Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat | Entscheidungsdatum | 10.06.2024 | |
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Aktenzeichen | OVG 3 S 23/24 | ECLI | ECLI:DE:OVGBEBB:2024:0610.OVG3S23.24.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 33 AufenthG, § 81 Abs 2 Satz 2 AufenthG, § 81 Abs 3 Satz 1 AufenthG, § 81 Abs 3 Satz 2 AufenthG |
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 21. März 2024 wird insoweit geändert, als die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller gegen Ziffer 2 des Bescheides des Antragsgegners vom 6. Juni 2023 angeordnet wird. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens tragen die Antragsteller und der Antragsgegner jeweils zur Hälfte.
Die Kostenentscheidung für das erstinstanzliche Verfahren wird unter Berücksichtigung des rechtskräftig gewordenen Teils dahingehend neu gefasst, dass die Kosten von den Antragstellern des erstinstanzlichen Verfahrens zu 2/3 und von dem Antragsgegner zu 1/3 zu tragen sind.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
I.
Die Mutter der 2021 und 2023 im Bundesgebiet geborenen Antragsteller und Beschwerdeführer, ghanaische Staatsangehörige, ist ihren Angaben zufolge im August 2020 in das Bundesgebiet eingereist. Der ebenfalls aus Ghana stammende Vater der Antragsteller lebt seit vielen Jahren im Bundesgebiet, ist im Besitz einer befristeten Aufenthaltserlaubnis und erwerbstätig. Der Antragsgegner lehnte die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen mit Bescheid vom 6. Juni 2023 ab. Hiergegen haben die Antragsteller und ihre Mutter vor dem Verwaltungsgericht Klage erhoben und zugleich vorläufigen Rechtsschutz beantragt. Der Antrag der Mutter (im erstinstanzlichen Verfahren als Antragstellerin zu 1 bezeichnet) blieb ohne Erfolg, weil mangels Abschiebungshindernis keine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG beansprucht werden könne und eine Rückkehr nach Ghana zumutbar sei. Der Antrag der Antragsteller und Beschwerdeführer (im erstinstanzlichen Verfahren als Antragsteller zu 2 und 3 bezeichnet) sei zwar nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft, auch wenn ihnen wegen verspäteter Antragstellung (§ 81 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) keine Erlaubnis-, sondern nur eine Duldungsfiktion gemäß § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu Gute komme. Sie könnten jedoch insbesondere keine Aufenthaltserlaubnis nach § 33 Satz 1 AufenthG beanspruchen. Das ihm eingeräumte Ermessen habe der Antragsgegner fehlerfrei ausgeübt.
II.
Die Beschwerde der Antragsteller ist teilweise begründet. Das Beschwerdevorbringen, das den Umfang der Überprüfung durch das Oberverwaltungsgericht bestimmt (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigt eine Änderung der angegriffenen Entscheidung, soweit die Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Versagung der beantragten Aufenthaltserlaubnisse (Ziffer 2 des Bescheides vom 6. Juni 2023) begehren.
Die Beschwerde beanstandet zu Recht, dass der Antragsgegner das ihm nach § 33 Satz 1 AufenthG eröffnete Ermessen entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts nicht fehlerfrei ausgeübt hat. Danach kann einem Kind, das im Bundesgebiet geboren wird, abweichend von den §§ 5 und 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG von Amts wegen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein Elternteil einen der dort genannten Aufenthaltstitel besitzt. Grundsätzlich verfolgt § 33 AufenthG das Ziel, ein im Bundesgebiet geborenes Kind am rechtmäßigen Aufenthalt eines Elternteils teilhaben zu lassen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 2005 – 2 BvR 524/01 – juris Rn. 34 zu § 21 AuslG). § 33 Satz 1 AufenthG ermöglicht die familiäre Lebensgemeinschaft zwischen dem im Bundesgebiet geborenen Kind und dem hier aufenthaltsberechtigten Elternteil, indem dem Kind die Aufenthaltserlaubnis allein wegen des Aufenthaltsrechts dieses Elternteils erteilt werden kann (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 30. März 2021 – 11 S 3421/20 – juris Rn. 22). Bei der Ausübung des Ermessens soll in den Fällen des Satzes 1 der besonderen Beziehung zwischen den Eltern und dem Kleinkind unmittelbar nach der Geburt im Interesse der Gewährung der Familieneinheit und zur Aufrechterhaltung der nach Art. 6 Abs. 1 GG besonders geschützten familiären Gemeinschaft Rechnung getragen werden, wobei hinsichtlich des Vaters eines nichtehelichen Kindes insbesondere zu berücksichtigen ist, ob ihm ein Sorgerecht zusteht oder er in familiärer Lebensgemeinschaft mit seinem Kind lebt (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 176). Bei der Ausübung des Ermessens muss die Situation des Kindes umfassend in den Blick genommen werden, insbesondere das Kindeswohl, die mit dem Gesetz verfolgte Integrationserleichterung in Deutschland geborener Kinder und die Verwurzelung des Elternteils, von dem der Aufenthalt abgeleitet wird (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 4. Februar 2021 – 8 ME 2/21 – juris Rn. 16; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Juli 2022 – OVG 3 S 6/22 – juris Rn. 8; Hailbronner, AuslR, Stand: Januar 2024, § 33 AufenthG Rn. 4b).
Diesen Anforderungen werden – worauf die Beschwerde zutreffend hinweist – die Ermessenserwägungen des Antragsgegners in seinem Bescheid vom 6. Juni 2023 nicht hinreichend gerecht, § 114 Satz 1 VwGO. Weder das Fehlen einer nachhaltigen Integration der Antragsteller im Bundesgebiet noch das fehlende Aufenthaltsrecht der Mutter stellen das Ermessen sachgerecht leitende Gesichtspunkte dar. Die fehlende Integration von Kleinkindern bzw. deren Integrationsfähigkeit im Heimatstaat liegt auf der Hand und die Vorschrift räumt Ermessen gerade auch für den Fall ein, dass lediglich ein Elternteil einen der dort genannten Aufenthaltstitel besitzt. Ferner rügt die Beschwerde zu Recht, dass das Argument, aus dem Aufenthaltsrecht des Kindesvaters könne nicht automatisch ein Aufenthaltsrecht für die Kinder abgeleitet werden, zu kurz greift. Der Antragsgegner geht damit nicht ausreichend auf die von dem Vater der Antragsteller geltend gemachte wirtschaftliche Integration in Deutschland ein, zu der auch die behauptete Aussicht auf eine Niederlassungserlaubnis zählt.
Soweit der Antragsgegner die Versagung der von der Kindesmutter beantragten Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG damit begründet hat, dass den Antragstellern und ihrer Mutter eine gemeinsame Ausreise mit dem Kindesvater und die Fortführung der Lebensgemeinschaft in Ghana zumutbar sei, spricht dies nicht für die Annahme einer ermessensfehlerfreien Entscheidung im Sinne von § 33 Satz 1 AufenthG. Der Antragsgegner hat dazu ausgeführt, es seien keine Gründe vorgetragen oder ersichtlich, die einen zwingenden Aufenthalt des Kindesvaters im Bundesgebiet begründeten. Auch wenn die Ausländerbehörde grundsätzlich berücksichtigen darf, ob die familiäre Lebensgemeinschaft im Ausland geführt werden kann (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Juli 2022 – OVG 3 S 6/22 – juris Rn. 9; Beschluss vom 17. September 2021 – OVG 3 S 53/21 –), wird damit - gemessen an den Zielen des § 33 AufenthG - ein zu enger Maßstab angelegt.
Die danach gebotene Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage führt allerdings nur dazu, dass den Antragstellern (erneut) die Duldungsfiktion des § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zusteht. Die Beschwerde, die sich gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO mit der angegriffenen Entscheidung auseinandersetzen muss, wendet sich nicht mit Erfolg gegen die erstinstanzliche Würdigung, die Anträge hätten keine Erlaubnisfiktion gemäß § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ausgelöst, weil sie nach der Geburt nicht innerhalb der Antragsfrist des § 81 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gestellt worden seien, so dass den Antragstellern allein die Duldungsfiktion im Sinne von § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu Gute komme. Die Beschwerde wendet im Wesentlichen lediglich ein, der Aufenthalt der Antragsteller habe bis zur Ablehnung der von Amts wegen zu prüfenden Aufenthaltserlaubnis nach § 33 Satz 1 AufenthG als erlaubt gegolten. Dies reicht nicht aus, um die Würdigung des Verwaltungsgerichts, der Aufenthalt von im Bundesgebiet geborenen Kindern, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hätten und denen – wie hier - nicht von Amts wegen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden müsse, sei – wie hier - bei verspäteter Antragstellung nicht rechtmäßig, durchgreifend in Frage zu stellen.
Ohne Erfolg bleibt die Beschwerde, soweit die Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Abschiebungsandrohung (Ziff. 3 des Bescheides vom 6. Juni 2023) sowie gegen die Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG (Ziff. 4 des Bescheides vom 6. Juni 2023) begehren. Da den Antragstellern dem Verwaltungsgericht zufolge nur eine Duldungsfiktion zu Gute kommt, was sie – wie ausgeführt – nicht erfolgreich angegriffen haben, gilt ihre Abschiebung lediglich als ausgesetzt; dies berührt weder die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht noch die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung. Gleiches gilt hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des für den Fall einer Abschiebung angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbots.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG.
Über den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren sowie die Beschwerde gegen die erstinstanzliche Versagung von Prozesskostenhilfe wird der Senat gesondert entscheiden.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).