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Entscheidung 1 ORbs 55/24


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 1. Senat für Bußgeldsachen Entscheidungsdatum 21.03.2024
Aktenzeichen 1 ORbs 55/24 ECLI ECLI:DE:OLGBB:2024:0321.1ORBS55.24.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Neuruppin vom 25. Oktober 2023 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Neuruppin zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Neuruppin erkannte mit dem angefochtenen Urteil gegen den Betroffenen wegen vorsätzlichen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit (außerhalb geschlossener Ortschaften) um 41 km/h auf eine Geldbuße in Höhe von 700,00 € und ordnete ein einmonatiges Fahrverbot unter Einräumung der Gestaltungsmöglichkeit nach § 25 Abs. 2a StVG an.

Das Bußgeldgericht traf folgende Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen:

„Der Betroffene fuhr mit einem Pkw, amtliches Kennzeichen …, am ….2022 um 08:55 Uhr auf der Bundesautobahn 24 in Fahrtrichtung („Ort 01“). Dabei hielt er zwischen der Anschlussstelle („Ort 02“) und der Raststätte („Ort 03“) die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h außerhalb geschlossener Ortschaften nicht ein. Er fuhr mit einer Geschwindigkeit von 121 km/h, woraus sich eine Überschreitung von 41 km/h ergibt. Der Betroffene handelte vorsätzlich.“

Zur Beweiswürdigung hat das Amtsgericht im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

„Die Richtigkeit der Messung wurde bestritten. Bemängelt wurde, dass ein Mess- bzw. Streifenprotokoll nicht vorgelegen habe. Dadurch sei nicht festzustellen, ob die Abfahrtskontrolle, darunter die Reifendruckkontrolle und die Profiltiefenkontrolle durchgeführt worden seien. Zudem sei nicht belegt gewesen, welches Messgerät eingesetzt worden sei. Nach der durchgeführten Beweisaufnahme verwies der Verteidiger darauf, dass die Messung während der schrägen Einfahrt des Betroffenen in eine Baustelle erfolgt sei und deswegen eine fehlerhafte Messung nicht auszuschließen sei. Die Verteidigung reichte zudem ein Privatsachverständigengutachten zur Akte, BI. 43 d.A. Hierin wurde einerseits ebenfalls das fehlende Streifenprotokoll bemängelt und zudem angeführt, dass das Fahrzeug des Betroffenen aufgrund der Abstandsmessung zu Beginn und Ende der Messung stark verzögert haben müsse. Das Polizeifahrzeug sei daher schneller gewesen, wodurch ein Messfehler nicht auszuschließen sei.

Die Geschwindigkeitsüberschreitung wurde durch ein Polizeifahrzeug festgestellt, das dem Betroffenen nachgefahren ist. In das Fahrzeug (amtliches Kennzeichen …) war eine Geschwindigkeitsmessanlage vom Typ ProVida 2000 modular eingebaut, die ausweislich des Eichscheins mit der Nummer … zur Tatzeit gültig geeicht war. Auch nach dem auszugsweise verlesenen Servicenachweis für das ProVida-System war dieses zum Tattag nach dem Wechsel der Saisonbereifung am 27.04.2022 ordnungsgemäß geeicht gewesen, BI. 36 d.A.

Zur Messung haben die Zeugen angegeben, dass sie den Betroffenen auf der Bundesautobahn A24 in Fahrtrichtung („Ort 01“) wahrgenommen hätten, als dieser sie überholte und auf eine Baustelle zufuhr. Der Zeuge („Name 01“) gab an, dass während der Zufahrt auf die Baustelle die zulässige Höchstgeschwindigkeit zunächst auf 100 km/h und sodann auf 80 km/h beschränkt worden war, es sich also um einen sogenannten Geschwindikeitstrichter handelte. Einer der Zeugen habe daraufhin die Aufnahme gestartet. Der Zeuge („Name 02“) gab an, dass der Betroffene sich zu Beginn der Messung schon 350 bis 400 m im 80er km/h-Bereich befunden habe.

Die Auswertung habe der Zeuge („Name 01“) anschließend mittels des ViDista-Auswerteverfahrens vorgenommen. Nach dem auszugsweise verlesenen ViDistA-Auswertebericht, BI. 21 d.A., betrug die Geschwindigkeit des Betroffenenfahrzeugs 121 km/h bei einer Messstrecke von 156,37 m und einer Messzeit von 4,63 s.

Der Zeuge („Name 01“) sei weiterhin für die Auswertung auch geschult gewesen. Beide Zeuge gaben zudem an, dass sie jahrelange Erfahrung mit der Geschwindigkeitsmessanlage ProVida 2000 und dem ViDista-Auswerteverfahren hätten und beides täglich einsetzten bzw. nutzten.

Die Zeugen gaben weiter übereinstimmend an, dass die Bereifung, die Profiltiefe und der Reifendruck den Vorgaben des Eichscheins entsprochen hätte. Dies sei auch im Streifenbericht vermerkt worden, welchen der Zeuge („Name 02“) in Kopie zum Protokoll reichte (Anlage 1 zum Sitzungsprotokoll vom 11.10.2023, BI. 26ff. d.A.) und welcher auszugsweise verlesen worden ist.

Soweit die Verteidigung darauf verweist, dass sich der Abstand zwischen Messfahrzeug und Betroffenenfahrzeug verringert habe und dies gegen die Gebrauchsanweisung verstoße, sieht das Gericht darin keinen Grund, von der Annahme einer ordnungsgemäßen Messung abzuweichen. Die Verteidigung verkennt, dass die Geschwindigkeitsmessung erst im Nachgang mittels des ViDista-Verfahrens durchgeführt wurde, bei dem durch ein computerunterstütztes Auswertungssystem für Videobilder, die auf der Straße fahrend erfassten Verkehrssituationen nachträglich am Bildschirm vermessen und mithilfe des Strahlensatzes der Planimetrie Geschwindigkeit und Abstände zwischen Fahrzeugen genau berechnet werden (NK-GVR, StVO Anh. § 3 Rn. 143, beck-online). Kernstück des Systems ist das VideoDistanzMeter, kurz: VDM; hiermit werden in ein Videobild horizontale und vertikale Linienpaare eingeblendet; der Abstand der Linienpaare wird mit einem ebenfalls eingeblendeten Zahlenwert versehen (ebenda). Weder eine Verringerung des Abstands zwischen Messfahrzeug und Betroffenenfahrzeug noch ein Fahrspurwechsel des Betroffenenfahrzeugs haben grundsätzlich Auswirkungen auf die computergestützte Auswertung. Die Inaugenscheinnahme des Messvideos und der aus dem Messvideo generierten Standbilder, BI. 17 d.A., ließen somit auch keine Fehler erkennen, insbesondere nicht im Hinblick auf die horizontalen und vertikalen Linienpaarekper von der Verteidigung vorgebrachte Behauptung, die Messung sei durch die schräge Einfahrt des Betroffenenfahrzeugs in die Baustelle möglicherweise fehlerhaft gewesen, erfolgte darüber hinaus erst nach der durchgeführten Beweisaufnahme und damit zu spät, § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG. Denn eine weitere Beweisaufnahme, wie durch die Verteidigung beantragt, durch Einholung eines Sachverständigengutachtens, hätte zwingend die Aussetzung des Verfahrens erforderlich werden lassen.

Zweifel an der Richtigkeit der Messung bestehen nach alledem nicht. Geschwindigkeitsmessungen mit dem ProVida-System in Kombination mit der Auslesesoftware ViDistA sind als standardisiertes Messverfahren anerkannt (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 09.03.2022, Aktenzeichen: 1 OLG 53).

Das Gericht ist nach Würdigung aller Beweismittel überzeugt, dass der Betroffene mit einer Geschwindigkeit von 121 km/h bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h gefahren ist.“

Gegen dieses Urteil richtet sich die am 01. November 2023 bei Gericht angebrachte Rechtsbeschwerde des Betroffenen, die nach am 01. Dezember 2023 erfolgter Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe unter dem 18. Dezember 2023 begründet worden ist. Der Betroffene rügt mit näheren Ausführungen die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg beantragt, die Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Neuruppin vom 25. Oktober 2023 gemäß § 70 Abs. 3 OWiG i.V.m. § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen.

Die Gegenerklärung des Verteidigers vom 22. Februar 2024 lag dem Senat bei seiner Entscheidung vor.

II.

Die Rechtsbeschwerde ist form- und fristgerecht entsprechend § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. §§ 341, 344, 345 StPO eingelegt und begründet worden. Sie hat bereits mit der erhobenen Sachrüge Erfolg.

Den Urteilsausführungen ist zu entnehmen, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung mit einem in einem Zivilfahrzeug der Polizei eingebauten und gültig geeichten Verkehrsüberwachungssystem ProVida 2000 modular während des Hinterherfahrens festgestellt und mithilfe des computergestützten Verfahrens zur Videodistanzauswertung ViDistA berechnet worden sei.

Bei dem Messgerät ProVida 2000 modular handelt es sich um eine zusammen mit dem Einsatzfahrzeug der Polizei, in dem es Verwendung findet, geeichte Videoüberwachungsanlage, welche vorliegend die in Rede stehende Fahrt des Betroffenen aufgezeichnet hat.

Die eigentliche Geschwindigkeitsermittlung erfolgt jedoch nicht mit der als standardisiertes Messverfahren anerkannten ProVidA 2000 modular – Anlage, sondern nachträglich mit Hilfe des softwarebasierten Auswertungsverfahrens ViDistA, das hinsichtlich Geschwindigkeitsüberschreitungen ebenfalls als standardisiert gilt.

Die durch obergerichtliche Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze für sogenannte standardisierte Messverfahren gelten indes nur dann, wenn das jeweilige Messgerät, vorliegend ProVida 2000 modular, vom Bedienungspersonal auch standardmäßig, also in geeichtem Zustand, seiner Bauartzulassung entsprechend und gemäß der vom Hersteller mitgegebenen Bedienungs-/Gebrauchsanweisung verwendet worden ist (vgl. Kammergericht, Beschluss vom 23. Juli 2018, Az. 3 Ws (B) 157/18).

Da vorliegend der Abstand zwischen messendem Polizeifahrzeug und Betroffenenfahrzeug zu Beginn der Messung 45,3 m betrug und bei Messende 42,1 m, kam es zu einer Abstandsverringerung entgegen der Bedienungsanleitung des Herstellers, dort Seite 24. Denn sofern sich der Abstand während der Messung verringert, ist das Messfahrzeug, von dem die Geschwindigkeit des betroffenen Fahrzeugs abgeleitet wird, schneller als das betroffene Fahrzeug, dem die errechnete Geschwindigkeit im Falle eines Verstoßes zur Last gelegt wird.

Zwar erfolgte die Auswertung erst nachträglich mit dem softwarebasierten Auswerteprogramm ViDista, mit dem damit auch Messungen ausgewertet werden können, bei denen keine Auswertekonstanz herrschte, sondern es sogar zu einer Abstandsverringerung - wie vorliegend- gekommen ist (vgl. Beck/ Löhle/ Schmedding/ Siegert, Fehlerquellen bei polizeilichen Messverfahren, 13. Auflage 2023, § 15 Rn. 27); da sich eine Annährung des Einsatzfahrzeugs zu Messende zuungunsten des Betroffenen auswirkt, kann der Auswertebeamte diese negative Verzerrung dadurch kompensieren, dass er bei seinen Berechnungen den Wegstreckenanteil der Annährung von der Messstrecke abzieht (vgl. Beck/Löhle/ Schmedding/ Sigert, Fehlerquellen bei polizeilichen Messverfahren, 13. Auflage 2023, § 15 Rn. 26). Dass dies indes vorliegend stattgefunden hat, ist dem Urteil nicht zu entnehmen.

Ob Verstoßes gegen die Bedienungsanleitung des ProVida 2000 modular und des nicht zu entnehmenden erforderlichen Abzugs des Wegstreckenanteils der Annährung von der Messstrecke zur Kompensation der Abstandsverkürzung während des Messvorgangs, kann im vorliegenden Fall nicht von einem standardisierten Messverfahren ausgegangen werden. Die für die Darstellung im Urteil geltenden Erleichterungen bei standardisierten Messverfahren konnten daher nicht greifen.

Damit war die erfolgte Messung als solche zwar nicht per se unverwertbar.; indes musste das Gericht von einem individuellen Messverfahren ausgehen, das nicht mehr die Vermutung der Richtigkeit und Genauigkeit für sich in Anspruch nehmen kann (vgl. hierzu und dem Folgenden: Kammergericht („Ort 01“), Beschluss vom 23. Juli 2018, Az. 3 Ws (B) 157/18). Sofern das Gericht eine Verurteilung des Betroffenen gleichwohl auf ein solches, durch den Mangel eines Verstoßes gegen die Gebrauchsanweisung belastetes, Messergebnis stützen möchte, ist es gehalten, die Korrektheit der Messung individuell zu überprüfen.

Diesen Anforderungen genügt das zur Überprüfung stehende Urteil nicht. Die Urteilsgründe enthalten nicht die erforderlichen Feststellungen hinsichtlich einer individuellen Überprüfung der Messung und genügen damit nicht den Anforderungen an die Darstellung eines außerhalb eines standardisierten Messverfahrens zustande gekommenen Messergebnisses.

Lediglich ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass das Urteil auch nicht den Anforderungen an die Darstellung bei einem standardisierten Messverfahren genügt, wonach in den Urteilsgründen das angewandte Verfahren, das Messergebnis und der vorgenommene Toleranzabzug in den Urteilsgründen mitzuteilen ist (BGH, Beschluss vom 19. August 1993, Az. 4 StR 627/92). Die Angaben zum Messverfahren und zum Toleranzwert bilden die Grundlage einer ausreichenden, nachvollziehbaren Beweiswürdigung. Der Toleranzwert ist indes dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen.

Da das angefochtene Urteil bereits auf Grund der begründeten Sachrüge in vollem Umfang aufzuheben war, bedurfte es keines Eingehens auf die weiteren erhobenen Rügen.