auch noch davon aus, R_____könne aufgrund fehlender Plätze kein Praktikumsplatz im FBB zur Verfügung gestellt bekommen. Diese Annahme ist zwischenzeitlich überholt, da R_____seit dem 04. Mai 2023 im Rahmen der Berufsorientierung ein wöchentliches Praktikum im Förder- und Beschäftigungsbereich (FBB) der H_____ besucht.
b) Auf die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrunds kommt es nach alledem nicht entscheidungserheblich an.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. § 52 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes (GKG), wobei sich das Gericht an Ziffer 38.3 des aktuellen Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit orientiert hat. Der Auffangwert von 5.000,00 Euro ist in dem Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu halbieren (Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs).