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Familiennachzug, Elternnachzug, minderjähriges Kind im Bundesgebiet, syrische Staatsangehörigkeit, Anspruchsuntergang mit Erreichen der Volljährigkeit, internationaler Schutz, subsidiär schutzberechtigt, Einreise des minderjährigen Bruders mit den Eltern, Sicherung des Lebensunterhalts, Ausnahmefall, höherrangiges Recht, Verbleib eines Elternteils im Irak, Trennung der familiären Lebensgemeinschaft, Herstellung der Lebensgemeinschaft im Irak


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat Entscheidungsdatum 10.06.2024
Aktenzeichen OVG 3 S 32/24 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2024:0610.OVG3S32.24.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen Art 6 Abs 1 GG, Art 8 Abs 1 EMRK, § 36a Abs 1 Satz 1 AufenthG, § 36a Abs 1 Satz 2 AufenthG , § 5 Abs 1 Nr 1 AufenthG

Tenor

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 28. Mai 2024 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Beschwerde trägt die Antragsgegnerin.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde, mit der sich die Antragsgegnerin gegen die erstinstanzliche Verpflichtung zur Visumerteilung an den aus S____ stammenden und im I___ lebenden 13jährigen Antragsteller wendet, damit er gemeinsam mit seinen Eltern zu dem derzeit noch minderjährigen, subsidiär schutzberechtigten Bruder in das Bundesgebiet einreisen kann, ist nicht begründet. Das Beschwerdevorbringen, das nach § 146 Abs. 4 VwGO den Umfang der Überprüfung durch das Oberverwaltungsgericht bestimmt, rechtfertigt keine Änderung des angegriffenen Beschlusses.

Ohne Erfolg macht die Antragsgegnerin geltend, das Verwaltungsgericht habe fehlerhaft von der Sicherung des Lebensunterhaltes gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abgesehen, denn es liege hier kein atypischer Fall vor. Ein Ausnahmefall, der ein Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG rechtfertigt, ist zu bejahen, wenn besondere, atypische Umstände bestehen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, aber auch dann, wenn entweder aus Gründen höherrangigen Rechts wie Art. 6 oder Art. 2 Abs. 1 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 GRCh eine Abweichung geboten ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. August 2008 - 1 C 32.07 - juris Rn. 27; Urteil vom 22. Mai 2012 - 1 C 6.11 - juris Rn. 11; Urteil vom 15. August 2019 - 1 C 23.18 - juris Rn. 30). Die Feststellung eines derartigen Ausnahmefalles beruht auf einer wertenden Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 16.12 - juris Rn. 30). Es handelt sich nicht um eine Ermessensfrage, sondern um ein gerichtlich voll überprüfbares Tatbestandsmerkmal (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 16.12 - juris Rn. 16).

Gemessen daran hat der Antragsteller glaubhaft gemacht, dass ihm die fehlende Lebensunterhaltssicherung im Hinblick auf Art. 6 Abs.1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht entgegengehalten werden kann. Die Visumerteilung ist hier – wie der Senat bereits in ähnlichen Fällen entschieden hat (vgl. z.B. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Dezember 2023 – OVG 3 S 117/23 - juris) - geboten, um die familiäre Gemeinschaft des Antragstellers mit seinen Eltern als Kernfamilie aufrecht zu erhalten, denn die Eltern haben ein Visum nach § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG zum Nachzug zu ihrem im Bundesgebiet lebenden Sohn  dem Bruder des Antragstellers - erhalten. Eine auch nur vorübergehende Trennung des Antragstellers von seinen Eltern kommt im Hinblick auf sein Alter – er ist erst dreizehn Jahre alt – und den Aufenthalt außerhalb des Herkunftslandes S____ nicht in Betracht, weil dies mit dem Kindeswohl unvereinbar wäre. Dies gilt umso mehr, als sich die Dauer einer Trennung des Antragstellers von seinen Eltern  etwa bis zu einer den Nachzug uneingeschränkt rechtfertigenden Zuerkennung internationalen Schutzes für die Eltern durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder bis zu einer Erzielung eigener Einkünfte der Eltern durch Erwerbstätigkeit – nicht sicher prognostizieren lässt. Hinzu kommt, dass auch die Dauer eines (weiteren) Visumverfahrens unter Beteiligung des Beigeladenen ungewiss ist.

Soweit die Antragsgegnerin den Antragsteller auf ein zeitlich gestuftes Verfahren verweist, und meint, er müsse nach dem Willen des Gesetzgebers zunächst mit einem Elternteil im I___ verbleiben, um nach der Zuerkennung subsidiären Schutzes für den allein in das Bundesgebiet gereisten Elternteil ein weiteres Visumverfahren mit dem ebenfalls im I___ gebliebenen Elternteil zu betreiben, folgt der Senat dieser Argumentation nicht. Es ist den Eltern des Antragstellers nicht zuzumuten, dass nur ein Elternteil in das Bundesgebiet einreist, weil der Nachzugsanspruch des im Ausland verbleibenden Elternteils in wenigen Tagen untergeht (dazu BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 2022 – 1 C 31/21 – juris Rn. 11 ff.) und ein Nachzugsanspruch der restlichen Kernfamilie in zeitlicher Hinsicht ungewiss ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Dezember 2023 – OVG 3 S 117/23 – juris). Im Übrigen spricht auch die Argumentation der Antragsgegnerin eher für die Annahme eines Ausnahmefalles. Sie geht offensichtlich selbst davon aus, dass „langfristig kein Verlust des Nachzugsrechts“ drohe und die familiäre Lebensgemeinschaft letztlich im Bundesgebiet hergestellt werde. Warum es unter diesen Umständen entgegen höherrangigem Recht zumutbar wäre, zunächst das von der Antragsgegnerin geforderte Verfahren zu durchlaufen und eine (in zeitlicher Hinsicht) ungewisse Trennung in Kauf zu nehmen, ist für den Senat nicht ersichtlich. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass sich die Eltern des Antragstellers seit mehreren Jahren im I___ aufhalten und dort – wie die Antragsgegnerin geltend macht - nicht in prekären Verhältnissen leben.

Ebenso wenig dringt die Antragsgegnerin mit ihrem Argument durch, die familiäre Lebensgemeinschaft könne in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht im I___ gelebt werden. Unabhängig davon, ob dies zutrifft, steht dieser Auffassung entgegen, dass die Antragsgegnerin den gesetzlichen Anspruch der Eltern des Antragstellers auf Nachzug zu ihrem im Bundesgebiet lebenden international schutzberechtigten Sohn nach § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG anerkannt hat und davon ausgeht, dass nach der Einreise nur eines Elternteils auch die übrigen Familienmitglieder nach Durchführung eines weiteren Visumverfahrens gemäß § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG – ebenfalls unabhängig von der Sicherung des Lebensunterhaltes - nachziehen dürfen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die von der Antragsgegnerin für zumutbar gehaltene ungewisse Trennung des Antragstellers von einem Elternteil nicht damit rechtfertigen, ein Verbleib bzw. eine Rückkehr der gesamten Familie in den I___ sei rechtlich und tatsächlich möglich.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).