Gericht | VG Cottbus 9. Kammer | Entscheidungsdatum | 22.04.2024 | |
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Aktenzeichen | VG 9 L 52/23 | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2024:0422.9L52.23.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | 2 Durchführungsbeschluss (EU)2022/382 Art., § 24 AufenthG, § 81 AufenthG, Aufenth ÜV Ukraine |
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Herrn Rechtsanwalt T_____aus B_____wird abgelehnt, weil die Rechtsverfolgung – wie es sich aus den nachstehenden Gründen ergibt – keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 Abs. 1 S. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i. V. m. § 114 Abs. 1 S. 1 und § 121 Abs. 1 Zivilprozessordnung der (ZPO)).
Der auf einstweiligen Rechtsschutz gerichtete Antrag des Antragstellers hat keinen Erfolg.
Dabei ist bereits zweifelhaft, ob das wörtlich gestellte Antragsbegehren,
den Antragsgegner einstweilen zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in dem Widerspruchsverfahren vor dem Antragsgegner eine Duldungsbescheinigung zu erteilen und dem Antragsgegner vorläufig zu untersagen, die Abschiebung des Antragstellers durchzuführen,
welches einen Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO darstellt, nicht bereits unstatthaft und damit unzulässig ist. Denn, wie sich aus § 123 Abs. 5 VwGO ergibt, ist vorrangig um einstweiligen Rechtsschutz nach §§ 80 und 80a VwGO nachzusuchen, wenn und soweit es um die vorläufige Vollziehbarkeit eines Verwaltungsaktes geht (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 123 Rdn. 4). Vorliegend spricht viel dafür, dass der Fall hier so liegt.
Gemäß § 84 Abs. 1 Nr. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) hat ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung der Erteilung einer beantragten Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung. Für die hier in Rede stehende Frage, ob einem Rechtsbehelf (hier eines Widerspruchs) aufschiebende Wirkung zukommt bzw. ob das Gericht gemäß § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage anordnen kann, ist sodann entscheidend, ob die Ablehnung des Antrags des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis eine belastende Rechtsfolge für den Antragsteller ausgelöst hat, die im Sinne von § 80 Abs. 5 VwGO durch Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs suspendiert werden könnte. Eine solche belastende Rechtsfolge kann sich, soweit es wie hier um einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis geht, aus dem Wegfall einer Fiktionswirkung im Sinne des § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG ergeben (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. September 2014 - OVG 11 S 49.14 -, juris Rn. 3; Beschluss vom 25. November 2014 - OVG 7 S 54.14 -, juris Rn. 3). Maßgeblich ist daher, ob der Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis eine für ihn vorteilhafte Fiktionswirkung ausgelöst hat.
Allerdings greift zu Gunsten des Antragstellers nicht die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Gemäß § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gilt der Aufenthalt eines Ausländers, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ohne – wie der Antragsteller – einen Aufenthaltstitel zu besitzen, bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als erlaubt. Vorliegend kann sich der Antragsteller auf § 2 der Verordnung zur vorübergehenden Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels von anlässlich des Krieges in der Ukraine eingereisten Personen (Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung – UkraineAufenthÜV –) berufen. Nach § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV (Absatz 2 kommt von vornherein nicht in Betracht, da der Antragsteller kein ukrainischer Staatsbürger und auch kein anerkannter Flüchtling ist und ihm in der Ukraine auch kein internationalen oder gleichwertiger nationaler Schutz gewährt wurde) sind Ausländer, die sich am 24. Februar 2022 in der Ukraine aufgehalten haben und die bis zum 4. März 2024 in das Bundesgebiet eingereist sind, ohne den für einen langfristigen Aufenthalt im Bundesgebiet erforderlichen Aufenthaltstitel zu besitzen, für einen Zeitraum von 90 Tagen ab dem Zeitpunkt der erstmaligen Einreise in das Bundesgebiet vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit (§ 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV). Hiervon ausgehend ist indes festzustellen, dass der Antragsteller ausweislich seines am 23. November 2022 gestellten Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bereits am 6. März 2022 in das Bundesgebiet eingereist ist, mithin die Stellung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erst nach Ablauf des (auf 90 Tage begrenzten) rechtmäßigen Aufenthalts im Sinne des § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV erfolgte, so dass eine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG im Falle des Antragstellers nicht eingetreten ist.
In den Genuss der Erlaubnisfiktion im Sinne des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG kommt der Antragsteller auch nicht mit Blick darauf, dass der Antragsgegner dem Antragsteller unter dem 29. Dezember 2022 eine Fiktionsbescheinigung ausgestellt hat, die als Rechtsgrundlage ausdrücklich § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG benennt. Denn bei einer Fiktionsbescheinigung auf Grundlage des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG handelt es sich lediglich um ein deklaratorisches Dokument und nicht um einen Verwaltungsakt, der die Rechtslage feststellt oder gestaltet (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Juni 1997 – 1 C 7/96 – juris Rn. 27; BayVGH, Beschluss vom 28. Januar 2016 – 10 CE 15.2653 – juris Rn. 26).
Allerdings spricht vieles dafür, dass der Antragsteller infolge seiner Antragstellung in den Genuss einer Duldungsfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG gekommen ist. Nach dieser Norm gilt: Wird der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verspätet gestellt, gilt ab dem Zeitpunkt der Antragstellung bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde die Abschiebung als ausgesetzt. In den Genuss einer fiktiven Duldung gelangt demnach, wer ohne einen Aufenthaltstitel über einen rechtmäßigen Aufenthalt verfügte und erst nach dessen Beendigung einen Aufenthaltstitel beantragt. Begünstigt wird mithin, wer eigentlich eine Erlaubnisfiktion im Sinne des § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG hätte erreichen können, aber den Antrag verspätet stellt (vgl. Samel, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, AufenthG § 81 Rn. 38).
Problematisch ist im Zusammenhang mit einer Duldungsfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG allenfalls, ob der Antrag noch verspätet im Sinne dieser Vorschrift gestellt worden ist. Insoweit wird in Teilen der Rechtsprechung vertreten, dass der Antrag in einem zeitlichen Zusammenhang mit dem rechtmäßigen Aufenthalt gestellt worden ist, da andernfalls nicht mehr ein verspäteter Antrag vorliege, sondern einer, der vom Voraufenthalt losgelöst sei (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 25. April 2012 – 18 B 1181/11 – juris Rn. 34, VG Düsseldorf, Beschluss vom 24. Januar 2011 – 27 L 1633/10 – juris Rn. 28 ff.; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 11. Oktober 2011 – 16 L 742/11 – juris Rn. 6). Als Orientierungspunkte für die maximale zeitliche Grenze, innerhalb derer die Antragstellung mit dem vorausgegangenen rechtmäßigen Aufenthalt noch eine rechtliche Einheit bildet und damit nach der vorgenannten Auffassung die Duldungsfiktionswirkung auslösen kann, könnten die Fristen von sechs Monaten nach § 81 Abs. 2 Satz 2 AufenthG und von drei Monaten nach § 41 Abs. 3 AufenthV herangezogen worden. Maßgeblich seien aber stets die Umstände des Einzelfalls und die konkrete Situation, in der sich der betreffende Ausländer jeweils befinde (VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 11. Oktober 2011, a.a.O., juris Rn. 9). Dieses Verständnis der Norm des § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zugrunde gelegt, könnte im Falle des Antragstellers durchaus anzunehmen sein, dass er nicht in den Genuss einer Duldungsfiktion gekommen ist, da er den Antrag auf Erteilung erst am 23. November 2022 und damit mehr als 5 Monate nach Ablauf des rechtmäßigen Voraufenthalts (90 Tage ab dem Tage der Ersteinreise) gestellt hat. Für den Antragsteller könnte dann im Einzelfall zwar noch sprechen, dass er den Antrag nach § 24 Abs. 1 AufenthG erst stellen konnte, nachdem das der Zentralen Ausländerbehörde (ZABH) obliegende Zuweisungsverfahren abgeschlossen und für seine Person eine Zuweisungsentscheidung erlassen wurde (vgl. zum Vorrang des Zuweisungsverfahrens im Verhältnis zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG: OVG Bremen, Beschluss vom 6. Juni 2023 – 2 B 58/23 – juris Rn. 29 f.) und zudem bei dem Antragsteller keine Umstände für einen Wechsel des Aufenthaltszwecks (etwa zum Zwecke des Besuchs zu einem Daueraufenthalt) erkennbar sind, sondern er sich von Anfang an in das Bundesgebiet begeben haben dürfte, um den kriegerischen Geschehnissen in der Ukraine auszuweichen.
Dies bedarf letztlich ebensowenig einer abschließenden Entscheidung, wie die Frage, ob die Kammer der angeführten Rechtsmeinung des OVG Münster und der nordrhein-westfälischen Verwaltungsgerichte oder der Gegenansicht (vgl. hierzu: Bergmann/Dienelt/Samel, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 81 Rn. 44 „ohne Rücksicht auf das Ausmaß der Verspätung“) folgen würde. Denn ein im Falle des Bestehens einer Duldungsfiktion statthafter Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hat – sollte der Antrag vom 23. November 2023 keine Fiktionswirkung ausgelöst haben – ebenso wie ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO keinen Erfolg.
Die bei einem (statthaften) Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung fällt zu Lasten des Antragstellers aus. Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs – hier des Widerspruchs – in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung des Verwaltungsaktes gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet worden ist, wiederherstellen und in den Fällen, in denen – wie hier nach § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG – einem Rechtsbehelf die aufschiebende Wirkung von vornherein nicht zukommt, anordnen, wenn das private Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts überwiegt. Maßstab der Entscheidung im vorliegenden Eilverfahren gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist dabei eine umfassende Interessenabwägung. Erweist sich hierbei der angegriffene Verwaltungsakt als offensichtlich rechtswidrig, überwiegt das private Aussetzungsinteresse, da nach dem Rechtsstaatsgebot des Artikel 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) an der sofortigen Vollziehung eines noch nicht bestandskräftigen, offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsakts ein öffentliches Interesse nicht bestehen kann. Dagegen überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts das private Interesse des Antragstellers, von der Vollziehung vorläufig verschont zu bleiben, regelmäßig dann, wenn sich der Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig erweist.
Hieran gemessen, fällt die Interessenabwägung zu Lasten des Antragstellers aus. Denn die Ablehnung der vom Antragsteller begehrten Aufenthaltserlaubnis mit dem Bescheid des Antragsgegners vom 9. Februar 2023 erweist sich als rechtmäßig. Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG. Danach wird einem Ausländer, dem auf Grund eines Beschlusses des Rates der Europäischen Union gemäß der Richtlinie 2001/55/EG vorübergehender Schutz gewährt wird und der seine Bereitschaft erklärt hat, im Bundesgebiet aufgenommen zu werden, [...] für die nach den Artikeln 4 und 6 der Richtlinie bemessene Dauer des vorübergehenden Schutzes eine Aufenthaltserlaubnis erteilt.
Für diejenigen Personen, die von dem Krieg Russlands gegen die Ukraine betroffen sind, liegt ein solcher Beschluss des Rates der Europäischen Union mit dem Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 des Rates vom 4. März 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes vor. Nach Artikel 2 Abs. 1 des Beschlusses 2022/382 gilt dieser Beschluss für Gruppen von Personen, die am oder nach dem 24. Februar 2022 infolge der militärischen Invasion der russischen Streitkräfte aus der Ukraine vertrieben wurden, soweit es sich um ukrainische Staatsangehörige, die vor dem 24. Februar 2022 ihren Aufenthalt in der Ukraine hatten (Buchstabe a) oder um Staatenlose und Staatsangehörige anderer Drittländer als der Ukraine, die vor dem 24. Februar 2022 in der Ukraine internationalen Schutz oder einen gleichwertigen nationalen Schutz genossen haben (Buchstabe b) oder um Familienangehörige der unter den Buchstaben a und b genannten Personen (Buchstabe c) handelt. Der Antragsteller gehört einer der in Artikel 2 Abs. 1 Buchstaben a bis c des Beschlusses 2022/382 genannten Gruppen von Personen nicht an.
Nach Artikel 2 Abs. 2 des Beschlusses 2022/382 wenden die Mitgliedstaaten darüber hinaus entweder diesen Beschluss oder einen angemessenen Schutz nach ihrem nationalen Recht auf Staatenlose und Staatsangehörige anderer Drittländer als der Ukraine an, die nachweisen können, dass sie sich vor dem 24. Februar 2022 auf der Grundlage eines nach ukrainischem Recht erteilten gültigen unbefristeten Aufenthaltstitels rechtmäßig in der Ukraine aufgehalten haben, und die nicht in der Lage sind, sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückzukehren.
Der Antragsteller ist zwar Inhaber eines von der Ukraine erteilten unbefristeten Aufenthaltstitels, was er durch Vorlage des entsprechenden ukrainischen Dokuments auch hinreichend glaubhaft gemacht hat. Er dürfte auch Vertriebener im Sinne dieses Durchführungsbeschlusses sein; dass dabei ein Staatsangehöriger anderer Drittländer als der Ukraine – wie der Antragsteller – ebenfalls in Folge des Angriffs Russlands auf die Ukraine vertrieben worden sein muss, ergibt sich daraus, dass die Mitgliedstaaten nach Artikel 2 Abs. 2 des Beschlusses 2022/382 „diesen Beschluss“ und damit auch die Vorschrift des Artikel 2 Absatz 1 des Beschlusses 2022/382 auf die in Absatz 2 definierten Personen anwenden mithin auch die tatbestandliche Voraussetzung, dass die betreffende Person am oder nach dem 24. Februar 2022 infolge der militärischen Invasion der russischen Streitkräfte, die an diesem Tag begann, aus der Ukraine vertrieben wurde. Dass hieran für die Person des Antragstellers durchgreifende Zweifel bestehen könnten, ist nicht ersichtlich.
Der Antragsteller erfüllt aber nicht die weitere Voraussetzung nach Artikel 2 Abs. 2 des Beschlusses 2022/382, wonach erforderlich ist, dass er nicht in der Lage ist, sicher und dauerhaft in sein Herkunftsland oder seine Herkunftsregion zurückzukehren. Nach der „Mitteilung der Kommission zu operativen Leitlinien für die Umsetzung des Durchführungsbeschlusses 2022/382 des Rates zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes“ (Amtsblatt der Europäischen Union C 126 I/1 vom 21. März 2022) sollte die betreffende Person für eine „dauerhafte“ Rückkehr aktive Rechte in ihrem Herkunftsland oder ihrer Herkunftsregion in Anspruch nehmen können, damit sie Perspektiven für die Deckung ihrer Grundbedürfnisse in ihrem Herkunftsland/ihrer Herkunftsregion und die Möglichkeit der Reintegration in die Gesellschaft hat. Bei der Beurteilung, ob eine „sichere und dauerhafte“ Rückkehr möglich ist, sollten sich die Mitgliedstaaten auf die allgemeine Lage im Herkunftsland oder der Herkunftsregion stützen.
Hiervon ausgehend ergibt sich aus dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes, dass eine Rückkehr vietnamesischer Staatsangehöriger aus Deutschland in ihr Herkunftsland sowohl rechtlich als auch tatsächlich möglich ist und in den vergangenen Jahren unter Geltung eines zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Vietnam geschlossenen Reintegrationsabkommens auch in tausenden Fällen erfolgt ist. Probleme bestehen weder in Bezug auf die Sicherung des Existenzminimums des Antragstellers, bei dem es sich um einen ersichtlich gesunden (das Vorhandensein von Krankheiten hat der Antragsteller in seinem Antrag vom 23. November 2022 ausdrücklich verneint) und arbeitsfähigen (in seinem späteren Antrag vom 3. Februar 2023 hat der Antragsteller ausdrücklich angegeben, dass er arbeiten werde) Mann handelt, noch bezogen auf die medizinische Versorgung (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Sozialistischen Republik Vietnam, Stand: November 2022, S. 19 ff. und Stand: November 2023, S. 20 ff.; so schon: VG Frankfurt (Oder), Beschluss vom 16. Januar 2023 – 3 L 376/22 – juris Rn. 20). Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung für das Land Vietnam, das im vergangenen Jahrzehnt eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von knapp 7 % verzeichnete. Selbst im Zuge der der COVID-19-Pandemie erzielte Vietnam 2020 ein Wirtschaftswachstum, das sich nach Angaben des Internationalen Währungsfonds auf 2,9 % belief. Dies war eine der weltweit höchsten Wachstumsraten in diesem Zeitraum. 2022 belief sich das Wirtschaftswachstum auf real 8 %. Auch haben arme Menschen ab einem Alter von 60 Jahren grundsätzlich Anspruch auf Sozialhilfe, wobei die Leistungen ab 80 Jahren steigen. Allerdings reichen die Leistungen allein in der Regel zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht aus. Bestimmte arme Bevölkerungsgruppen (u. a. ältere Menschen, Angehörige ethnischer Minderheiten) können indes zur Deckung ihrer Lebenshaltungskosten öffentliche Zahlungen, Darlehen, Lebensmittel und Gesundheitsversorgung erhalten (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderkurzinformation Vietnam, Wirtschafts- und Gesundheitssystem, Stand: 11/2023, m.w.N.).
Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass ihm eine Einreise nach Vietnam nicht sicher möglich sein wird; dass ihm in Vietnam z.B. eine Verfolgung drohen könnte, trägt er selbst nicht vor. Nichts anderes folgt vor dem Hintergrund, soweit der Antragsteller darauf verweist, dass ihm eine Rückführung nach Vietnam aufgrund seines bisherigen langjährigen gemeinsamen Familienlebens (er ist mit der Antragstellerin des Verfahrens VG 9 L 51/23 verheiratet, deren Antrag mit Beschluss vom heutigen Tage ebenfalls abgelehnt worden ist) in der Ukraine unzumutbar sei. Der Antragsteller ist gesund und arbeitsfähig. Er spricht zudem offensichtlich die Sprache seines Heimatlandes, denn er ist in Vietnam geboren und hat sich ausweislich der Stempeleintragungen in seinem (alten) Reisepass vor seinem Aufenthalt in der Ukraine dort auch aufgehalten. Im Übrigen übersieht der Antragsteller mit seiner auf sein Leben in der Ukraine abstellenden Argumentation, dass es Intention der Massenzustrom-Richtlinie sowie ihrer durch Deutschland erfolgten Umsetzung ist, dass vor dem russischen Angriffskrieg geflohenen nicht-ukrainischen Staatsangehörigen mit einem nicht lediglich zu einem Kurzaufenthalt berechtigenden Aufenthaltstitel in der Ukraine Schutz gewährt werden soll, denen eine Rückkehr in ihr eigenes Herkunftsland verwehrt ist. Anderen Drittstaatsangehörigen ist es durchaus zumutbar, primär den Schutz ihres eigenen Staates in Anspruch zu nehmen, in ihre eigenen Herkunftsländer zurückzukehren und ggf. dort eine Beendigung der kriegerischen Ereignisse in der Ukraine abzuwarten (vgl. OVG Magdeburg, Beschluss vom 15. Januar 2024 – 2 M 60/23 – juris Rn. 29). Dies gilt auch für den Antragsteller. Insoweit dürfte es auch nicht darauf ankommen, ob der Antragsteller in der Ukraine verwurzelt gewesen ist und dort eine engere Beziehung zu dem Land hatte als zu Vietnam, denn eine in die Verhältnisse der Ukraine etwaig vorhandene Verwurzelung endete durch den russischen Angriff und die dadurch verursachte Aufgabe des Aufenthalts des Drittstaatsangehörigen in der Ukraine. Dafür, dass in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland eine tiefergehende Beziehung bestehen könnte als im Vergleich zu dem Land seiner Staatsangehörigkeit (Vietnam), bestehen keine Anhaltspunkte. Dass der Antragsteller insbesondere eine Verwurzelung in die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland gelten machen könnte, trägt er auch selbst nicht vor.
Zu Gunsten des Antragstellers wirken sich dann auch nicht die Schreiben des Bundesministeriums des Innern und Heimat betreffend die „Umsetzung des Durchführungsbeschlusses des Rates zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes“ vom 14. April 2022 und 5 September 2022 aus. Abgesehen davon, dass es sich hierbei um bloße Umsetzungshinweise handelt und es ihnen an einer Bindungswirkung fehlen dürfte (vgl. hierzu: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 26. Oktober 2022 – 11 S 1467/22 – juris Rn. 22), greifen die dort gemachten Ausführungen zu Gunsten des Antragstellers nicht. In dem Schreiben heißt es (dort Seite 5; abrufbar z.B. unter: https://fr-hessen.de/wp-content/uploads/2022/09/2022-09-05_-BMI-voruebergehender-Schutz-Ukraine.pdf) wie folgt:
„Bei Personen, die sich mit einem nach ukrainischem Recht erteilten gültigen unbefristeten Aufenthaltstitels rechtmäßig in der Ukraine aufgehalten haben, ist prima facie von einer maßgeblichen Verbindung in der Ukraine und damit davon auszugehen, dass sie nicht in der Lage sind, sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland zurückzukehren, weil eine engere (Wortlaut der Kommission: „sinnvollere“) Bindung zur Ukraine besteht als zum Herkunftsstaat. Die entsprechende prima facie-Schlussfolgerung ist widerleglich.“
Abgesehen davon, dass sich die Ausführungen des Bundesministeriums des Innern und für Heimat offensichtlich auf eine Passage in der „Mitteilung der Kommission zu operativen Leitlinien für die Umsetzung des Durchführungsbeschlusses 2022/382 des Rates […]“ (Amtsblatt EU vom 21.3.2022, dort Seite 5) beziehen, die Personen betrifft, die gemäß dem Ratsbeschluss gerade keinen Anspruch auf vorübergehenden Schutz oder angemessenen Schutz nach nationalem Recht haben, und in Bezug auf die die Kommission „die Mitgliedstaaten nachdrücklich ermutigt, die Ausdehnung des vorübergehenden Schutzes zu erwägen“, wovon der deutsche Gesetz- oder Verordnungsgeber indes keinen Gebrauch hat, ist die vom Ministerium des Innern und für Heimat angenommene „Schlussfolgerung“ widerleglich. Hinsichtlich des Antragstellers, der aus Vietnam stammt und der – wie oben festgestellt – dorthin im Sinne von Artikel 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses 2022/382 des Rates sicher und dauerhaft zurückkehren kann, wäre auch eine solche „Schlussfolgerung“ widerlegt.
Soweit der Antragsgegner darüber hinaus geprüft hat, ob dem Antragsteller eine Aufenthaltserlaubnis aus anderen Gründen (§ 25, § 25a und § 25b AufenthG) zustehen könnte, ist auch deren Ablehnung rechtmäßig; die Kammer verweist insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen in dem angegriffenen Bescheid und macht sich diese zu eigen.
Auch die Abschiebungsandrohung (Ziffer 2 des angegriffenen Bescheides) ist rechtmäßig. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 58, 59, 50 Abs. 1 AufenthG. Der Antragsteller ist (spätestens) nach Ablehnung seines Antrags auf Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis vollziehbar ausreisepflichtig, so dass ihm die Abschiebung in sein Heimatland Vietnam anzudrohen ist. Auch in Bezug auf die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das seine Rechtsgrundlage in § 11 Abs. 1 AufenthG findet, sind rechtliche Bedenken nicht ersichtlich.
Bleibt nach alledem ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO erfolglos, so bleibt dem Eilrechtsschutzbegehren auch dann der Erfolg versagt, wenn – wie oben näher ausgeführt – ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mangels Fiktionswirkung des gestellten Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis unstatthaft wäre und das Antragsbegehren dann darauf zu richten wäre, dass der Antragsteller im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO begehren würde, ihn für die Dauer des Widerspruchsverfahrens zu dulden. Der dafür erforderliche Anordnungsanspruch ist nicht glaubhaft gemacht. Eine Duldung zur Sicherung des Aufenthaltstitels kommt vorliegend schon deshalb nicht in Betracht, weil die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis – wie schon festgestellt – rechtmäßig ist. Auch sonst ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass einer Abschiebung des Antragstellers Abschiebungsverbote oder andere rechtliche Duldungsgründe im Sinne des § 60a Abs. 2 AufenthG entgegenstehen würden. Soweit der Antragsteller derzeit aus tatsächlichen Gründen nicht abgeschoben werden kann, etwa weil der Antragsgegner eine Abschiebung des Antragstellers derzeit nicht forciert hat, hat der Antragsgegner dem bereits dadurch Rechnung getragen, dass er dem Antragsteller jeweils Duldungsbescheinigungen ausgestellt hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1 u. Abs. 2, 53 Abs. 3 Nr. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG). Das hiernach maßgebliche wirtschaftliche Interesse ist mit dem Auffangwert angemessen bewertet (vgl. Ziffer 8.1. des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit). Mit Blick auf die Vorläufigkeit der erstrebten Regelung hat die Kammer diesen Betrag halbiert.
Rechtsmittelbelehrung: