Gericht | VG Cottbus 9. Kammer | Entscheidungsdatum | 22.04.2024 | |
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Aktenzeichen | VG 9 L 53/23 | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2024:0422.9L53.23.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | 2 Durchführungsbeschluss (EU)2022/382 Art., § 24 AufenthG, § 81 AufenthG, Aufenth ÜV Ukraine |
Im Rahmen des § 24 AufenthG hat der Ausländer nachzuweisen, dass er von seinem Kind, dass die ukrainische Staatsangehörigkeit besitzt, vollständig oder größtenteils abhängig war.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Herrn Rechtsanwalt T_____ aus B_____ wird abgelehnt, weil die Rechtsverfolgung – wie es sich aus den nachstehenden Gründen ergibt – keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 Abs. 1 S. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i. V. m. § 114 Abs. 1 S. 1 und § 121 Abs. 1 Zivilprozessordnung der (ZPO)).
Der auf einstweiligen Rechtsschutz gerichtete Antrag der Antragstellerin hat keinen Erfolg.
Dabei ist bereits zweifelhaft, ob das wörtlich gestellte Antragsbegehren,
den Antragsgegner einstweilen zu verpflichten, der Antragstellerin vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in dem Widerspruchsverfahren vor dem Antragsgegner eine Duldungsbescheinigung zu erteilen und dem Antragsgegner vorläufig zu untersagen, die Abschiebung der Antragstellerin durchzuführen,
welches einen Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO darstellt, nicht bereits unstatthaft und damit unzulässig ist. Denn, wie sich aus § 123 Abs. 5 VwGO ergibt, ist vorrangig um einstweiligen Rechtsschutz nach §§ 80 und 80a VwGO nachzusuchen, wenn und soweit es um die vorläufige Vollziehbarkeit eines Verwaltungsaktes geht (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 123 Rdn. 4). Vorliegend spricht viel dafür, dass der Fall hier so liegt.
Gemäß § 84 Abs. 1 Nr. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) hat ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung der Erteilung einer beantragten Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung. Für die hier in Rede stehende Frage, ob einem Rechtsbehelf (hier eines Widerspruchs) aufschiebende Wirkung zukommt bzw. ob das Gericht gemäß § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage anordnen kann, ist sodann entscheidend, ob die Ablehnung des Antrags der Antragstellerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis eine belastende Rechtsfolge für die Antragstellerin ausgelöst hat, die im Sinne von § 80 Abs. 5 VwGO durch Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs suspendiert werden könnte. Eine solche belastende Rechtsfolge kann sich, soweit es wie hier um einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis geht, aus dem Wegfall einer Fiktionswirkung im Sinne des § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG ergeben (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. September 2014 - OVG 11 S 49.14 -, juris Rn. 3; Beschluss vom 25. November 2014 - OVG 7 S 54.14 -, juris Rn. 3). Maßgeblich ist daher, ob der Antrag der Antragstellerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis eine für sie vorteilhafte Fiktionswirkung ausgelöst hat.
Allerdings greift zu Gunsten der Antragstellerin nicht die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Gemäß § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gilt der Aufenthalt eines Ausländers, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ohne – wie die Antragstellerin – einen Aufenthaltstitel zu besitzen, bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als erlaubt. Vorliegend kann sich die Antragstellerin auf § 2 der Verordnung zur vorübergehenden Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels von anlässlich des Krieges in der Ukraine eingereisten Personen (Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung – UkraineAufenthÜV –) berufen. Nach § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV (Absatz 2 kommt von vornherein nicht in Betracht, da die Antragstellerin kein ukrainischer Staatsbürger und auch kein anerkannter Flüchtling ist und ihr in der Ukraine auch kein internationalen oder gleichwertiger nationaler Schutz gewährt wurde) sind Ausländer, die sich am 24. Februar 2022 in der Ukraine aufgehalten haben und die bis zum 4. März 2024 in das Bundesgebiet eingereist sind, ohne den für einen langfristigen Aufenthalt im Bundesgebiet erforderlichen Aufenthaltstitel zu besitzen, für einen Zeitraum von 90 Tagen ab dem Zeitpunkt der erstmaligen Einreise in das Bundesgebiet vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit (§ 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV). Hiervon ausgehend ist indes festzustellen, dass die Antragstellerin ausweislich ihres am 23. November 2022 gestellten Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bereits am 8. März 2022 in das Bundesgebiet eingereist ist, mithin die Stellung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erst nach Ablauf des (auf 90 Tage begrenzten) rechtmäßigen Aufenthalts im Sinne des § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV erfolgte, so dass eine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG im Falle der Antragstellerin nicht eingetreten ist.
In den Genuss der Erlaubnisfiktion im Sinne des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG kommt die Antragstellerin auch nicht mit Blick darauf, dass der Antragsgegner ihr unter dem 29. Dezember 2022 eine Fiktionsbescheinigung ausgestellt hat, die als Rechtsgrundlage ausdrücklich § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG benennt. Denn bei einer Fiktionsbescheinigung auf Grundlage des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG handelt es sich lediglich um ein deklaratorisches Dokument und nicht um einen Verwaltungsakt, der die Rechtslage feststellt oder gestaltet (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Juni 1997 – 1 C 7/96 – juris Rn. 27; BayVGH, Beschluss vom 28. Januar 2016 – 10 CE 15.2653 – juris Rn. 26).
Allerdings spricht vieles dafür, dass die Antragstellerin infolge ihrer Antragstellung in den Genuss einer Duldungsfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG gekommen ist. Nach dieser Norm gilt: Wird der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verspätet gestellt, gilt ab dem Zeitpunkt der Antragstellung bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde die Abschiebung als ausgesetzt. In den Genuss einer fiktiven Duldung gelangt demnach, wer ohne einen Aufenthaltstitel über einen rechtmäßigen Aufenthalt verfügte und erst nach dessen Beendigung einen Aufenthaltstitel beantragt. Begünstigt wird mithin, wer eigentlich eine Erlaubnisfiktion im Sinne des § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG hätte erreichen können, aber den Antrag verspätet stellt (vgl. Samel, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, AufenthG § 81 Rn. 38).
Problematisch ist im Zusammenhang mit einer Duldungsfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG allenfalls, ob der Antrag noch verspätet im Sinne dieser Vorschrift gestellt worden ist. Insoweit wird in Teilen der Rechtsprechung vertreten, dass der Antrag in einem zeitlichen Zusammenhang mit dem rechtmäßigen Aufenthalt gestellt worden ist, da andernfalls nicht mehr ein verspäteter Antrag vorliege, sondern einer, der vom Voraufenthalt losgelöst sei (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 25. April 2012 – 18 B 1181/11 – juris Rn. 34, VG Düsseldorf, Beschluss vom 24. Januar 2011 – 27 L 1633/10 – juris Rn. 28 ff.; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 11. Oktober 2011 – 16 L 742/11 – juris Rn. 6). Als Orientierungspunkte für die maximale zeitliche Grenze, innerhalb derer die Antragstellung mit dem vorausgegangenen rechtmäßigen Aufenthalt noch eine rechtliche Einheit bildet und damit nach der vorgenannten Auffassung die Duldungsfiktionswirkung auslösen kann, könnten die Fristen von sechs Monaten nach § 81 Abs. 2 Satz 2 AufenthG und von drei Monaten nach § 41 Abs. 3 AufenthV herangezogen worden. Maßgeblich seien aber stets die Umstände des Einzelfalls und die konkrete Situation, in der sich der betreffende Ausländer jeweils befinde (vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 11. Oktober 2011, a.a.O., juris Rn. 9). Dieses Verständnis der Norm des § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zugrunde gelegt, könnte im Falle der Antragstellerin durchaus anzunehmen sein, dass sie nicht in den Genuss einer Duldungsfiktion gekommen ist, da sie den Antrag auf Erteilung erst am 23. November 2022 und damit mehr als 5 Monate nach Ablauf des rechtmäßigen Voraufenthalts (90 Tage ab dem Tage der Ersteinreise) gestellt hat. Für die Antragstellerin könnte dann im Einzelfall zwar noch sprechen, dass sie den Antrag nach § 24 Abs. 1 AufenthG erst stellen konnte, nachdem das der Zentralen Ausländerbehörde (ZABH) obliegende Zuweisungsverfahren abgeschlossen und für ihre Person eine Zuweisungsentscheidung erlassen wurde (vgl. zum Vorrang des Zuweisungsverfahrens im Verhältnis zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG: OVG Bremen, Beschluss vom 6. Juni 2023 – 2 B 58/23 – juris Rn. 29 f.) und zudem bei der Antragstellerin keine Umstände für einen Wechsel des Aufenthaltszwecks (etwa zum Zwecke des Besuchs zu einem Daueraufenthalt) erkennbar sind, sondern sie sich von Anfang an in das Bundesgebiet begeben haben dürfte, um den kriegerischen Geschehnissen in der Ukraine auszuweichen.
Dies bedarf letztlich ebensowenig einer abschließenden Entscheidung, wie die Frage, ob die Kammer der angeführten Rechtsmeinung des OVG Münster und der nordrhein-westfälischen Verwaltungsgerichte oder der Gegenansicht (vgl. hierzu: Bergmann/Dienelt/Samel, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 81 Rn. 44 „ohne Rücksicht auf das Ausmaß der Verspätung“) folgen würde. Denn ein im Falle des Bestehens einer Duldungsfiktion statthafter Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO har – sollte der Antrag vom 23. November 2023 keine Fiktionswirkung ausgelöst haben – ebenso wie ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO keinen Erfolg.
Die bei einem (statthaften) Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung fällt zu Lasten der Antragstellerin aus. Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs – hier des Widerspruchs – in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung des Verwaltungsaktes gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet worden ist, wiederherstellen und in den Fällen, in denen – wie hier nach § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG – einem Rechtsbehelf die aufschiebende Wirkung von vornherein nicht zukommt, anordnen, wenn das private Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts überwiegt. Maßstab der Entscheidung im vorliegenden Eilverfahren gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist dabei eine umfassende Interessenabwägung. Erweist sich hierbei der angegriffene Verwaltungsakt als offensichtlich rechtswidrig, überwiegt das private Aussetzungsinteresse, da nach dem Rechtsstaatsgebot des Artikel 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) an der sofortigen Vollziehung eines noch nicht bestandskräftigen, offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsakts ein öffentliches Interesse nicht bestehen kann. Dagegen überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts das private Interesse des Antragstellers, von der Vollziehung vorläufig verschont zu bleiben, regelmäßig dann, wenn sich der Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig erweist.
Hieran gemessen, fällt die Interessenabwägung zu Lasten der Antragstellerin aus. Denn die Ablehnung der von der Antragstellerin begehrten Aufenthaltserlaubnis mit dem Bescheid des Antragsgegners vom 9. Februar 2023 erweist sich als rechtmäßig. Die Antragstellerin hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG. Danach wird einem Ausländer, dem auf Grund eines Beschlusses des Rates der Europäischen Union gemäß der Richtlinie 2001/55/EG vorübergehender Schutz gewährt wird und der seine Bereitschaft erklärt hat, im Bundesgebiet aufgenommen zu werden, [...] für die nach den Artikeln 4 und 6 der Richtlinie bemessene Dauer des vorübergehenden Schutzes eine Aufenthaltserlaubnis erteilt.
Für diejenigen Personen, die von dem Krieg Russlands gegen die Ukraine betroffen sind, liegt ein solcher Beschluss des Rates der Europäischen Union mit dem Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 des Rates vom 4. März 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes vor. Nach Artikel 2 Abs. 1 des Beschlusses 2022/382 gilt dieser Beschluss für Gruppen von Personen, die am oder nach dem 24. Februar 2022 infolge der militärischen Invasion der russischen Streitkräfte aus der Ukraine vertrieben wurden, soweit es sich um ukrainische Staatsangehörige, die vor dem 24. Februar 2022 ihren Aufenthalt in der Ukraine hatten (Buchstabe a) oder um Staatenlose und Staatsangehörige anderer Drittländer als der Ukraine, die vor dem 24. Februar 2022 in der Ukraine internationalen Schutz oder einen gleichwertigen nationalen Schutz genossen haben (Buchstabe b) oder um Familienangehörige der unter den Buchstaben a und b genannten Personen (Buchstabe c) handelt. Die Antragstellerin gehört einer der in Artikel 2 Abs. 1 Buchstaben a bis c des Beschlusses 2022/382 genannten Gruppen von Personen nicht an. Hinsichtlich der Personen nach Artikel 2 Abs. 1 Buchstaben a und b des Beschlusses 2022/382 liegt dies auf der Hand. Soweit Artikel 2 Abs. 1 Buchstabe c des Beschlusses 2022/382 auch Familienangehörige in vorübergehenden Schutz gewährt, sind hiervon nicht sämtliche Familienangehörigen eines ukrainischen Staatsangehörigen (hier des am 6. Februar 1994 geborenen Herrn D_____, dessen Mutter die Antragstellerin ist) erfasst. Gemäß Artikel 2 Abs. 4 des Beschlusses 2022/382 gelten für die Zwecke des Absatzes 1 Buchstabe c gelten nur folgende Personen als Teil einer Familie:
Die Antragstellerin erfüllt keine der in Artikel 2 Abs. 4 Buchstaben a bis c des Beschlusses 2022/382 genannten Voraussetzungen für Familienangehörige, um in den Genuss des Schutzes von Artikel 2 Abs. 1 Buchstabe c i.V.m. Absatz 4 des Beschlusses 2022/382 zu gelangen. Namentlich greift Artikel 2 Abs. 4 Buchstabe c des Ratsbeschlusses nicht. Zwar trägt die Antragstellerin in ihrem Widerspruchsschreiben vom 9. März 2023 vor, dass sie mit ihrem Sohn im Familienverband lebte und finanziell und tatsächlich von diesem abhängig gewesen sei. Allein dieser nicht weiter substantiierte Vortrag, der letztlich nur die Tatbestandsmerkmale von Artikel 2 Abs. 4 Buchstabe c des Ratsbeschlusses wiederholt, genügt indes nicht; im gerichtlichen Verfahren hat die Antragstellerin diesen Vortrag auch nicht wiederholt oder gar vertieft. Wie sich aus dem Erwägungsgrund 12 des Beschlusses 2022/382 ergibt, sollten nämlich Personen, die um Schutz nachsuchen, auch nachweisen können, dass sie die Zulassungskriterien erfüllen, indem sie den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats die entsprechenden Dokumente vorlegen. Insoweit haben grundsätzlich die Schutzsuchenden die Obliegenheit, Nachweise für das Vorliegen der Voraussetzungen zur Gewährung von Schutz zu erbringen. Hieran fehlt es nicht nur; die Antragstellerin hat nicht einmal substantiiert dargelegt, worin denn die finanzielle Abhängigkeit bestanden haben soll und ob ihr Sohn auch nur in der Lage gewesen wäre, z.B. Unterhaltszahlungen zu leisten. Dies ist vorliegend auch deshalb von Belang, weil ihr am 6. Februar 1994 geborener Sohn erst kurz vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine das 18. Lebensjahr vollendet hatte und es wenig wahrscheinlich ist, dass ein noch minderjähriges Kind für den Unterhalt der Familie zu sorgen hat und die Eltern von ihrem minderjährigen Kind finanziell und tatsächlich abhängig waren.
Nach Artikel 2 Abs. 2 des Beschlusses 2022/382 wenden die Mitgliedstaaten darüber hinaus entweder diesen Beschluss oder einen angemessenen Schutz nach ihrem nationalen Recht auf Staatenlose und Staatsangehörige anderer Drittländer als der Ukraine an, die nachweisen können, dass sie sich vor dem 24. Februar 2022 auf der Grundlage eines nach ukrainischem Recht erteilten gültigen unbefristeten Aufenthaltstitels rechtmäßig in der Ukraine aufgehalten haben, und die nicht in der Lage sind, sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückzukehren.
Die Antragstellerin ist zwar Inhaberin eines von der Ukraine erteilten unbefristeten Aufenthaltstitels, was sie durch Vorlage des entsprechenden ukrainischen Dokuments auch hinreichend glaubhaft gemacht hat. Sie dürfte auch Vertriebene im Sinne dieses Durchführungsbeschlusses sein; dass dabei ein Staatsangehöriger anderer Drittländer als der Ukraine – wie die Antragstellerin – ebenfalls in Folge des Angriffs Russlands auf die Ukraine vertrieben worden sein muss, ergibt sich daraus, dass die Mitgliedstaaten nach Artikel 2 Abs. 2 des Beschlusses 2022/382 „diesen Beschluss“ und damit auch die Vorschrift des Artikel 2 Absatz 1 des Beschlusses 2022/382 auf die in Absatz 2 definierten Personen anwenden mithin auch die tatbestandliche Voraussetzung, dass die betreffende Person am oder nach dem 24. Februar 2022 infolge der militärischen Invasion der russischen Streitkräfte, die an diesem Tag begann, aus der Ukraine vertrieben wurde. Dass hieran für die Person der Antragstellerin durchgreifende Zweifel bestehen könnten, ist nicht ersichtlich.
Die Antragstellerin erfüllt aber nicht die weitere Voraussetzung nach Artikel 2 Abs. 2 des Beschlusses 2022/382, wonach erforderlich ist, dass sie nicht in der Lage ist, sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückzukehren. Nach der „Mitteilung der Kommission zu operativen Leitlinien für die Umsetzung des Durchführungsbeschlusses 2022/382 des Rates zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes“ (Amtsblatt der Europäischen Union C 126 I/1 vom 21. März 2022) sollte die betreffende Person für eine „dauerhafte“ Rückkehr aktive Rechte in ihrem Herkunftsland oder ihrer Herkunftsregion in Anspruch nehmen können, damit sie Perspektiven für die Deckung ihrer Grundbedürfnisse in ihrem Herkunftsland/ihrer Herkunftsregion und die Möglichkeit der Reintegration in die Gesellschaft hat. Bei der Beurteilung, ob eine „sichere und dauerhafte“ Rückkehr möglich ist, sollten sich die Mitgliedstaaten auf die allgemeine Lage im Herkunftsland oder der Herkunftsregion stützen.
Hiervon ausgehend ergibt sich aus dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes, dass eine Rückkehr vietnamesischer Staatsangehöriger aus Deutschland in ihr Herkunftsland sowohl rechtlich als auch tatsächlich möglich ist und in den vergangenen Jahren unter Geltung eines zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Vietnam geschlossenen Reintegrationsabkommens auch in tausenden Fällen erfolgt ist. Probleme bestehen weder in Bezug auf die Sicherung des Existenzminimums der Antragstellerin, bei der es sich um eine ersichtlich gesunde (das Vorhandensein von Krankheiten hat die Antragstellerin in ihrem Antrag vom 23. November 2022 ausdrücklich verneint) und arbeitsfähige (in ihrem späteren Antrag vom 3. Februar 2023 hat die Antragstellerin ausdrücklich angegeben, dass sie arbeiten werde) Frau handelt, noch bezogen auf die medizinische Versorgung (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Sozialistischen Republik Vietnam, Stand: November 2022, S. 19 ff. und Stand: November 2023, S. 20 ff.; so schon: VG Frankfurt (Oder), Beschluss vom 16. Januar 2023 – 3 L 376/22 – juris Rn. 20). Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung für das Land Vietnam, das im vergangenen Jahrzehnt eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von knapp 7 % verzeichnete. Selbst im Zuge der COVID-19-Pandemie erzielte Vietnam 2020 ein Wirtschaftswachstum, das sich nach Angaben des Internationalen Währungsfonds auf 2,9 % belief. Dies war eine der weltweit höchsten Wachstumsraten in diesem Zeitraum. 2022 belief sich das Wirtschaftswachstum auf real 8 %. Auch haben arme Menschen ab einem Alter von 60 Jahren grundsätzlich Anspruch auf Sozialhilfe, wobei die Leistungen ab 80 Jahren steigen. Allerdings reichen die Leistungen allein in der Regel zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht aus. Bestimmte arme Bevölkerungsgruppen (u. a. ältere Menschen, Angehörige ethnischer Minderheiten) können indes zur Deckung ihrer Lebenshaltungskosten öffentliche Zahlungen, Darlehnen, Lebensmittel und Gesundheitsversorgung erhalten (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderkurzinformation Vietnam, Wirtschafts- und Gesundheitssystem, Stand: 11/2023, m.w.N.).
Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass der Antragstellerin eine Einreise nach Vietnam nicht sicher möglich sein wird; dass ihr in Vietnam z.B. eine Verfolgung drohen könnte, trägt sie selbst nicht vor. Nichts anderes folgt vor dem Hintergrund, soweit die Antragstellerin darauf verweist, dass ihr eine Rückführung nach Vietnam aufgrund ihres bisherigen langjährigen gemeinsamen Familienlebens (die Antragstellerin ist mit dem Antragsteller des Verfahrens VG 9 L 54/23 verheiratet, dessen Antrag mit Beschluss vom heutigen Tage ebenfalls abgelehnt worden ist) in der Ukraine unzumutbar sei. Die Antragstellerin ist gesund und arbeitsfähig. Sie ist in Vietnam (Phu Tho) geboren; dass sie die Sprache ihres Heimatlandes nicht spricht, ist vor diesem Hintergrund auch nicht ersichtlich. Im Übrigen übersieht die Antragstellerin mit ihrem auf ihr bisheriges Leben in der Ukraine abstellenden Argumentation, dass es Intention der Massenzustrom-Richtlinie sowie ihrer durch Deutschland erfolgten Umsetzung ist, dass vor dem russischen Angriffskrieg geflohenen nicht-ukrainischen Staatsangehörigen mit einem nicht lediglich zu einem Kurzaufenthalt berechtigenden Aufenthaltstitel in der Ukraine Schutz gewährt werden soll, denen eine Rückkehr in ihr eigenes Herkunftsland verwehrt ist. Anderen Drittstaatsangehörigen ist es durchaus zumutbar, primär den Schutz ihres eigenen Staates in Anspruch zu nehmen, in ihre eigenen Herkunftsländer zurückzukehren und ggf. dort eine Beendigung der kriegerischen Ereignisse in der Ukraine abzuwarten (vgl. OVG Magdeburg, Beschluss vom 15. Januar 2024 – 2 M 60/23 – juris Rn. 29). Dies gilt auch für die Antragstellerin. Insoweit dürfte es auch nicht darauf ankommen, ob die Antragstellerin in der Ukraine verwurzelt gewesen ist und sie dort eine engere Beziehung zu dem Land hatte als zu Vietnam, denn eine in die Verhältnisse der Ukraine etwaig vorhandene Verwurzelung endete durch den russischen Angriff und die dadurch verursachte Aufgabe des Aufenthalts der Drittstaatsangehörigen in der Ukraine. Nichts anderes gilt mit Blick auf den Vortrag der Antragstellerin, dass sie Mutter eines im Jahr 1994 geborenen ukrainischen Staatsangehörigen (Herr D_____) sei, der derzeit in der Ukraine auch seinen Wehrdienst leiste. Denn insoweit ist zum einen nicht nur festzustellen, dass die Antragstellerin von ihrem Sohn unabhängig davon, ob sie sich in Deutschland oder ihrem Herkunftsland Vietnam aufhält, während des Kriegs zwischen der Ukraine und Russland getrennt ist. Zum anderen verbleibt es auch insoweit dabei, dass sie ebenso in Vietnam das Ende der kriegerischen Auseinandersetzung abwarten kann und nicht darauf angewiesen ist, sich in Deutschland oder einem anderen europäischen Land zeitweise aufzuhalten. Dafür, dass in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland eine tiefergehende Beziehung bestehen könnte als im Vergleich zu dem Land ihrer Staatsangehörigkeit (Vietnam), bestehen schließlich keine Anhaltspunkte. Dass die Antragstellerin insbesondere eine Verwurzelung in die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland geltend machen könnte, trägt sie auch selbst nicht vor.
Zu Gunsten der Antragstellerin wirken sich dann auch nicht die Schreiben des Bundesministeriums des Innern und Heimat betreffend die „Umsetzung des Durchführungsbeschlusses des Rates zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes“ vom 14. April 2022 und 5 September 2022 aus. Abgesehen davon, dass es sich hierbei um bloße Umsetzungshinweise handelt und es ihnen an einer Bindungswirkung fehlen dürfte (vgl. hierzu: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 26. Oktober 2022 – 11 S 1467/22 – juris Rn. 22), greifen die dort gemachten Ausführungen zu Gunsten der Antragstellerin nicht. In dem Schreiben heißt es (dort Seite 5; abrufbar z.B. unter: https://fr-hessen.de/wp-content/uploads/2022/09/2022-09-05_-BMI-voruebergehender-Schutz-Ukraine.pdf) wie folgt:
„Bei Personen, die sich mit einem nach ukrainischem Recht erteilten gültigen unbefristeten Aufenthaltstitels rechtmäßig in der Ukraine aufgehalten haben, ist prima facie von einer maßgeblichen Verbindung in der Ukraine und damit davon auszugehen, dass sie nicht in der Lage sind, sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland zurückzukehren, weil eine engere (Wortlaut der Kommission: „sinnvollere“) Bindung zur Ukraine besteht als zum Herkunftsstaat. Die entsprechende prima facie-Schlussfolgerung ist widerleglich.“
Abgesehen davon, dass sich die Ausführungen des Bundesministeriums des Innern und für Heimat offensichtlich auf eine Passage in der „Mitteilung der Kommission zu operativen Leitlinien für die Umsetzung des Durchführungsbeschlusses 2022/382 des Rates […]“ (Amtsblatt EU vom 21.3.2022, dort Seite 5) beziehen, die Personen betrifft, die gemäß dem Ratsbeschluss gerade keinen Anspruch auf vorübergehenden Schutz oder angemessenen Schutz nach nationalem Recht haben, und in Bezug auf die die Kommission „die Mitgliedstaaten nachdrücklich ermutigt, die Ausdehnung des vorübergehenden Schutzes zu erwägen“, wovon der deutsche Gesetz- oder Verordnungsgeber indes keinen Gebrauch hat, ist die vom Ministerium des Innern und für Heimat angenommene „Schlussfolgerung“ widerleglich. Hinsichtlich der Antragstellerin, die aus Vietnam stammt und die – wie oben festgestellt – dorthin im Sinne von Artikel 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses 2022/382 des Rates sicher und dauerhaft zurückkehren kann, wäre auch eine solche „Schlussfolgerung“ widerlegt.
Soweit der Antragsgegner darüber hinaus geprüft hat, ob der Antragstellerin eine Aufenthaltserlaubnis aus anderen Gründen (§ 25, § 25a und § 25b AufenthG) zustehen könnte, ist auch deren Ablehnung rechtmäßig; die Kammer verweist insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen in dem angegriffenen Bescheid und macht sich diese zu eigen.
Auch die Abschiebungsandrohung (Ziffer 2 des angegriffenen Bescheides) ist rechtmäßig. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 58, 59, 50 Abs. 1 AufenthG. Die Antragstellerin ist (spätestens) nach Ablehnung ihres Antrags auf Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis vollziehbar ausreisepflichtig, so dass ihr die Abschiebung in ihr Heimatland Vietnam anzudrohen ist. Auch in Bezug auf die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das seine Rechtsgrundlage in § 11 Abs. 1 AufenthG findet, sind rechtliche Bedenken nicht ersichtlich.
Bleibt nach alledem ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO erfolglos, so bleibt dem Eilrechtsschutzbegehren auch dann der Erfolg versagt, wenn – wie oben näher ausgeführt – ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mangels Fiktionswirkung des gestellten Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis unstatthaft wäre und das Antragsbegehren dann darauf zu richten wäre, dass die Antragstellerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO begehren würde, sie für die Dauer des Widerspruchsverfahrens zu dulden. Der dafür erforderliche Anordnungsanspruch ist nicht glaubhaft gemacht. Eine Duldung zur Sicherung des Aufenthaltstitels kommt vorliegend schon deshalb nicht in Betracht, weil die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis – wie schon festgestellt – rechtmäßig ist. Auch sonst ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass einer Abschiebung der Antragstellerin Abschiebungsverbote oder andere rechtliche Duldungsgründe im Sinne des § 60a Abs. 2 AufenthG entgegenstehen würden. Soweit die Antragstellerin derzeit aus tatsächlichen Gründen nicht abgeschoben werden kann, etwa weil der Antragsgegner eine Abschiebung der Antragstellerin derzeit nicht forciert hat, hat der Antragsgegner dem bereits dadurch Rechnung getragen, dass er der Antragstellerin jeweils Duldungsbescheinigungen ausgestellt hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1 u. Abs. 2, 53 Abs. 3 Nr. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG). Das hiernach maßgebliche wirtschaftliche Interesse ist mit dem Auffangwert angemessen bewertet (vgl. Ziffer 8.1. des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit). Mit Blick auf die Vorläufigkeit der erstrebten Regelung hat die Kammer diesen Betrag halbiert.
Rechtsmittelbelehrung: