Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat | Entscheidungsdatum | 02.08.2024 | |
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Aktenzeichen | OVG 3 S 45/24 | ECLI | ECLI:DE:OVGBEBB:2024:0802.OVG3S45.24.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 36a Abs 1 AufenthG , § 79 Abs 3 Satz 1 Nr 2 AufenthG , § 79 Abs 3 Satz 2 AufenthG , § 73b AsylG |
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 23. Juli 2024 wird zurückgewiesen.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 12.500 Euro festgesetzt.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Das Beschwerdevorbringen, das nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO den Umfang der Überprüfung durch das Oberverwaltungsgericht bestimmt, rechtfertigt keine Änderung des erstinstanzlichen Beschlusses. Die Antragsteller, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel der Visumerteilung zum Nachzug zu ihrem am 10. August 2006 geborenen Sohn bzw. Bruder begehren, dem im Bundesgebiet subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, haben den hierfür erforderlichen Anordnungsanspruch nicht mit der für eine Vorwegnahme der Hauptsache gebotenen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht.
Das Verwaltungsgericht hat einen auf § 36a Abs. 1 (Satz 2) AufenthG gestützten Anspruch der Antragsteller zu 1 und 2 auf Visumerteilung wegen des in Bezug auf ihren Sohn im Juni 2024 eingeleiteten Widerrufs- bzw. Rücknahmeverfahrens nach § 73b AsylG und der daher gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AufenthG gebotenen Aussetzung des Verfahrens verneint. Die hiergegen angeführten Beschwerdegründe greifen nicht durch.
Der Einwand, der Sinn und Zweck des § 79 Abs. 3 AufenthG komme in der hier gegebenen Konstellation einer nur wenige Tage vor Eintritt der Volljährigkeit der Referenzperson angestrebten Visumerteilung nicht zum Tragen, überzeugt nicht. § 79 Abs. 3 AufenthG ordnet die Aussetzung der Entscheidung über die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 36a Abs. 1 AufenthG zwingend an, damit geklärt werden kann, ob die Voraussetzungen für einen Familiennachzug in der Person des Ausländers, zu dem der Nachzug erfolgen soll, tatsächlich vorliegen. Bis dies geschehen ist, schließt die Vorschrift einen Familiennachzug nach § 36a Abs. 1 AufenthG aus. Im Falle des § 79 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AufenthG soll die in dem Verfahren nach § 73b AsylG zu treffende Entscheidung über den Widerruf oder eine Rücknahme der Zuerkennung des subsidären Schutzes an die Referenzperson abgewartet werden. Nach § 79 Abs. 3 Satz 2 AufenthG wird die Entscheidung über den Familiennachzug, wenn es zu einem Widerruf oder einer Rücknahme kommt, darüber hinaus bis zur Rechtskraft der Entscheidung über den Widerruf der Aufenthaltserlaubnis der Referenzperson (vgl. § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) ausgesetzt (vgl. BT-Drs. 19/2438, S. 26).
Dass die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG nicht mehr in Betracht kommt, sobald die Referenzperson volljährig geworden ist, steht der in § 79 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AufenthG angeordneten Aussetzung der Entscheidung über den Familiennachzug, die ab der Einleitung eines Widerrufs- und Rücknahmeverfahrens nach § 73b AsylG gilt, nicht entgegen. Soweit die Beschwerde geltend macht, ein Widerruf oder eine Rücknahme der Schutzberechtigung und jedenfalls ein sich daran anschließender Widerruf der Aufenthaltserlaubnis aus § 25 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. AufenthG gemäß § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG wirkten nur ex tunc, ist der Sinn der Aussetzung vielmehr gerade darin zu sehen, einen Familiennachzug trotz der noch andauernden Geltung des subsidiären Schutzes und der hierauf beruhenden Aufenthaltserlaubnis des Stammberechtigten für die Dauer des Widerrufs- und Rücknahmeverfahrens vorläufig auszuschließen.
Ebenso wenig greift der Einwand der Beschwerde durch, die Bejahung einer Ausnahme nach § 79 Abs. 3 Satz 1 2. Halbsatz AufenthG dürfe nicht auf Fälle beschränkt bleiben, in denen eine Ablehnung des Antrags aus anderen Gründen erfolgen könne. Die Ausnahmeregelung, nach der die Entscheidung über die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 36a Abs. 1 AufenthG nicht auszusetzen ist, wenn sie ohne Rücksicht auf den Ausgang des Widerrufs- und Rücknahmeverfahrens nach § 73b AsylG getroffen werden kann, bezieht sich auf Sachverhalte, in denen der Fortbestand des subsidiären Schutzes und der deshalb erteilten Aufenthaltserlaubnis nicht entscheidungserheblich ist. Da darin aber eine notwendige Voraussetzung des Familiennachzugs nach § 36a Abs. 1 AufenthG liegt, kann sich die Regelung nur auf Fälle beziehen, in denen die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dieser Vorschrift wegen fehlender anderer Voraussetzungen zu versagen ist.
Ohne Erfolg wendet die Beschwerde weiter ein, mit der Verfahrensaussetzung hätten es die Behörden in der Hand, den Nachzug auf unbestimmte Zeit unter Verletzung der Rechte aus Art. 6 Abs. 1 GG zu verhindern. Dass § 79 Abs. 3 AufenthG mit grund- oder menschenrechtlichen Gewährleistungen unvereinbar wäre, ist nicht zu erkennen. Weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK begründen einen unmittelbaren Anspruch auf Familienzusammenführung (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 2022 – 1 C 31/21 – juris Rn. 15). Die temporäre Aussetzung der Entscheidung zur Klärung der Nachzugsvoraussetzungen in der Person des Stammberechtigten ist hier grundsätzlich durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt. Besonderen, in die Einzelfallbetrachtung einzustellenden familiären Belangen kann im Rahmen der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 22 Satz 1 AufenthG Rechnung getragen werden (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 2022 – 1 C 31/21 – juris Rn. 15).
Die Beschwerde zeigt auch nicht auf, dass das Widerrufs- und Rücknahmeverfahren nach § 73b AsylG hier ohne sachlichen Grund eingeleitet wurde. Den auf Einstellung dieses Verfahrens gerichteten Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat die zuständige Kammer des Verwaltungsgerichts mit Beschluss vom 24. Juli 2024 – VG 23 L 379/24 A – unanfechtbar abgelehnt. Soweit die Beschwerde geltend macht, ein Rücknahmegrund nach § 73 Abs. 4 AsylG sei nicht gegeben, weil dem subsidiär schutzberechtigten Sohn der Antragsteller zu 1 und 2 dessen mögliche türkische Staatsangehörigkeit und deren Relevanz für das Asylverfahren nicht hätten bewusst sein können, muss dies, ebenso wie die Frage, ob eine Rücknahme des subsidiären Schutzes in dem Verfahren nach § 73b AsylG auf § 48 VwVfG gestützt werden kann, dem dortigen Verfahren vorbehalten bleiben. Anderes kann allenfalls dann gelten, wenn es ganz offensichtlich auf der Hand liegt, dass eine Rücknahme der Zuerkennung subsidiären Schutzes unter keinen Umständen in Betracht kommt. Dies lässt sich dem Beschwerdevorbringen nicht entnehmen.
Die Antragsteller haben auch keinen Anspruch auf Erteilung eines Visums aus § 22 Satz 1 AufenthG mit der für eine Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache erforderlichen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht. Gemäß dieser Norm soll nach der Intention des Gesetzgebers insbesondere aus dringenden humanitären Gründen über § 36a AufenthG hinaus im Einzelfall auch Angehörigen der Kernfamilie subsidiär Schutzberechtigter eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden können. Dringende humanitäre Gründe im Sinne des § 22 Satz 1 Alt. 2 AufenthG sind anzunehmen, wenn die Aufnahme des Familienangehörigen sich aufgrund des Gebots der Menschlichkeit aufdrängt und eine Situation vorliegt, die ein Eingreifen zwingend erforderlich macht. Sie liegen zum einen dann vor, wenn sich der Ausländer aufgrund besonderer Umstände in einer auf seine Person bezogenen Sondersituation befindet, sich diese Sondersituation deutlich von der Lage vergleichbarer Ausländer unterscheidet, der Ausländer spezifisch auf die Hilfe der Bundesrepublik Deutschland angewiesen ist oder eine besondere Beziehung des Ausländers zur Bundesrepublik Deutschland besteht und die Umstände so gestaltet sind, dass eine baldige Ausreise und Aufnahme unerlässlich sind. Sie sind aber zum anderen auch dann gegeben, wenn besondere Umstände des Einzelfalles eine Fortdauer der räumlichen Trennung der Angehörigen der Kernfamilie des subsidiär Schutzberechtigten mit Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG nicht länger vereinbar erscheinen lassen. Der Zeitpunkt, ab dem den Familienangehörigen eine weitere Trennung nicht länger zuzumuten ist, ist wiederum maßgeblich davon abhängig, ob diesen eine (Wieder-)Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat der Nachzugswilligen möglich und zumutbar ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 2022 – 1 C 31/21 – juris Rn. 22).
Das Verwaltungsgericht hat diese Voraussetzungen unter Hinweis auf die ungeklärte Bleibeperspektive der Referenzperson und die fehlende Glaubhaftmachung verneint, dass eine elterliche Betreuung für die wenigen Tage bis zum Eintritt der Volljährigkeit zwingend erforderlich sei. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass der ältere Bruder ebenfalls in Deutschland lebe und für die Referenzperson ein Vormund bestellt worden sei. Dieser Würdigung tritt die Beschwerde nicht überzeugend entgegen. Soweit sie geltend macht, die Türkei sei nicht bereit gewesen, die Referenzperson und deren Geschwister als türkische Staatsangehörige anzuerkennen, sodass die familiäre Gemeinschaft dort nicht gelebt werden könne, fehlt es an einer ausreichenden Substantiierung und Glaubhaftmachung. Auch zu der altersbedingt nur noch geringen Betreuungsbedürftigkeit der Referenzperson verhält sich die Beschwerde nicht hinreichend.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).