Gericht | OLG Brandenburg 2. Strafsenat | Entscheidungsdatum | 02.05.2024 | |
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Aktenzeichen | 2 Ws 44/24 | ECLI | ECLI:DE:OLGBB:2024:0502.2WS44.24.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird der Beschluss der 4. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 21. Februar 2024 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung – auch über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens – an das Landgericht Frankfurt (Oder) zurückverwiesen.
I.
Das Landgericht Frankfurt (Oder) verhängte gegen den Verurteilten durch seit dem 19. August 2023 rechtskräftiges Urteil vom 11. August 2023 eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten und erkannte wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen von dieser Strafe ein Jahr und sieben Monate als vollstreckt.
Durch Beschluss vom 21. Februar 2024 hat die erkennende Strafkammer des Landgerichts unter Berücksichtigung der Anrechnung der vollzogenen Untersuchungshaft von 268 Tagen den Rest der Gesamtfreiheitsstrafe nach Verbüßung von mehr als der Hälfte zur Bewährung ausgesetzt. Von einer mündlichen Anhörung des Verurteilten hat das Landgericht auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Staatsanwaltschaft der Bewährungsaussetzung entgegengetreten ist, abgesehen, „da zwei der drei hier entscheidenden Richter als erkennende Richter im Rahmen der Hauptverhandlung am 11.8.2023 einen persönlichen Eindruck von dem Verurteilten gewonnen haben, insbesondere auch im Hinblick auf eine mögliche Reststrafenaussetzung zur Bewährung, die von der Verteidigung bereits in der Hauptverhandlung zur Sprache gebracht wurde“.
Die Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) hat gegen den Beschluss sofortige Beschwerde eingelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg ist dem Rechtsmittel beigetreten und beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Aussetzung des noch nicht vollstreckten Restes der Gesamtfreiheitsstrafe zu Bewährung abzulehnen.
II.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig und hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg, weil die angefochtene Entscheidung verfahrensfehlerhaft ergangen ist.
1. Entgegen der von der Staatsanwaltschaft vertretenen Auffassung ist die Aussetzung der restlichen Freiheitsstrafe bereits nach Verbüßung der Hälfte jedoch nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Verurteilte sich nicht in Strafhaft befindet und gegen ihn Strafhaft bislang auch nicht vollstreckt worden ist. Dies schließt die Anwendung von § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB nicht aus (OLG München, Beschl. v. 8. März 2016 – 3 WS 140/16, zitiert nach Juris).
Der Aussetzung des Strafrestes steht grundsätzlich nicht entgegen, dass die für die Reststrafenaussetzung maßgebliche Verbüßungsdauer bereits aufgrund der Anrechnung vollzogener Untersuchungshaft bzw. von Teilen der verhängten Strafe aufgrund von Kompensationsentscheidungen erreicht ist (vgl. § 57 Abs. 4 StGB) und der Verurteilte sich zu keiner Zeit in Strafhaft befunden hat (vgl. Schönke/Schröder/Kinzig, StGB 30. Aufl. § 57 Rdnr. 6). Dies gilt auch für die Aussetzung von Freiheitsstrafen von mehr als zwei Jahren zum Halbstrafenzeitpunkt (vgl. im Ergebnis BGH, Beschl. v. 14. April 2008 – 5 StR 598/07, zit. nach Juris), bei der eine Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit des Verurteilten und seiner Entwicklung während des Strafvollzuges zu der Beurteilung erforderlich ist, inwieweit besondere Umstände vorliegen (§ 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB). Dass in diesen Fällen mangels Verbüßung von Strafhaft die tatbestandlich vorgesehene Prüfung einer Entwicklung im Strafvollzug nicht möglich ist, vermag die Anwendung der Norm nicht auszuschließen und eine ansonsten vorliegende Benachteiligung von Verurteilten aufgrund von Umständen, die regelmäßig nicht in ihrer Einflusssphäre liegen, nicht zu rechtfertigen. Dem Umstand, dass eine Behandlung im Strafvollzug bei der Beurteilung der Entwicklung des Verurteilten keine Berücksichtigung finden kann, ist insoweit dadurch Rechnung zu tragen, dass bei diesen Fallgestaltungen – zur Kompensation des Beurteilungsdefizits – die Würdigung zum Vorliegen besonderer Umstände regelmäßig einer besonders sorgfältigen und eingehenden Untersuchung und Prüfung der Entwicklung des Verurteilten außerhalb des Vollzugs bedarf.
2. Die angefochtene Entscheidung kann gleichwohl keinen Bestand haben, weil das Landgericht verfahrensfehlerhaft von der erforderlichen Durchführung einer mündlichen Anhörung abgesehen hat (§ 454 Abs. 1 Satz 3 StPO).
Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg hat sich hierzu u.a. wie folgt geäußert:
Der Zweck der Anhörung liegt zum einen in der Gewährung rechtlichen Gehörs und zum anderen darin, den Sachverhalt zu ermitteln und sich durch einen unmittelbaren und aktuellen persönlichen Eindruck von dem Verurteilten eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage zu verschaffen (Senatsbeschluss vom 09.11.2023 — 2 Ws 147/23). Lediglich in den Fällen des § 454 Abs. 1 Satz 4 StPO kann ausnahmsweise von der mündlichen Anhörung abgesehen werden. Ein solcher Fall liegt hier schon wegen der ablehnenden Stellungnahme der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) vom 19. Januar 2024 (BI. 5474 ff. d. A.) nicht vor.
Darüber hinaus ist entgegen der Ansicht der Kammer auch kein sonstiger unbenannter Ausnahmefall gegeben. Zwar ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannt, dass von der mündlichen Anhörung abgesehen werden kann, wenn das entscheidende Gericht bereits zuvor in nahem zeitlichem Zusammenhang Gelegenheit hatte, sich einen persönlichen Eindruck vom Verurteilten zu verschaffen, dieser Eindruck bis zur Entscheidung über die Aussetzung der Restfreiheitsstrafe fortwirkt und keine Umstände gegeben sind, die seine Ergänzung oder Auffrischung notwendig machen (BGH, Beschluss vom 05.05.1995 — StB 15/95 —BeckRS 1995, 11869; OLG Hamm, Beschluss vom 03.08.2010 — 1 Ws 412/10 — juris; KG Berlin, Beschluss vom 19.09.2012 — 2 Ws 270/12 — juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11.12.2012 — 2 Ws 451/12 — BeckRS 2012, 25373). Ein solcher Fall liegt aber nicht vor.
Es ist schon zweifelhaft, ob die Präsenz des Verurteilten in der Hauptverhandlung im Erkenntnisverfahren als "mündliche Anhörung" im Sinne des § 454 Abs. 1 StPO im Vollstreckungsverfahren angesehen werden kann. Dagegen sprechen bereits die unterschiedlichen Funktionen des Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahrens. Entgegen der Behauptung in den Beschlussgründen ist auch schwer vorstellbar, dass sich der Angeklagte im Rahmen seiner Einlassung in der Hauptverhandlung bereits zu allen für die Aussetzungsentscheidung maßgeblichen Gesichtspunkten geäußert hat. Abgesehen davon fehlt es an dem erforderlichen nahen zeitlichen Zusammenhang zwischen der am 11. August 2023 beendeten Hauptverhandlung und der Entscheidung der Strafkammer über die Strafaussetzung mit Beschluss vom 21. Februar 2024. In der obergerichtlichen Rechtsprechung wird überwiegend ein Zeitraum von nicht mehr als drei Monaten als enger zeitlicher Zusammenhang vorausgesetzt (KG Berlin a.a.O.; OLG Karlsruhe a.a.O.; OLG Hamm a.a.O.). Schließlich haben nur zwei der drei an der Entscheidung über die Strafaussetzung beteiligten Richter an der Hauptverhandlung teilgenommen, so dass es einem Mitglied der Kammer gänzlich an dem erforderlichen persönlichen Eindruck von dem Verurteilten fehlte.“
Dieser zutreffenden Beurteilung der Sach- und Rechtslage tritt der Senat bei. Eine mündliche Anhörung war hier darüber hinaus auch deshalb nicht entbehrlich, weil bei der Prüfung des Vorliegens besonderer Umstände mangels Verbüßung von Strafhaft und eines fehlenden Berichtes aus dem Strafvollzug ein Beurteilungsdefizit besteht. Die Bewertung der Entwicklung des Verurteilten bedarf deshalb umso mehr einer auf aktuelle Tatsachen gestützten Untersuchung, für die eine zeitnah vor der Entscheidung durchzuführende mündliche Anhörung als wesentliche Erkenntnisquelle unentbehrlich ist.
Die verfahrensfehlerhaft unterbliebene mündliche Anhörung des Verurteilten kann durch den Senat im Beschwerdeverfahren nicht nachgeholt oder ersetzt werden und zwingt deshalb zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht (vgl. OLG Rostock NStZ 2002, 109; OLG Nürnberg NStZ-RR 2004, 318; KG NStZ-RR 2015, 323).