Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 7. Senat | Entscheidungsdatum | 28.06.2011 | |
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Aktenzeichen | L 7 KA 52/11 B ER | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 86b Abs 1 S 1 Nr 2 SGG |
1.) Die Feststellung einer unbilligen Härte i.S.d. § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG setzt regelmäßig den Vortrag vollständiger, nachvollziehbarer und schlüssiger Tatsachen über die aktuelle wirtschaftliche Situation des Antragstellers (aktuelle Einnahmen und Belastungen) voraus.
2.) Gewinnermittlungen eines Steuerberaters kommt grundsätzlich in sozialgerichtlichen Eilverfahren nicht mehr Glaubhaftigkeit zu als dem Vortrag eines Verfahrensbevollmächtigten.
3.) Anders als im Steuerrecht sind im sozialgerichtlichen Eilverfahren ggf. die Anschaffungskosten für Betriebsvermögen im Jahr der Anschaffung in vollem Umfang, jedenfalls aber in Höhe des nicht kreditierten, sofort fälligen Kaufpreises zu berücksichtigen.
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 02. März 2011 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 25.754 € festgesetzt.
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 02. März 2011 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat rechtsfehlerfrei den Antrag der Antragstellerin zurückgewiesen, die aufschiebende Wirkung ihrer unter dem Aktenzeichen S 79 KA 537/10 beim Sozialgericht Berlin anhängigen Klage gegen den Beschluss des Antragsgegners vom 28. September 2010 wegen der Überschreitung der Heilmittel-Richtgröße im Jahr 2007 anzuordnen.
1.) Nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage gegen eine einen Antragsteller belastende Entscheidung keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung dieser Rechtsbehelfe ganz oder teilweise anordnen. Ein derartiger Fall einer kraft Gesetzes nicht bestehenden aufschiebenden Wirkung ist hier gegeben. Gemäß § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG in Verbindung mit § 106 Abs. 5a Satz 11 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) hat die Klage gegen die Entscheidung des Beschwerdeausschusses über die Festsetzung eines Richtgrößenregresses keine aufschiebende Wirkung. Ein auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (der Klage) gerichteter Antrag hat dann Erfolg, wenn die Abwägung der Interessen der Beteiligten ergibt, dass das Interesse des Antragstellers an der Aussetzung des Vollzugs der Maßnahme das öffentliche Interesse des Antragsgegners an der sofortigen Durchsetzung überwiegt. Das ist wiederum grundsätzlich dann der Fall, wenn sich der angegriffene Bescheid als offensichtlich rechtswidrig erweist, da an der Durchsetzung rechtswidriger Verwaltungsakte kein öffentliches Interesse besteht. Wenn aber die Prüfung der Rechtmäßigkeit eines belastenden Verwaltungsaktes in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren besonders schwierig oder ohne weitere Ermittlungen nicht möglich ist, weil sie von der Klärung komplizierter Rechtsprobleme, etwa von einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm abhängt, die Entscheidung nur auf der Grundlage einer weiteren Sachaufklärung möglich ist, insbesondere die Anhörung der Beteiligten, von Zeugen oder die Beiziehung von Akten oder weiterer Unterlagen erfordert oder der Erörterung des Falles in der mündlichen Verhandlung unter Beteiligung der sachkundigen ehrenamtlichen ärztlichen Beisitzer bedarf, können die Sozialgerichte auf die summarische Prüfung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes verzichten. In einem solchen Fall ist der Erfolg einer Klage regelmäßig ebenso wahrscheinlich wie ihr Misserfolg, so dass es für ein Obsiegen in dem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes darauf ankommt, ob der Klage nach der Entscheidung des Gesetzgebers kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung zukommen soll oder nicht. Ist die aufschiebende Wirkung - wie im vorliegenden Fall - kraft Gesetzes ausgeschlossen, kann ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes in Anlehnung an § 86 a Abs. 3 Satz 2 SGB V nur dann Erfolg haben, wenn die Vollziehung für den Antragsteller eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
2.) Nach den vorstehenden Erwägungen ist es nicht zu beanstanden, dass das Sozialgericht auf eine abschließende rechtliche Prüfung der Rechtmäßigkeit der Festsetzung eines Richtgrößenregresses für die Verordnung von Heilmitteln im Kalenderjahr 2007 durch den Antragsgegner verzichtet und im Rahmen einer Interessenabwägung entschieden hat, weil eine eindeutige Prognose über die Erfolgsaussichten der Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid des Antragsgegners nicht möglich ist. Denn die in diesem Zusammenhang von den Beteiligten aufgeworfenen Fragen bedürfen einer eingehenden Prüfung in einem Hauptsacheverfahren. Der Senat folgt aus diesem Grund auch dem Beschluss der 22. Kammer des Sozialgerichts Berlin vom 01. April 2011 nicht, in dem diese die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen einen Beschluss des Antragsgegners zur Festsetzung eines Richtgrößenregresses für die Verordnung von Heilmitteln im Jahr 2006 angeordnet hat (S 22 KA 83/11 ER). Denn ob die Auffassung der 22. Kammer des Sozialgerichts zutreffend ist, dass die Berechnung der Richtgrößen für Heilmittel für fachübergreifende Gemeinschaftspraxen, Medizinische Versorgungszentren u.a. im vorliegenden Fall nicht nach der Heilmittel-Richtgrößenvereinbarung 2006 hätte vorgenommen werden dürfen, obwohl diese Vereinbarung für die Richtgrößenprüfung vom Antragsgegner zu beachten war, oder dieser das Prüfungsergebnis jedenfalls über die Anerkennung von Praxisbesonderheiten hätte korrigieren müssen, bedarf der Klärung in einem Hauptsacheverfahren.
3.) Das Sozialgericht hat auch beanstandungsfrei ausgeschlossen, dass die Vollziehung der angegriffenen Verwaltungsentscheidung zu einer unbilligen Härte für die Antragstellerin führen würde. Denn die Antragstellerin hat weder im sozialgerichtlichen Verfahren noch im Beschwerdeverfahren nachvollziehbaren Angaben über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse gemacht, die den Schluss zuließen, dass die Vollziehung der Regressentscheidung für sie zu unzumutbaren Folgen führen würde.
Der Prüfung der unbilligen Härte ist im vorliegenden Verfahren jedenfalls nach der stattgebenden Entscheidung der 22. Kammer des Sozialgerichts Berlin in dem das Kalenderjahr 2006 betreffenden Fall nur noch der vom Antragsgegner mit Beschluss vom 28. September 2010 festgesetzte Regressbetrag für 2007 in Höhe von 51.508,14 € zu grunde zu legen. Denn für den in dem Parallelverfahren festgesetzten Regressbetrag in Höhe von 43.547,16 € droht der Antragstellerin bis zur rechtskräftigen Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren keine Vollziehung, weil die 22. Kammer des Sozialgerichts die aufschiebende Wirkung der dagegen gerichteten Klage unbefristet angeordnet hat.
Es ist derzeit nicht zu erkennen, dass die Antragstellerin nicht in der Lage wäre, diese Summe bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu zahlen, ohne unzumutbaren Belastungen, insbesondere einer Existenzgefährdung, ausgesetzt zu sein. Für die Beurteilung ihrer wirtschaftlichen Situation sind grundsätzlich die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats maßgeblich, für die die Antragstellerin dem Senat keine vollständigen Angaben gemacht hat. Berücksichtigt man die Schwierigkeiten, im laufenden Kalenderjahr valide Ergebnisse zur aktuellen wirtschaftlichen Situation vorzulegen, so ist der Antragstellerin jedenfalls zuzumuten, solche Angaben für das nunmehr knapp sechs Monate abgelaufene Kalenderjahr 2010 zu machen. Auch insofern ist die Antragstellerin jedoch jeden brauchbaren Sachvortrag schuldig geblieben, obwohl bereits das Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss darauf hingewiesen hat, dass es zweifelhaft sei, ob für die Glaubhaftmachung der wirtschaftlichen Situation im Rahmen eines Eilverfahrens im Jahre 2011 eine Gewinn- und Verlustermittlung für das Jahr 2009 ausreichend sei. In Kenntnis der Tatsache, dass es für die sozialgerichtliche Entscheidung auf aktuelle Gewinnermittlungen ankommen könnte, hat die Antragstellerin in ihrer Beschwerde auch angekündigt, dass Gewinnermittlungen für das Jahr 2010 erstellt würden, die alsbald nachgereicht würden. Der Senat hat deshalb mit einer Entscheidung über die Beschwerde mehr als zwei Monate zugewartet, ohne dass die von der Antragstellerin angekündigte Gewinnermittlung vorgelegt worden wäre oder sie vorgetragen hätte, woran entsprechender Vortrag bislang gescheitert ist.
Die Feststellung einer unbilligen Härte durch die sofortige Vollziehung des Regressbetrages in Höhe von 51.508,14 € ist aber auch dann nicht möglich, wenn man die Angaben der Antragstellerin für das Kalenderjahr 2009 zu Grunde legt, weil sich aus diesen Angaben für das sozialgerichtliche Eilverfahren keine nachvollziehbare Darstellung der realen Belastung der Antragstellerin ergibt.
Das Sozialgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Antragstellerin nach der von ihr vorgelegten Gewinnermittlung vom 02. September 2010 im Kalenderjahr 2009 mindestens 582.446,92 € Jahreseinnahmen erzielt hat, so dass ihr monatlich durchschnittlich ca. 48.537 € Einnahmen zur Verfügung standen. Allerdings hat die Antragstellerin bis heute nicht angegeben, ob sie neben Einnahmen aus Zahlungen der gesetzlichen Krankenkassen und der behandelten Privatpatienten Zahlungen weiterer Kostenträger erhalten hat und an welcher Stelle ihrer Gewinnermittlung diese ggf. geltend gemacht werden. Worin der mathematische und betriebswirtschaftliche Fehler dieser Betrachtungsweise liegen soll, den die Beschwerde behauptet, hat die Antragstellerin nicht darzulegen vermocht.
Die Angaben der Antragstellerin sind jedoch nicht nur auf der „Einnahmeseite“ unvollständig, sondern auch auf der Ausgabeseite implausibel. Den Einnahmen sollen nämlich nach der Gewinnermittlung 2009 geltend gemachte Betriebsausgaben in Höhe von 656.852,68 € gegenüberstehen. Zu Recht hat das Sozialgericht insoweit gerügt, dass die Antragstellerin nicht dargelegt hat, warum sie Ausgaben für Sitzungsentschädigungen (7.500 €) und KV-Verwaltungs-kosten (10.934,11 €) tätigen musste, welche betriebsbezogenen Aufwendungen Zinsen für kurzfristige Verbindlichkeiten (11.752,75 €) erforderlich gemacht haben und welche praxisbezogenen Ausgaben im Einzelnen dem Posten „verschiedene Kosten“ (43.346,27 €) zu Grunde liegen. Nicht zur Begründung einer unbilligen Härte sind die geltend gemachten Kosten für Abschreibungen (insgesamt 30.857,46 €) einzubeziehen; denn diese stellen lediglich einen steuerlichen Rechnungsposten dar, der die reale wirtschaftliche Belastung der Antragstellerin im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht prägt. Anders als im Steuerrecht, das - vereinfacht gesagt - die Anschaffungskosten für ein Wirtschaftsgut auf die angenommene Zeitspanne seines Einsatzes als Gegenstand des Betriebsvermögens verteilt berücksichtigt, sind im sozialgerichtlichen Eilverfahren ggf. die Anschaffungskosten für Betriebsvermögen im Jahr der Anschaffung in vollem Umfang, jedenfalls aber in Höhe des nicht kreditierten, sofort fälligen Kaufpreises, zu berücksichtigen. Aber nicht nur insoweit weichen Steuerrecht und Sozialprozessrecht voneinander ab. Denn ein Antragsteller in einem sozialgerichtlichen Eilverfahren auf dem Gebiet des Vertragsarztrechts ist grundsätzlich nicht verpflichtet, für die von ihm behaupteten Betriebsausgaben wie in einem Steuerverwaltungsverfahren Belege vorzulegen. Stattdessen trifft ihn die Verpflichtung, geltend gemachte Betriebsausgaben dann zu erläutern, wenn sie außergewöhnlich sind, um dem Gericht die Betriebsbezogenheit und Notwendigkeit der geltend gemachten Betriebsausgaben darzulegen. Dies ist hier bei allen dargestellten Posten erforderlich: So ist z. B. völlig unklar, für welche „Sitzungen“ von der Antragstellerin Entschädigungen zu zahlen waren; von Vertragsärzten zu tragende Kosten für Verwaltungskosten der Kassenärztlichen Vereinigung zieht diese grundsätzlich bereits von dem auszukehrenden Quartalshonorar ab, so dass diese Beträge nach dem Honorarbescheid unmittelbar die Einnahmen der Vertragsärzte mindern und dann als Betriebsausgaben nicht noch einmal in Ansatz gebracht werden können. Im Hinblick auf diese Rechtslage hat der Senat davon abgesehen, den Jahresabschluss des Steuerberaters zu überprüfen und von der Antragstellerin Belege anzufordern, weil es darauf nicht ankam.
Die Rüge der Antragstellerin, dass das Sozialgericht mit seiner Entscheidung die Anforderungen an die Glaubhaftmachung im sozialgerichtlichen Eilverfahren überspannt habe, ist unberechtigt. Das Sozialgericht hält sich mit seiner Entscheidung vielmehr an die Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschluss vom 21. Januar 2010, L 7 KA 80/10 B ER, zitiert nach juris). Diese beruht darauf, dass eine Prüfung der Plausibilität steuerlicher Erklärungen im sozialgerichtlichen Eilverfahren nicht nur zulässig, sondern insbesondere im Hinblick auf die dargelegten Unterschiede zwischen Steuerrecht und Sozialprozessrecht auch erforderlich ist. Gewinn-ermittlungen eines Steuerberaters kommt im Übrigen in sozialgerichtlichen Eilverfahren nicht schlechthin Glaubhaftigkeit zu, weil es sich dabei der Sache nach ebenso um Beteiligtenvorbringen handelt, wie bei dem Vortrag eines Verfahrensbevollmächtigten. Soweit die Antragstellerin weiter rügt, dass das Sozialgericht ihr vor einer Entscheidung einen rechtlichen Hinweis hätte geben oder einen Sachverständigen hätte bestellen müssen, verkennt die Antragstellerin die rechtlichen Grundlagen des sozialgerichtlichen Eilverfahrens. Denn auch im Verfahren nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG darf das Gericht seine Entscheidung unter Beachtung von § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 294 Abs. 2 ZPO auf die ihm vorgelegten präsenten Beweismittel beschränken; das gilt erst Recht in Verfahren wie dem vorliegenden, in dem die Antragstellerin die besondere Eilbedürftigkeit des Verfahrens durch ihren Antrag auf Erlass eines so genannten Hängebeschlusses geltend gemacht hat. Jedenfalls kommt eine Aufhebung der sozialgerichtlichen Entscheidung im Beschwerdeverfahren wegen der Verletzung rechtlichen Gehörs nicht mehr in Betracht, weil die Antragstellerin im Hinblick auf die angefochtene Entscheidung damit rechnen musste, dass ihre Angaben zur Gewinnermittlung für das Jahr 2009 als implausibel eingeschätzt werden und sie hinreichend Gelegenheit hatte, eine nachvollziehbare Darstellung ihrer realen Belastung nachzuholen. Dass sie hiervon keinen Gebrauch gemacht, sondern sich stattdessen insoweit zur Begründung ihrer Beschwerde auf die unberechtigte Rüge der fehlenden wirtschaftlichen Sachkenntnis des Gerichts berufen hat, geht zu ihren Lasten. Im Ergebnis lässt sich deshalb nicht feststellen, dass die Regressforderung des Antragsgegners für die Antragstellerin zu einer nachhaltigen Gefährdung ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlage führen würde; eine unbillige Härte ist deshalb ausgeschlossen.
Da die Beschwerde deshalb ohne Erfolg bleibt, muss die Antragstellerin gemäß § 197 a SGG i. V. m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens tragen; die Festsetzung des Wertes des Verfahrensgegenstandes beruht auf § 197 a SGG i. V. m. §§ 52, 63 Gerichtskostengesetz.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).