Gericht | LArbG Berlin-Brandenburg 12. Kammer | Entscheidungsdatum | 29.07.2024 | |
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Aktenzeichen | 12 Ta 625/24 | ECLI | ECLI:DE:LAGBEBB:2024:0729.12TA625.24.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 62 Abs. 2 S. 2 ArbGG, § 572 Abs. 3 ZPO |
1. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren hat auch die Zurückweisung eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ohne mündliche Verhandlung zur Voraussetzung, dass ein dringender Fall im Sinne von § 62 Absatz 2 Satz 2 ArbGG vorliegt. Anderenfalls ist aufgrund mündlicher Verhandlung und damit unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu entscheiden.
2. Liegt kein dringender Fall vor, entscheidet das Arbeitsgericht aber dennoch ohne mündliche Verhandlung durch den Kammervorsitzenden allein, so liegt ein schwerer Verfahrensfehler vor, der grundsätzlich geeignet ist, die Aufhebung des Beschlusses und Zurückverweisung des Verfahrens zu begründen.
I. Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Arbeitsgerichts vom 19. Juli 2024 - 22 Ga 8800/24 - aufgehoben und das einstweilige Verfügungsverfahren zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens - durch die Kammer in voller Besetzung an das Arbeitsgericht Berlin zurückverwiesen.
II. Die Gerichtskosten aus dem Verfahren über die sofortige Beschwerde werden nicht erhoben.
Die Beteiligten streiten um die vorläufige Untersagung, eine Stelle zu besetzen.
Mit Antragsschrift vom 18. Juli 2024, am selben Tag bei Gericht eingegangen, hat die bei der Antragsgegnerin, einer Arbeitgeberin des öffentlichen Dienstes, seit 2000 mit Lehraufgaben beschäftigte Antragstellerin im Wege der einstweiligen Verfügung beantragt, der Antragsgegnerin die Besetzung der im Tenor bezeichneten Stelle bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu untersagen. Die Antragstellerin hatte sich auf diese Stelle beworben, nach Durchführung eines Auswahlverfahrens einschließlich einer Lehrprobe von der Antragsgegnerin mit Mail-Schreiben vom 5. Juli 2024 aber eine Absage erhalten: Die Auswahlentscheidung sei zugunsten eines anderen Kandidaten ausgefallen.
Mit Beschluss vom 19. Juli 2024 hat das Arbeitsgericht den Antrag durch Beschluss des Vorsitzenden zurückgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt, die Antragstellerin habe den Bewerbungsverfahrensanspruch aus Artikel 33 Absatz 2 Grundgesetz als Verfügungsanspruch, insbesondere die geltend gemachte Verfehlung der Anforderungen aus der Stellenausschreibung durch den ausgewählten Bewerber, nicht glaubhaft gemacht. Außerdem führt das Arbeitsgericht dazu aus, weshalb es anstelle einer Entscheidung nach mündlicher Verhandlung durch die Kammer eine Alleinentscheidung des Vorsitzenden im schriftlichen Verfahren habe treffen dürfen.
Nach Zustellung des Beschlusses am 19. Juli 2024 hat die Antragstellerin am 24. Juli 2024 sofortige Beschwerde eingelegt und begründet: Das Arbeitsgericht habe die Anforderungen an die Darlegungslast überspannt. Ihre Information über das Auswahlverfahren durch die Antragsgegnerin sei unzureichend. Die Bewertung der beiden Bewerber im Auswahlwahlvermerk erschöpfe sich in einer Wiedergabe des über die Lehrprobe geführten Gesprächs und einer kurzen Bemerkung zum Interview.
II.
Auf die zulässige und begründete Beschwerde war nach Durchführung des Abhilfeverfahrens durch Beschluss des Arbeitsgerichts vom 25. Juli 2024 der Beschluss des Arbeitsgerichts aufzuheben und das Verfügungsverfahren zur Verhandlung vor der Kammer und erneuten Bescheidung nach dort zurückzuverweisen. Die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens waren wegen unrichtiger Sachbehandlung niederzuschlagen.
1. Die Beschwerde ist statthaft und auch im Übrigen zulässig.
Wegen der Beschwerde gegen Entscheidungen der Arbeitsgerichte oder ihrer Vorsitzenden gelten gemäß der Anordnung in § 78 Satz 1 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) die Vorschriften aus §§ 567 ff Zivilprozessordnung (ZPO). Danach ist gegen die Zurückweisung eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung durch Beschluss die sofortige Beschwerde statthaft, § 567 Absatz 1 Nr. 2 ZPO (vgl. G. Vollkommer in: Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Aufl. 2024, § 922 ZPO, Rn 19; Musielak/Voit/Huber, 21. Auflage 2024, ZPO § 922 Rn. 10). Hat das Arbeitsgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen, ist gegen diesen Beschluss für den Antragsteller die sofortige Beschwerde gegeben (GK-ArbGG/Vossen, Stand April 2024, § 62 Rn 96). Die Anforderungen aus § 569 ZPO zu Frist und Schriftform der Einlegung hat die Antragstellerin beachtet.
2. Die Beschwerde ist begründet und führt gemäß § 78 Satz 1 ArbGG, § 572 Absatz 3 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückverweisung des Verfahrens zur mündlichen Verhandlung und erneuten Entscheidung an das Arbeitsgericht Berlin. Die Voraussetzungen für eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Kammervorsitzenden allein lagen nicht vor. Dieser Verfahrensfehler, wie er den gesetzlichen Richter berührt, führt vorliegend zur Zurückverweisung der Sache.
a. Nach der Regelung in § 62 Absatz 2 Satz 2 ArbGG kann die Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung in dringenden Fällen, auch dann, wenn der Antrag zurückzuweisen ist, ohne mündliche Verhandlung ergehen. Auch die Zurückweisung des Antrags ohne mündliche Verhandlung hat danach zur Voraussetzung, dass ein dringender Fall vorliegt. Anderenfalls ist aufgrund mündlicher Verhandlung und damit unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu entscheiden (LArbG Köln, 15. April 2020 - 4 Ta 55/20, juris Rn 37; LArbG Düsseldorf, 8. Januar 2019 - 3 Ta 5/19, juris Rn 18). Unterbleibt eine mündliche Verhandlung, obwohl kein dringender Fall vorliegt, so stellt dies einen gewichtigen Verfahrensfehler dar. Ein Gericht, das ohne Vorliegen eines dringenden Falles dennoch ohne mündliche Verhandlung durch den Vorsitzenden allein entscheidet, beachtet dabei nicht den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gewährleistung des gesetzlichen Richters. Denn es nimmt damit durch den Vorsitzenden allein eine Entscheidungskompetenz in Anspruch, die ihm nicht zusteht, weil die Kammer aufgrund der eindeutigen gesetzlichen Regelung zur Entscheidung berufen ist. Darüber hinaus verkürzt beziehungsweise beschränkt das Gericht in der Regel bei einer solchen Vorgehensweise auch das Gebot des rechtlichen Gehörs des Antragstellers (LArbG Schleswig-Holstein, 26. Mai 2011 - 1 Ta 76 c/11, juris Rn 25).
b. Ein dringender Fall im Sinne von § 62 Absatz 2 Satz 2 ArbGG liegt vor, wenn im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes die Warnung des Gegners oder die Zeitdauer, die mit einer mündlichen Verhandlung verbunden ist, vermieden werden muss und die zeitliche Dringlichkeit nicht auf ein zögerliches Verhalten des Antragstellers zurückzuführen ist (LArbG Köln, 15. April 2020 - 4 Ta 55/20, juris Rn 39; LArbG Düsseldorf, 8. Januar 2019 - 3 Ta 5/19, juris Rn 21; GMP/Schleusener, ArbGG, 10. Auflage 2022, § 62 Rn 83; Walker, in: Schwab/Weth, ArbGG, 6. Auflage 2022, § 62 Rn 115 mwN). Die Eilbedürftigkeit der Maßnahme muss über die dem einstweiligen Verfügungsverfahren ohnehin innewohnende Dringlichkeit hinausgehen und selbst eine innerhalb kürzester Frist terminierte mündliche Verhandlung nicht abgewartet werden können oder der Zweck der einstweiligen Verfügung gerade den Überraschungseffekt der Beschlussverfügung erfordern (Düwell/Lipke-Dreher, 5. Auflage 2019, § 62 Rn 65; GK-Vossen, Stand April 2024, § 62 Rn 92).
c. Liegt kein dringender Fall vor, entscheidet das Arbeitsgericht aber dennoch ohne mündliche Verhandlung durch den Kammervorsitzenden allein, so liegt ein schwerer Verfahrensfehler vor, der grundsätzlich geeignet ist, die Aufhebung des Beschlusses und Zurückverweisung des Verfahrens zu begründen. Eine entsprechende Möglichkeit ist für das Beschwerdeverfahren in § 572 Absatz 3 ZPO vorgesehen, wie er über § 78 Satz 1 ArbGG im Verfahren über Beschwerden gegen Entscheidungen der Arbeitsgerichte vorliegend Anwendung findet. Gemäß § 572 Absatz 3 ZPO kann das Beschwerdegericht, soweit die angefochtene Entscheidung aufzuheben ist, nach seinem Ermessen wählen, ob es der Beschwerde durch eigene Sachentscheidung abhilft oder die Sache an das Untergericht zurückverweist (Musielak/Voit/Ball, 21. Auflage 2024, ZPO § 572 Rn 16). Das Zurückverweisungsverbot in § 68 ArbGG gilt für das Berufungsverfahren in Arbeitssachen, nicht für das Beschwerdeverfahren (LArbG Schleswig-Holstein, 26. Mai 2011 - 1 Ta 76 c/11, juris Rn 31f; Düwell/Lipke-Dreher, ArbGG, 5. Aufl. 2019, § 62 Rn 65). Einer Rüge der Verletzung des gesetzlichen Richters seitens der Beteiligten bedarf es für die Zurückverweisung durch das Landesarbeitsgericht nicht. Die Regelung in § 576 Absatz 3 ZPO zur Anwendbarkeit der Bestimmung in § 547 ZPO zu den absoluten Revisionsgründen einschließlich der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts, wie sie nur auf Rüge zu beachten sind (vgl. § 551 Absatz 3 Nr. 2b ZPO), betrifft die Rechtsbeschwerde, nicht die sofortige Beschwerde.
d. In Anwendung dieser Grundsätze war der Beschluss des Arbeitsgerichts aufzuheben und das Verfahren über den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nach dort zur Verhandlung vor der Kammer zurückzuverweisen.
aa. Ein dringender Fall im Sinne von § 62 Absatz 2 Satz 2 ArbGG ist nicht gegeben. In den Beschlussgründen hat das Arbeitsgericht ausgeführt, dass es das Verfahren „in der Sache selbst“ als „nicht in besonderem Maße eilbedürftig“ angesehen hat. In der Tat ist in keiner Weise ersichtlich, dass die dargestellten Anforderungen an einen dringenden Fall erfüllt sind. Das Interesse an einem effektiven Rechtsschutz gebot es nicht die Warnung des Gegners zu vermeiden oder die Zeitdauer abzuwarten, die mit einer mündlichen Verhandlung verbunden ist. Die Ausführungen des Arbeitsgerichts zu den Auswirkungen einer Terminierung auf die anderen bei der Kammer anhängigen Verfahren oder den zeitnahen Zugang zu Rechtsmitteln begründen ebenfalls keine Dringlichkeit. Die für eine Alleinentscheidung erforderliche Dringlichkeit ist auf die Bescheidung des anhängig gemachten Antrags durch das erstinstanzliche Gericht bezogen, nicht auf die Erledigungsdauer anderer bei der Kammer anhängiger Verfahren oder die Ermöglichung von Rechtsmitteln.
bb. In Ausübung des eingeräumten Ermessens hat das Beschwerdegericht sich für die Aufhebung und Zurückverweisung entschieden.
(1) Es hat dabei berücksichtigt, dass ein schwerwiegender Verfahrensfehler vorliegt mit Auswirkungen insbesondere auf die Bestimmung der zur Entscheidung zuständigen Richter. Durch die Alleinentscheidung hat das Arbeitsgericht die Beteiligten entgegen Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz ihrem gesetzlichen Richter entzogen. Die Entscheidung über die beantragte Untersagungsverfügung ist der vollbesetzten Kammer vorbehalten. Das in Art. 101 Absatz 1 Satz 2 GG begründete und durch das Verfahrensrecht weiter ausgestaltete Recht auf den gesetzlichen Richter ist als grundrechtsgleiches Recht den Prozessbeteiligten gewährt. Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 GG gibt den Rechtsuchenden einen Anspruch darauf, dass der Rechtsstreit von ihrem gesetzlichen Richter entschieden wird (BVerfG, 16. Dezember 2014 - 1 BvR 2142/11, juris Rn 69). Wie dargestellt, hat die Antragstellerin in Anwendung der Vorgaben aus dem ArbGG ein Recht auf mündliche Verhandlung und Entscheidung durch die vollbesetzte Kammer. Dies kann nicht dadurch relativiert werden, dass im Anwendungsfall Verzögerungen für andere Verfahren und deren Beteiligte resultieren. Insoweit hat das Arbeitsgericht Bedeutung und Tragweite der Gewährleistung aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 GG grundlegend verkannt (vgl. BVerfG aaO. Rn 71) und sich bei der Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen so weit von dem sie beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt, dass von einer willkürlichen Verletzung der Zuständigkeitsbestimmungen auszugehen ist (vgl. BVerfG, 30. Juni 1970 - 2 BvR 48/70, juris Rn 18). Dementsprechend würde eine Zurückverweisung selbst dann angezeigt sein, wenn man die Unbeachtlichkeit im Beschwerdeverfahren einer zu Unrecht angenommenen Zuständigkeit des Gerichts des ersten Rechtszugs (§ 571 Absatz 2 Satz 2 ZPO) auch auf die Frage nach der Alleinentscheidungskompetenz bei Anträgen auf Erlass einer einstweiligen Verfügung erstrecken wollte. Die Grenzen der Unüberprüfbarkeit im Rechtsmittelverfahren sind nämlich überschritten, wenn das Gericht seine Zuständigkeit willkürlich angenommen und damit den Beteiligten entgegen Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz seinem gesetzlichen Richter entzogen hat (vgl. MüKoZPO/Rimmelspacher, 6. Aufl. 2020, ZPO § 513 Rn 22).
(2) Eine solche Dringlichkeit, dass nur bei einer sofortigen Entscheidung ein ausreichender effektiver Rechtsschutz gewährt werden könnte und daher der Verfahrensfehler hinzunehmen gewesen wäre, ist nicht gegeben. Der Antragsgegnerin ist zuzumuten, mit der Stellenbesetzung das gerichtliche Verfahren abzuwarten.
(3) Die Sache war nicht entscheidungsreif. Vielmehr ist den Beteiligten weiteres rechtliches Gehör zu gewähren, der Antragsgegnerin insbesondere zu dem von der Antragstellerin erhobenen Einwand, dass sich der Auswahlvermerk in einer Darstellung und Bewertung der Lehrproben erschöpfe. Eine fehlerfreie Auswahlentscheidung vor Besetzung eines öffentlichen Amtes verlangt einen Eignungsvergleich im Hinblick auf das konkrete Anforderungsprofil unter Auswertung des gesamten bedeutsamen Inhaltes der Personalakten, insbesondere anhand aktueller Beurteilungen oder Arbeitszeugnisse. Strukturierte Auswahlgespräche, deren Verlauf und Ergebnisse aussagekräftig protokolliert sein müssen, können in der Regel nur in Ergänzung zu dienstlichen Beurteilungen als taugliche Erkenntnisquellen für die Bewertung der Eignung eines Bewerbers herangezogen werden (vgl. Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 26. November 2008 - 1 B 1870/08, juris Rn 5, Rn 8). Vor diesem Hintergrund muss die Antragsgegnerin im weiteren Verfahren Gelegenheit haben, zu Inhalt und Kriterien der vorliegend vorgenommenen Auswahlentscheidung vorzutragen, insbesondere zur Berücksichtigung von Arbeitszeugnissen oder dienstlichen Beurteilungen, ggf. dazu, weshalb eine Berücksichtigung unterbleiben durfte.
3. Die Gerichtskosten aus dem Beschwerdeverfahren waren in Anwendung von § 21 Absatz 1 Satz 1 GKG wegen unrichtiger Sachbehandlung durch das Arbeitsgericht niederzuschlagen.
III.
Die Entscheidung über die Verfahrenskosten bleibt dem Arbeitsgericht vorbehalten.
Veranlassung, in Anwendung von §§ 72 Satz 2, 72 Absatz 2 ArbGG die Rechtsbeschwerde zuzulassen, bestand nicht.
Gegen diese Entscheidung ist kein Rechtsmittel gegeben.