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Syrien, Familiennachzug, Elternteil, Flüchtling, unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, Minderjährigkeit, Unbegleitetsein, verantwortlicher Erwachsener, elterliche Sorge, begleitender älterer Bruder, Vormund


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat Entscheidungsdatum 23.04.2024
Aktenzeichen OVG 3 B 45/23 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2024:0423.OVG3B45.23.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 36 Abs 1 AufenthG , Art 2 Buchst. f Richtlinie 2003/86/EG , Art 3 Abs 5 Richtlinie 2003/86/EG , Art 10 Abs 3 Buchst. a Richtlinie 2003/86/EG

Tenor

Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 vom Hundert des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 vom Hundert des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Der 1953 geborene Kläger begehrt ein Visum zum Familiennachzug zu seinem als Flüchtling anerkannten Sohn G_____ (im Folgenden: Stammberechtigter). Beide sind syrische Staatsangehörige.

Der am 11. Januar 2001 geborene Stammberechtigte ist der jüngste von sechs Söhnen des Klägers, die inzwischen alle in Deutschland leben. Er reiste am 22. September 2015 mit seinem am 1. April 1997 geborenen Bruder R_____ in das Bundesgebiet ein. Das Amtsgericht M_____ bestellte den Bruder mit Beschluss vom 3. November 2015 zum Vormund, der für den Stammberechtigten am 3. Dezember 2015 Asyl beantragte. Mit Bescheid vom 1. November 2018 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Stammberechtigten die Flüchtlingseigenschaft zu. Am 13. Dezember 2018 erhielt er eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2, 1. Alt. AufenthG. Seit dem 30. September 2022 ist er im Besitz einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG.

Der Kläger hatte zunächst am 1. März 2016 bei der Botschaft der Beklagten in Riad mit seiner inzwischen verstorbenen Ehefrau einen Visumantrag zum Nachzug zu einem anderen, im August 2015 eingereisten Sohn gestellt, den die Botschaft mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 14. August 2016 abgelehnt hat. In der Visumakte ist unter „weitere Angaben“ vermerkt, „nach Auskunft des Antragstellers“ seien „die minderjährigen“ Söhne „mit den volljährigen geschickt“ worden. „Dieser“ habe eine „Vollmacht des Vaters, damit er sich um diese kümmern“ könne.

Am 18. April 2018 hat der Kläger bei der Botschaft der Beklagten in Beirut die Erteilung eines Visums zum Nachzug zu dem Stammberechtigten beantragt. Nachdem die Beigeladene sich nicht geäußert hatte, lehnte die Botschaft den Antrag mit Bescheid vom 10. Januar 2019 ab.

Der Kläger hat am 6. Juni 2019 Klage erhoben. Er bestreitet, eine Vollmacht für die minderjährigen Söhne erteilt zu haben. Die Beigeladene stimmte der Visumerteilung zu. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 22. Juni 2023 verpflichtet, dem Kläger ein Visum zum Familiennachzug zu erteilen. Ihm stehe ein Nachzugsanspruch aus § 36 Abs. 1 AufenthG zu. Die Vorschrift sei unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass es für die Minderjährigkeit des den Zuzug vermittelnden Stammberechtigten auf den Zeitpunkt der Stellung seines Asylantrags ankomme, sofern der Visumantrag binnen einer Frist von drei Monaten nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestellt worden sei. Falls sich ein Nachzugsanspruch nicht aus § 36 Abs. 1 AufenthG in unionsrechtskonformer Auslegung ergebe, bestehe er in unmittelbarer Anwendung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG.

Mit ihrer von dem Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung macht die Beklagte im Wesentlichen folgendes geltend: Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stehe einer unionsrechtskonformen Auslegung des § 36 Abs. 1 AufenthG der klare Wille des deutschen Gesetzgebers entgegen. Es bestehe auch kein Nachzugsanspruch in unmittelbarer Anwendung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG. Bei dem Stammberechtigten handele es sich nicht um einen unbegleiteten Minderjährigen, der er sei mit seinem volljährigen Bruder und damit nicht ohne Begleitung eines für ihn verantwortlichen Erwachsenen im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86/EG eingereist. Der Kläger habe den Bruder des Stammberechtigten damit bevollmächtigt, dessen Angelegenheiten zu regeln. Jedenfalls müsse der Bruder mit der Bestellung zum Vormund als verantwortliche Person betrachtet werden. Hierfür komme es nicht auf die familienrechtliche Personensorge an. Dafür spreche der systematische Blick auf Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie, wo, anders als in Art. 2 Buchst. f der Richtlinie, eindeutig vom „Sorgerecht“ die Rede sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 22. Juni 2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist auf das erstinstanzliche Urteil.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Streitakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Beigeladenen verwiesen, die zur Urteilsberatung vorgelegen haben.

Entscheidungsgründe

Der Senat entscheidet über die Klage ohne mündliche Verhandlung. Die Beteiligten haben sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt (§ 101 Abs. 2 VwGO).

Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Die zulässige Verpflichtungsklage ist begründet, denn der Kläger kann die Erteilung des beantragten Visums zum Familiennachzug zu seinem Sohn beanspruchen, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

1. Der Anspruch ergibt sich aus §§ 6 Abs. 3, 36 Abs. 1 AufenthG. Nach § 36 Abs. 1 AufenthG ist den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der – wie hier allein relevant – eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1, 1. Alt. AufenthG oder eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG besitzt, abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält.

Das in § 36 Abs. 1 AufenthG geforderte Tatbestandsmerkmal der „Minderjährigkeit“ ist hier erfüllt. Die Auslegung dieses Begriffs ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (Familienzusammenführungsrichtlinie). Die Richtlinie vermittelt Flüchtlingen, die unbegleitete Minderjährige sind, ein Recht auf Zusammenführung mit ihren Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades, das weder in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt ist noch den in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie aufgestellten Voraussetzungen unterliegt (vgl. EuGH, Urteil vom 12. April 2018 – C-550/16 – juris Rn. 34). Wie der EuGH entschieden hat, ist ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als Minderjähriger im Sinne des Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG anzusehen, wobei der auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie eingereichte Antrag auf Familienzusammenführung in einer solchen Situation grundsätzlich innerhalb von drei Monaten ab dem Tag gestellt werden muss, an dem dem Minderjährigen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist (vgl. EuGH, Urteil vom 12. April 2018 – C-550/16 – juris Rn. 64 und 61). Weiter ist durch die Rechtsprechung des EuGH geklärt, dass der Zusammenführende auch dann als minderjährig im Sinne der genannten Richtlinienbestimmungen anzusehen ist, wenn er nicht während des Asylverfahrens, sondern erst später während des Verfahrens auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist (vgl. EuGH, Urteil vom 30. Januar 2024 – C-560/20 – juris Rn. 36). In einem solchen Fall muss der Antrag auf Familienzusammenführung nicht innerhalb der genannten Drei-Monats-Frist gestellt werden (vgl. EuGH, Urteil vom 30. Januar 2024 – C-560/20 – juris Rn. 43 und Tenor zu 1).

Einer an der Rechtsprechung des EuGH orientierten unionsrechtskonformen Auslegung des § 36 Abs. 1 AufenthG und des dort normierten Begriffs der „Minderjährigkeit“ lässt sich nicht „der klare Wille des nationalen Gesetzgebers“ entgegenhalten, wonach der Elternnachzug nur bis zum Eintritt der Volljährigkeit des im Bundesgebiet befindlichen Kindes möglich sein soll (anders BVerwG, Beschlüsse vom 23. April 2020 – 1 C 9.19 und 10.19 – jeweils juris Rn. 15). Abgesehen davon, dass § 36 Abs. 1 AufenthG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) eingefügt worden ist und gerade der Umsetzung des in Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG geregelten Nachzugsanspruchs dient (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 176), widerspricht der Wortlaut des § 36 Abs. 1 AufenthG („den Eltern eines minderjährigen Ausländers“) einer solchen unionsrechtskonformen Auslegung nicht. Die Formulierung lässt offen, welcher Zeitpunkt maßgeblich ist. Vergleichbares gilt im Übrigen beim Kindernachzug gemäß § 32 Abs. 1 AufenthG. Hier reicht es der höchstrichterlichen Rechtsprechung zufolge trotz des Wortlautes der Regelung aus, wenn das nachzugswillige Kind im Zeitpunkt der Visumantragstellung die gesetzlich normierte Altersgrenze noch nicht erreicht hat bzw. noch minderjährig ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 2022 – 1 C 8.21 – juris Rn. 9).

Aus dem Regelungszweck des § 36 Abs. 1 AufenthG, der – wie die vorausgesetzte Nichtanwesenheit eines personensorgeberechtigten Elternteils im Bundesgebiet verdeutlicht – primär darin besteht, Minderjährigen die tatsächliche elterliche Sorge und Betreuung zukommen zu lassen, lässt sich ebenfalls nicht ableiten, dass die Regelung nach Eintritt der Volljährigkeit nicht mehr anwendbar ist. Der EuGH hat seine Auslegung des Art. 10 Abs. 3 Buchst  a der Richtlinie 2003/86/EG u.a. damit begründet, dass die praktische Wirksamkeit der Richtlinienbestimmung in Frage gestellt würde, wenn das daraus folgende Recht auf Familienzusammenführung von der Dauer der Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz durch die nationale Behörde und damit von Umständen abhinge, die nicht in der Sphäre der Betroffenen liegen (vgl. EuGH, Urteil vom 12. April 2018 – C-550/16 – juris Rn. 55 und Rn. 60). Gleiches gilt bei der unionsrechtskonformen Auslegung des § 36 Abs. 1 AufenthG. Im Übrigen hat die Erwägung, dass die einem minderjährigen Kind zustehenden Rechte nicht allein wegen der Verfahrensdauer durch Zeitablauf verloren gehen sollen, auch beim Kindernachzug dazu geführt, dass es maßgeblich auf den Zeitpunkt der Visumantragstellung ankommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. August 2008 – 1 C 32.07 – juris Rn. 17).

Schließlich kann einer unionsrechtskonformen Auslegung des § 36 Abs. 1 AufenthG nicht entgegengehalten werden, das Aufenthaltsgesetz sehe – anders als beim Kindernachzug – keine Verfestigung des Aufenthaltsrechts nachgezogener Eltern zu einem Daueraufenthaltsrecht vor. Zum einen kann die unionsrechtskonforme Auslegung einer nationalen Vorschrift, die eine Richtlinie umsetzt, nicht davon abhängen, ob es der nationale Gesetzgeber versäumt hat, weitere Regelungen zu schaffen, die lediglich in einem mittelbaren Zusammenhang mit der auszulegenden Vorschrift stehen. Zum anderen eröffnet die Auslegung im Sinne des EuGH keine zeitlich unbegrenzte Möglichkeit des Elternnachzugs zu einem ehemals minderjährigen Flüchtling, weil der Antrag auf Familienzusammenführung, um den Anspruch aus Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG geltend machen zu können, entweder innerhalb der Drei-Monats-Frist bzw. noch vor Eintritt der Volljährigkeit des Zusammenführenden gestellt worden sein muss.

Hiervon ausgehend ist der stammberechtigte Sohn des Klägers als Minderjähriger im Sinne von § 36 Abs. 1 AufenthG anzusehen, denn er war im Zeitpunkt seiner Einreise und Asylantragstellung sowie darüber hinaus bei Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch minderjährig und ist erst im Verlauf des Visumverfahrens volljährig geworden. Die Drei-Monats-Frist musste deshalb nicht eingehalten werden. Unabhängig davon wäre sie gewahrt gewesen, weil der Kläger den Visumantrag schon vor der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an seinen Sohn gestellt hat.

Die weiteren Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 AufenthG liegen ebenfalls vor. Der stammberechtigte Sohn des Klägers besitzt einen den Elternnachzug eröffnenden Aufenthaltstitel (seit dem 13. Dezember 2018 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2, 1. Alt. AufenthG und seit dem 30. September 2022 eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG). Ein personensorgeberechtigter Elternteil hält sich nicht im Bundesgebiet auf. Beide Voraussetzungen waren bereits bei Erreichen der Altersgrenze am 11. Januar 2019 gegeben.

Von dem Regelerfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) und dem Wohnraumerfordernis (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) ist nach § 36 Abs. 1 AufenthG abzusehen. Die weiteren allgemeinen Nachzugsvoraussetzungen unterliegen ebenfalls keinen Zweifeln. Insbesondere erfüllt der Kläger ausweislich der zu den Akten gereichten auszugsweisen Kopie seines bis zum 2. November 2024 gültigen Reisepasses die Passpflicht (§ 3 Abs. 1 AufenthG) und damit die Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG.

Darauf, ob der Stammberechtigte „unbegleiteter“ Minderjähriger im Sinne der Richtlinie 2003/86/EG ist, kommt es für den Nachzugsanspruch gemäß § 36 Abs. 1 AufenthG nicht an. Nach Art. 2 Buchst. f der Richtlinie bezeichnet der Begriff „unbegleiteter Minderjähriger“ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut einer solchen Person befindet, oder Minderjährige, die ohne Begleitung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgelassen werden, nachdem sie in diesen Mitgliedstaat eingereist sind. Als verantwortliche Personen kommen nach dieser Formulierung neben personensorgeberechtigten Eltern grundsätzlich auch weitere nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht für den Minderjährigen verantwortliche Personen in Betracht, deren Anwesenheit daher ein Unbegleitetsein und somit einen Anspruch auf Familienzusammenführung gemäß Art. 10 Abs. 3 Buchst a der Richtlinie 2003/86/EG ausschließt. Dem gegenüber stellt § 36 Abs. 1 AufenthG, der diese Richtlinienbestimmung umsetzt, allein darauf ab, dass sich kein sorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält. Der deutsche Gesetzgeber hat somit eine im Vergleich zu den Anforderungen des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86/EG günstigere Nachzugsregelung normiert. Dies ist gemäß Art. 3 Abs. 5 der Familienzusammenführungsrichtlinie ausdrücklich erlaubt, denn danach berührt die Richtlinie nicht das Recht der Mitgliedstaaten, günstigere Regelungen zu treffen oder beizubehalten.

2. Unabhängig davon wäre ein Anspruch des Klägers auf Visumerteilung zur Familienzusammenführung auch dann zu bejahen, wenn das Merkmal der Minderjährigkeit in § 36 Abs. 1 AufenthG einer richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich und folglich – mangels vollständiger Umsetzung des Nachzugsanspruchs nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG im deutschen Recht – von einer unmittelbaren Anwendung dieser Richtlinienbestimmung auszugehen wäre, denn der Stammberechtigte ist weder im Sinne der Richtlinie unbegleitet eingereist, noch befand er sich später in der Obhut eines verantwortlichen Erwachsenen.

Wie bereits ausgeführt, setzt die Eigenschaft eines „unbegleiteten“ Minderjährigen nach der Begriffsbestimmung in Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86/EG zunächst voraus, dass der Minderjährige bei der Einreise nicht von einer für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Person begleitet wurde. Eine solche Verantwortlichkeit kann sich in erster Linie aus gesetzlichen Regelungen über die elterliche Sorge ergeben. Die elterliche Sorge war hier aber weder nach syrischem noch nach deutschem Recht bei der Einreise des Stammberechtigten auf dessen älteren Bruder übergegangen. Nach syrischem Recht bestand, weil das Personensorgerecht im Sinne der hadana (Art. 137 ff. des syrischen Personalstatutsgesetzes von 1953 – PSG; Übersetzung auf dem Internetportal „Familienrecht im Nahen Osten“ der Max-Planck-Gesellschaft) in Bezug auf männliche Kinder seinerzeit bereits mit Vollendung des 13. Lebensjahres endete (vgl. Art. 146 PSG i.d.F. vom 25. Oktober 2003), allein noch die Vormundschaft im Sinne der wilaya (vgl. Art. 162 ff. PSG), die danach dem Vater und nicht dem Bruder des Stammberechtigten zustand und auf diesen auch weder (infolge der Ortsabwesenheit des Vaters) automatisch übergehen noch auf ihn insgesamt übertragen werden konnte (vgl. Art. 170 Abs. 1 PSG). Der Senat folgt insoweit nach eigener Prüfung den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, die auch von den Beteiligten nicht in Zweifel gezogen werden. Anhaltspunkte für eine abweichende Rechtspraxis bzw. ein davon abweichendes Gewohnheitsrecht sind nicht erkennbar. Ebenso wenig sieht das deutsche Recht, nach dem die Personensorge über den Stammberechtigten im Zeitpunkt der Einreise seinen Eltern zustand (vgl. § 1626 Abs. 1 BGB), einen Übergang auf den Bruder oder die Möglichkeit einer Übertragung des Sorgerechts vor (vgl. zur Unübertragbarkeit etwa Huber, Münchener Kommentar zum BGB, 9. Aufl. 2024, § 1626 Rn. 13).

Nicht abschließend geklärt werden muss, ob sich eine Verantwortlichkeit „nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht“ im Sinne des Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86/EG auch daraus ergeben kann, dass die Person, in deren Begleitung oder Obhut sich der Minderjährige befindet, rechtsgeschäftlich mit der Ausübung der elterlichen Sorge beauftragt und entsprechend bevollmächtigt wurde. Selbst wenn die Begriffsbestimmung solche Fälle grundsätzlich erfasste, müsste die Beauftragung der Begleitperson des Minderjährigen angesichts ihrer erheblichen Bedeutung – auch für den Ausschluss des Elternnachzugs – umfassend und eindeutig geregelt sein. Gemessen daran wäre zu fordern, dass die beauftragte Person nicht nur für einzelne Geschäfte vertretungsbefugt sein soll, sondern dass sie uneingeschränkt und umfassend bevollmächtigt ist, für den Minderjährigen zu sorgen. Dies lässt sich hier für den Bruder des Stammberechtigten nicht feststellen. Die Beklagte kann sich wegen einer dem Bruder möglicherweise erteilten Vollmacht allein auf den Vermerk der Botschaft Riad vom 1. März 2016 stützen. Daraus geht jedoch schon nicht hervor, welchem der volljährigen Söhne eine Vollmacht erteilt worden ist und auf welchen der minderjährigen Söhne sich dies bezogen hat. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass es in dem ersten von dem Kläger durchgeführten Visumverfahren um den Nachzug zu einem anderen Sohn ging. Der – von dem Kläger nicht unterschriebene oder sonst gebilligte – Vermerk ist außerdem insoweit unklar und unstimmig, als einerseits von den volljährigen Söhnen im Plural die Rede ist, es aber andererseits ohne nähere Erläuterung heißt, „dieser“ – also eine Person im Singular – habe eine Vollmacht erhalten. Ferner ist von maßgeblicher Bedeutung, dass der Vermerk ohne jede Substanz bleibt, was den möglichen Inhalt und die Reichweite einer etwaigen Vollmacht angeht. Nach alledem sieht der Senat mangels tatsächlicher Anhaltspunkte keinen Anlass für eine weitere Aufklärung dieses Sachverhalts.

Der Bruder des Stammberechtigten ist auch nicht dadurch zu einem verantwortlichen Erwachsenen im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86/EG geworden, dass er im November 2015 vom Amtsgericht zum Vormund des Stammberechtigten bestellt wurde. Zwar kann ein unbegleitet eingereister Minderjähriger nach der Legaldefinition des Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86/EG zu einem späteren Zeitpunkt in die Obhut eines verantwortlichen Erwachsenen genommen werden und hierdurch die Eigenschaft als unbegleiteter Minderjähriger verlieren. Da es nach der Rechtsprechung des EuGH für die Minderjährigkeit jedoch maßgeblich auf den Zeitpunkt der Beantragung internationalen Schutz ankommt, ist es konsequent, eine nachträgliche Inobhutnahme durch einen verantwortlichen Erwachsenen nur bis zur Asylantragstellung als beachtlich anzusehen. Geschieht dies erst danach, bleibt es dabei, dass der Minderjährige unbegleitet war.

Zu berücksichtigen ist weiter, dass dem Vormund gemäß § 1789 Abs. 1 BGB ein grundsätzlich umfassendes Sorgerecht in Bezug auf die Person und das Vermögen des Mündels zusteht. Es würde jedoch der Bedeutung des nach der Richtlinie gewährleisteten Nachzugsrechts der Eltern zu einem Flüchtling nicht gerecht, wenn man den für den unbegleitet eingereisten Minderjährigen bestellten Vormund als den Nachzugsanspruch aus Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG ausschließenden Verantwortlichen im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86/EG ansähe. Das Nachzugsrecht würde dann weitgehend leerlaufen, weil die Mitgliedstaaten aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben dafür zu sorgen haben, dass unbegleitete Minderjährige, die um internationalen Schutz nachsuchen, durch einen gesetzlichen Vormund oder einen anderen geeigneten Vertreter vertreten werden (vgl. Art. 25 Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU vom 26. Juni 2013, Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Richtlinie 2013/33/EU vom 26. Juni 2013, Art. 31 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011). Das damit verfolgte Ziel, die rechtliche Handlungsfähigkeit unbegleitet eingereister Minderjähriger insbesondere im Hinblick auf die Wahrnehmung ihrer Rechte und Pflichten im Asylverfahren sicherzustellen, rechtfertigt es nicht, durch die Bestellung eines Vormundes oder Vertreters den Schutz familiärer Bindungen zwischen Eltern und minderjährigen Kindern, den sowohl die Familienzusammenführungsrichtlinie mit dem Nachzugsanspruch der Eltern als auch Art. 24 Abs. 2 und 3 GR-Charta garantieren (vgl. EuGH, Urteil vom 1. August 2022 – C 273/20 und C-355/20 – juris Rn. 38 f.; Urteil vom 30. Januar 2024 – C 560/20 – juris Rn. 49 ff.), zurücktreten zu lassen.

Eine andere Beurteilung ist auch dann nicht generell gerechtfertigt, wenn – wie hier – kein Amtsvormund, sondern ein Verwandter des Minderjährigen zum Vormund bestellt wurde. In einem solchen Fall bedarf es der Würdigung und abwägenden Bewertung aller Umstände des Einzelfalles unter Berücksichtigung des Kindeswohls. Hier konnte die elterliche Betreuung, die Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG garantiert, durch die Bestellung des im Dezember 2015 erst 18jährigen Bruders zum Vormund für den 14jährigen Stammberechtigten nicht ersetzt werden.

Auch bei einem unmittelbaren Rückgriff auf die Familienzusammenführungsrichtlinie käme es gemäß deren Art. 10 Abs. 3 Buchst. a nicht auf die Sicherung des Lebensunterhalts des Klägers oder das Vorhandensein ausreichenden Wohnraums an (vgl. EuGH, Urteil vom 1. August 2022 – C-273/20 und C-355/20 – juris Rn. 32; Urteil vom 12. April 2018 – C-550/16 – juris Rn. 33 f.; s. auch EuGH, Urteil vom 30. Januar 2024 – C-560/20 – juris Rn. 80).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 der Zivilprozessordnung.

Die Revision ist gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

Rechtsmittelbelehrung

Gegen die Entscheidung steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu.

Die Revision ist bei dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Hardenbergstraße 31, 10623 Berlin, innerhalb eines Monats nach Zustellung dieser Entscheidung einzulegen. Die Revisionsfrist ist auch gewahrt, wenn die Revision innerhalb der Frist bei dem Bundesverwaltungsgericht, Simsonplatz 1, 04107 Leipzig, eingelegt wird. Die Revision muss die angefochtene Entscheidung bezeichnen.

Die Revision ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieser Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Bundesverwaltungsgericht, Simsonplatz 1, 04107 Leipzig, schriftlich oder in elektronischer Form einzureichen. Die Revisionsbegründung muss einen bestimmten Antrag enthalten, die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen angeben, die den Mangel ergeben.

Rechtsanwälte, Behörden, juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse sowie Vertretungsberechtigte, die über ein elektronisches Postfach nach § 55a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 VwGO verfügen, sind zur Übermittlung elektronischer Dokumente nach Maßgabe des § 55d VwGO verpflichtet.

Im Revisionsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für die Einlegung der Revision. Als Bevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschulen eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. In Angelegenheiten, die ein gegenwärtiges oder früheres Beamten-, Richter-, Wehrpflicht-, Wehrdienst- oder Zivildienstverhältnis betreffen, und in Angelegenheiten, die in einem Zusammenhang mit einem gegenwärtigen oder früheren Arbeitsverhältnis von Arbeitnehmern im Sinne des § 5 des Arbeitsgerichtsgesetzes stehen einschließlich Prüfungsangelegenheiten, sind auch die in § 67 Absatz 2 Satz 2 Nr. 5 VwGO bezeichneten Organisationen einschließlich der von ihnen gebildeten juristischen Personen gemäß § 67 Absatz 2 Satz 2 Nr. 7 VwGO als Bevollmächtigte zugelassen; sie müssen durch Personen mit der Befähigung zum Richteramt handeln. Ein als Bevollmächtigter zugelassener Beteiligter kann sich selbst vertreten. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt vertreten lassen; das Beschäftigungsverhältnis kann auch zu einer anderen Behörde, juristischen Person des öffentlichen Rechts oder einem der genannten Zusammenschlüsse bestehen. Richter dürfen als Bevollmächtigte nicht vor dem Gericht auftreten, dem sie angehören.

Beschluss

Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird für die zweite Rechtsstufe gemäß § 52 Abs. 2 VwGO auf 5.000 Euro festgesetzt.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG.