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Russische Föderation, Tschetschenien, Wehrpflicht, Wehrdienst, Wehrersatzdienst, Kriegsdienstverweigerung, Wehrdienstpflichtiger, Grundwehrdienstleistende, Zwangsrekrutierung, Vertragssoldat, Freiwillige, Ukraine, Angriffskrieg, Kampfeinsatz, Einsatzgebiet, Abschiebungsverbot, Widerruf, beachtliche Wahrscheinlichkeit, richterliche Überzeugungsbildung


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg Der 12. Senat Entscheidungsdatum 22.08.2024
Aktenzeichen 12 B 17/23 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2024:0822.12B17.23.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen 3 EMRK , 108 Abs. 1 VwGO, 73 Abs. 6 S. 1 AsylG , 60 Abs. 5; Abs. 7 AufenthG

Leitsatz

  1. Ungediente junge Männer russischer Staatsangehörigkeit und tschetschenischer Volkszugehörigkeit müssen in Tschetschenien damit rechnen, außerhalb einer Einberufung zum Wehrdienst zwangsweise für sog. Freiwilligenbataillone für einen Kampfeinsatz in der Ukraine rekrutiert zu werden.
  2. In den übrigen Gebieten der Russischen Föderation außerhalb des Nordkaukasus können sich Tschetschenen grundsätzlich niederlassen und sind vor Verfolgung sicher, soweit sie nicht in besonderer Weise politisch in Erscheinung getreten sind und daher kein landesweites Verfolgungsinteresse der föderalen oder tschetschenischen Sicherheitsbehörden anzunehmen ist (Fortführung der bisherigen Rechtsprechung).
  3. In der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens werden Tschetschenen nach den allgemeinen Regeln zum Grundwehrdienst ohne Berücksichtigung der im Gebiet von Tschetschenien geltenden Quote für die Ableistung des Wehrdiensts herangezogen.
  4. Für junge, gesunde, ungebundene und beruflich nicht etablierte, nicht vermögende Rückkehrer besteht ein realistisches Risiko, zum Grundwehrdienst im Rahmen der präsidial verfügten Einberufungsquoten herangezogen zu werden.
  5. Die in der Russischen Föderation von der Verfassung garantierte Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung und Ableistung eines zivilen Wehrersatzdiensts stellt für Rückkehrer, die einen Umgang mit russischen Behörden und Militärdienststellen nicht gewohnt sind, keine erfolgversprechende Möglichkeit dar, einer Heranziehung zum Grundwehrdienst zu entgehen.
  6. Grundwehrdienstleistenden in den russischen Streitkräften droht aktuell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit kein Kampfeinsatz in der Ukraine. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass Grundwehrdienstleistende systematisch oder in nennenswertem Ausmaß zwangsweise als Vertragssoldaten rekrutiert werden; das schließt nicht aus, dass sie im Rahmen fordernder Anwerbung ihnen angebotene Verträge aufgrund der zugesagten finanziellen und sozialen Vorteile in größeren Zahlen unterzeichnen.
  7. Einsätze von Grundwehrdienstleistenden auf russischem Territorium in Grenzregionen zur Ukraine zur Abwehr ukrainischer Gegenoffensiven stellen keine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung dar.

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 19. September 2023 wird geändert. Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der 22-jährige Kläger ist russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit und wendet sich gegen den Widerruf der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots.

Er reiste im September 2012 zusammen mit seiner Mutter und Schwester erstmalig in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. Die Familie wurde im November 2013 im Rahmen eines Dublin-Verfahrens nach Polen überstellt, reiste im Januar 2014 erneut in das Bundesgebiet ein und stellte im Februar 2014 einen weiteren Asylantrag. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) lehnte mit Bescheid vom 16. November 2017 die Anträge auf Asylanerkennung ab, erkannte die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus nicht zu, stellte aber das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG fest. Zur Begründung führte es aus, die Versorgung der Familie bestehend aus Mutter und zwei minderjährigen Kindern in der Russischen Föderation sei durch die posttraumatische Belastungsstörung der Mutter beeinträchtigt.

Der Kläger erhielt in der Folge eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG. Während des weiteren Aufenthalts trat er wiederholt strafrechtlich in Erscheinung; von der Polizei und der Staatsanwaltschaft in Berlin wird er als sog. Intensivtäter geführt. Zuletzt verbüßte der Kläger eine Jugendstrafe von zwei Jahren und acht Monaten vollständig bis zum 14. Mai 2024. In der Haft hat er sich einer Körperverletzung gegenüber einem Mitgefangenen schuldig gemacht und wurde zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen verurteilt. Nach seiner Haftentlassung steht er unter Führungsaufsicht. Die Ausländerbehörde erließ gegen den Kläger bereits unter dem 6. März 2023 eine Ausweisungsverfügung, gegen die er Klage beim Verwaltungsgericht Berlin erhoben hat (VG 29 K 50/23). Der Kläger wird gegenwärtig geduldet.

Mit Verfügung vom 12. Januar 2021 leitete das Bundesamt ein Widerrufsverfahren ein, teilte dem Kläger den beabsichtigten Widerruf mit und gab ihm Gelegenheit zur Stellungnahme.

Das Bundesamt widerrief mit Bescheid vom 17. März 2021 das festgestellte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG und stellte fest, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliege. Die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots lägen nicht mehr vor. Der Kläger habe wegen seiner damaligen Minderjährigkeit Abschiebungsschutz erhalten. Inzwischen sei er volljährig und daher auf die Möglichkeit einer eigenständigen Existenzsicherung zu verweisen.

Der Kläger hat gegen diesen Bescheid am 25. März 2021 Klage beim Verwaltungsgericht Berlin erhoben, zu deren Begründung er vorträgt, er sei als Kind aus der Russischen Föderation ausgereist. Sämtliche Bezugspersonen hielten sich in der Bundesrepublik auf. Er könne sich daher keine eigene Existenzgrundlage in der Russischen Föderation schaffen. Aufgrund seines Alters habe er außerdem damit zu rechnen, in den Angriffskrieg gegen die Ukraine eingezogen, im bewaffneten Konflikt eingesetzt und in menschenrechtswidrige Handlungen verwickelt zu werden.

Das Verwaltungsgericht hat den Widerrufsbescheid aufgehoben. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Voraussetzungen für den Widerruf des im Jahre 2017 zugunsten des Klägers festgestellten Abschiebungsverbots lägen nicht (mehr) vor. Der Kläger dürfe gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht in die Russische Föderation abgeschoben werden. Das Gericht sei der Überzeugung, dass erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Kläger im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation tatsächlich Gefahr laufe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Ein gesunder, kinderloser russischer Staatsangehöriger im grundwehrpflichtigen Alter wie der Kläger habe beachtlich wahrscheinlich eine Einziehung zum Grundwehrdienst in den russischen Streitkräften und die Entsendung zu Kampfhandlungen in die Ukraine zu befürchten, woraus sich wegen der hieraus resultierenden zwangsweisen Teilnahme an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg unter Gefahr für Leib und Leben eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung ergebe. Zudem drohe dem Kläger als Tschetschenen bei einer Niederlassung in seiner Heimatregion Tschetschenien im Falle der Rückkehr die Zwangsrekrutierung für ein tschetschenisches „Freiwilligenbataillon" zum Einsatz in der Ukraine. Auch wenn der Kläger noch keinen Musterungs- bzw. Einberufungsbefehl erhalten habe, sei bei qualifizierender Gesamtbetrachtung eine beachtliche Wahrscheinlichkeit wegen der Schwere des befürchteten Eingriffs in die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit trotz verbleibender Unsicherheiten der Einberufung und Entsendung festzustellen.

Die Berufung gegen dieses Urteil hat der Senat auf Antrag der Beklagten wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache mit Beschluss vom 20. Dezember 2023 zugelassen, weil die tatsächliche Frage der Gefahr eines Einsatzes Grundwehrdienstleistender in der Ukraine von den Verwaltungsgerichten im Gerichtsbezirk unterschiedlich beantwortet werde.

Zu deren Begründung macht die Beklagte geltend: Die Überzeugungsbildung des Verwaltungsgerichts werde dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht gerecht. Es gebe aktuell keine Erkenntnisse für einen Einsatz Grundwehrdienstleistender in der Ukraine. Ein solcher Einsatz werde von offiziellen russischen Stellen in Abrede gestellt; zuletzt auch ausdrücklich eine Stationierung Grundwehrdienstleistender in besetzten Gebieten wie Lugansk, Donezk, Cherson oder Saporischia. Aktuell sei eine Teilnahme Wehrpflichtiger an Kampfhandlungen in der Ukraine nicht nachgewiesen. Es gebe zudem die Möglichkeit eines Wehrersatzdienstes in der Russischen Föderation. Schließlich spreche auch die intensivierte Anwerbung freiwilliger Kämpfer gegen eine Zwangsrekrutierung von Grundwehrdienstleistenden. Sie lasse auch keinen Bedarf für einen Einsatz zwangsweise rekrutierter Personen erkennen. Dass systematisch Zwang und/oder Täuschung auf Wehrdienstpflichtige ausgeübt werde, sich freiwillig zu melden, sei nicht belegt. Eine Quelle spreche lediglich von einer niedrigen zweistelligen Anzahl solcher Vorfälle. Angesichts der vorliegenden Erkenntnisse reiche die bloße Möglichkeit, dass es gleichwohl zu einer Heranziehung und womöglich zu einem Einsatz in der Ukraine kommen könne, für eine beachtliche Wahrscheinlichkeit eines solchen Hergangs nicht aus. Was die Gefahr einer zwangsweisen Rekrutierung in Tschetschenien angehe, sei der Kläger auf eine Niederlassung im Gebiet der übrigen Russischen Föderation zu verweisen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 19. September 2023 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird neben der Gerichtsakte auf den Verwaltungsvorgang der Beklagten und die Ausländerakte des Landesamts für Einwanderung (zwei Heftungen), die vorgelegen haben und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Der angefochtene Widerrufsbescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 125 Abs. 1 i.V.m. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Rechtsgrundlage für den Widerruf der Feststellung eines Abschiebungsverbots ist § 73 Abs. 6 Satz 1 AsylG. Danach ist die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen.

Für den Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung (§ 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG) gilt, dass der Widerrufsbescheid umfassend auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen ist und das Gericht auch vom Kläger nicht geltend gemachte Anfechtungsgründe sowie von der Behörde nicht angeführte Widerrufsgründe einzubeziehen hat (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 17.12 – BVerwGE 146, 31 Rn. 9). Denn die Aufhebung eines solchen, nicht im Ermessen der Behörde stehenden Verwaltungsakts setzt nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO unter anderem seine objektive Rechtswidrigkeit voraus; daran fehlt es auch dann, wenn er aus einem im Bescheid oder im Verfahren nicht angesprochenen Grund rechtmäßig ist. Liegt der im Widerrufsbescheid allein angeführte Widerrufsgrund nicht vor, so ist eine Klage erst dann begründet, wenn der Bescheid auch unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten nicht haltbar ist und er den Adressaten in seinen Rechten verletzt, insbesondere also wenn auch andere in Betracht kommende Widerrufsgründe ausscheiden. Dies entspricht der im Asylverfahren geltenden Konzentrations- und Beschleunigungsmaxime, nach der alle in einem Asylprozess typischerweise relevanten Fragen in einem Prozess abschließend geklärt werden sollen (s.a. BVerwG, Urteil vom 8. September 2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 10; Beschluss vom 10. Oktober 2011 – 10 B 24.11 – juris Rn. 4). Diese Grundsätze gelten gleichermaßen auch für den Widerruf der Feststellung von Abschiebungsverboten. Eine solche Feststellung ist nach dem Gesetz zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Ein Ermessen ist dem Bundesamt insoweit nicht eingeräumt. Es handelt sich um eine rechtlich gebundene Entscheidung, die umfassend bezogen auf den gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung zu überprüfen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Juni 2015 – 1 C 2.15 –, InfAuslR 2015, 401, juris Rn. 14 f.).

Die Voraussetzungen für einen Widerruf liegen unter Beachtung dieses Prüfungsmaßstabs vor. Die Gründe für die ursprüngliche Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – (BGBl. 1952 II S.685) in Abhängigkeit von der Mutter des inzwischen erwachsenen Klägers sind entfallen (1.). Ein Abschiebungsverbot auf der genannten Rechtsgrundlage wegen eines befürchteten Einsatzes in dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine nach einer Einberufung zum Grundwehrdienst kann nicht festgestellt werden; ein solcher Einsatz ist nach dem für den Kläger im Falle seiner Rückkehr zumutbaren Verhalten nicht beachtlich wahrscheinlich (2.). Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG besteht bei einer Abschiebung in die Russische Föderation nicht (3.).

1. Die Feststellung des Abschiebungsverbots für den Kläger war dadurch begründet, dass seine Mutter für seine Schwester und ihn aufgrund ihrer Erkrankung nicht ausreichend hätte sorgen können, insbesondere nicht in der Lage gewesen wäre, das Existenzminimum zu erwirtschaften. Dieser Grund ist bei dem gesunden, volljährigen und nicht mehr schulpflichtigen Kläger entfallen. Er ist in der Lage, unter Berücksichtigung ihm zumutbarer Anstrengung selbst für sich zu sorgen, und zwar unabhängig vom Ort der Rückkehr. Der Kläger hat dies im gerichtlichen Verfahren nicht in Abrede gestellt. In Tschetschenien mag er zusätzlich auf seinen Vater und dessen Familie als soziales Netzwerk zurückgreifen können, denn dieser ist nach den traditionellen Vorstellungen für ihn verantwortlich. Was die sonstige Gefahr einer Verelendung angeht, folgt der Senat dem angefochtenen Bescheid des Bundesamts und sieht von weiterer Darstellung ab (§ 77 Abs. 3 AsylG). An diesen Verhältnissen hat sich auch im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nichts in einer den Kläger begünstigenden Weise geändert (vgl. zur Sicherung des Existenzminimums: Senatsurteil vom heutigen Tage – OVG 12 B 18/23 –, Urteilsabdruck S. 19 ff.), zur Veröffentlichung in juris vorgesehen).

2. Was die Gefahr einer Beteiligung am Ukrainekrieg als einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg unter Lebensgefahr wider Willen angeht, liegen die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger nach einer Einberufung zum Grundwehrdienst zu Kampfhandlungen in der Ukraine eingesetzt wird.

Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ("real risk") abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 1. Juni 2011 – 10 C 25.10 – BVerwGE 140, 22 Rn. 22 m.w.N. und vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67 Rn. 32; Beschluss vom 15. August 2017 – 1 B 120.17 – juris Rn. 8). Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verwirklichung des Risikos, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen zu werden, sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer "qualifizierenden" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013, a.a.O. m.w.N.). Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn bei einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische, nicht auszuschließende Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit“ einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Februar 2008 – 10 C 33.07 – Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 19, juris Rn. 37). Allein die Wertung, dass eine Verfolgung "nicht auszuschließen" sei, genügt für die richterliche Überzeugungsbildung von einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 31.18 – InfAuslR 2019, 459, juris Rn. 20 ff., 32).

a) Bei einer Rückkehr nach Tschetschenien würde sich der Kläger allerdings voraussichtlich einer willkürlichen Rekrutierungspraxis ausgesetzt sehen, die die Unzumutbarkeit einer solchen Rückkehr intendiert.

aa) Was eine Einberufung des Klägers zum Grundwehrdienst angeht, ist die Wahrscheinlichkeit einer solchen Einberufung in Tschetschenien allerdings deutlich herabgesetzt. Bei Wiedereinführung der Einberufung von Tschetschenen zum Grundwehrdienst im Jahre 2014 wurde eine Quote von 500 Mann festgelegt, die aus Tschetschenien pro Jahr gezogen wird (BFA vom 12. Juni 2024, Länderinformation der Staatendokumentation, Russische Föderation, Version 14, S. 35). Davon dienen etwa 100 Wehrpflichtige in tschetschenischen Einheiten, der Rest in dem russischen Verteidigungsministerium unterstehenden Einheiten im südlichen Militärdistrikt (EUAA, COI QUERY vom 17. Februar 2023, Major developments in the Russian Federation in relation to political opposition and military service, S. 19). Die Erkenntnislage geht im Übrigen dahin, dass russische Staatsbürger tschetschenischer Nationalität außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation normal zum Wehrdienst einberufen werden, wenn sie dort amtlich gemeldet und militärisch registriert sind. Diese Wehrpflichtigen werden über das gesamte Land verteilt und verschiedenen Militäreinheiten zugewiesen (BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O.). Die Quote bezieht sich danach nur auf in Tschetschenien wohnhafte wehrpflichtige junge Männer; es wird berichtet, dass wegen der geringen Zahl der Einberufungen junge Tschetschenen, die sich davon Vorteile für ein berufliches Fortkommen im Staatsdienst versprechen, ihren Wohnsitz in andere Regionen verlegen, um einberufen werden zu können (vgl. Memorial, Gutachterliche Auskunft Dr. Cremer an VG Freiburg vom 27. Januar 2020, S. 4; ACCORD vom 31. Oktober 2019, Russische Föderation: Wehrdienst und Dedowschtschina, S. 6 ff.). Die Erkenntnisse stammen zwar aus der Zeit vor Beginn des Ukrainekriegs. Es gibt aber keine Anzeichen für eine wesentliche Änderung der Einberufungspraxis. Aus diesen Berichten lässt sich zudem folgern, dass ein Grundwehrdienst im Rahmen der tschetschenischen Quote eher als Auszeichnung für Günstlinge des Regimes zu begreifen ist, zu denen der Kläger nicht gehören dürfte. Angesichts der allgemein in Tschetschenien herrschenden Willkür lässt sich aber weder seine Einberufung zum Wehrdienst ausschließen noch ein sich anschließender Einsatz in der Ukraine.

bb) Der Kläger muss aber vor allem eine zwangsweise Rekrutierung als Vertragssoldat mit einer dann realen Möglichkeit des Einsatzes zu Kampfhandlungen in der Ukraine befürchten.

aaa) Tschetschenische Einheiten werden in der Ukraine seit dem Sommer 2022 eingesetzt. Teils handelt es sich um der Nationalgarde Kadyrows unterstellte Einheiten, teils um auf der Ebene des russischen Verteidigungsministeriums in Tschetschenien für diesen Einsatz gebildete Bataillone und Regimenter (BFA, vom 12. Juni 2024, a.a.O., S. 51). Zahlenangaben schwanken zwischen 21.000 (2022) und 9.000 (2023) tschetschenischen Kämpfern (SFH-Russland/Tschetschenien: Konsequenzen einer Wehrdienstverweigerung, Auskunft vom 31. August 2023, S. 7). Kadyrow hatte anfangs zugesagt, 200 „Freiwillige“ pro Woche zu stellen; jüngst gab er gegenüber Putin an, seit Kriegsbeginn 47.000 Mann entsandt zu haben, darunter 19.000 „Freiwillige“ (https://www.tagesspiegel.de/internationales/erster-besuch-seit-13-jahren-putin-inspiziert-tschetschenische-truppen-fur-ukraine-einsatz-12230819.html, zuletzt aufgerufen am 22.08.2024). Putins Teilmobilisierung im September 2022 in der Russischen Föderation wurde in Tschetschenien nicht umgesetzt mit der Begründung, Tschetschenien habe schon überproportional Kräfte beigesteuert. Gleichwohl finden weiterhin Rekrutierungen in Tschetschenien statt, die in der Regel auf vertraglicher Grundlage erfolgen. Realistisch wird eine Zahl von 10 bis 15 sog. Freiwillige pro Monat geschätzt. Teilweise handelt es sich um aus Überzeugung handelnde Freiwillige, der größte Teil kommt aus ärmeren Schichten der Landbevölkerung und wird durch die gute Bezahlung motiviert, und eine dritte Gruppe wird unter unter Zwang rekrutiert (DIS, Russia, Recruitment of Chechens to the War in Ukraine, April 2024, S. 20). Zwangsmaßnahmen richten sich dabei vor allem gegen bereits „in den Fokus“ geratene vermutete Regimegegner (EUAA vom 17. Februar 2023, Major Developments in the Russian Federation in relation to political opposition an military service, S. 20), gegen gesellschaftliche Randgruppen und solche Kreise, die sich dem Militärdienst entziehen wollen (DIS vom April 2024, a.a.O., S. 20 ff.). Letztere werden offiziell als Lumpen, Gesindel und Feiglinge an den Pranger gestellt, und es werden ihnen Sozialleistungen verweigert. Es sollen auch Listen von ausgereisten Männern aufgestellt worden sein (BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O. S. 52). Man kann sich dabei nicht sicher sein, dass insoweit nur auf Ausreisen seit dem Ukrainekrieg abgestellt wird; genauso könne auch schon früher Ausgereiste als solche Personen angesehen werden, die sich einer Einberufung entziehen wollen. Der ausgeübte Zwang reicht von Verhaftungen der Betroffenen, Folter, Entführung, Gewalt gegen und Erniedrigung von Familien- und Stammesangehörigen und allgemeiner Benachteiligung. Militärische Ausbildung spielt für die Rekrutierung keine erhebliche Rolle; die „freiwilligen“ Rekruten erhalten in Gudermes eine als nicht besonders anspruchsvoll beschriebene zehntägige Ausbildung, bevor sie in die Ukraine entsandt werden (BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O., S. 51). Kadyrow stellte für eingesetzte Nationalgardeeinheiten zunächst sicher, dass sie nach Möglichkeit nicht an vorderster Front eingesetzt werden. Das ließ sich jedoch im Jahre 2023 nicht mehr durchhalten, nachdem sich Wagner-Söldner zurückgezogen hatten. Für die tschetschenischen Kampfeinheiten (nähere Beschreibung bei DIS vom April 2024, a.a.O. S. 14 ff.), die dem russischen Verteidigungsministerium unterstehen und sich auch nicht völlig aus tschetschenischen Volkszugehörigen zusammensetzen, wird die Beteiligung an verlustreichen Fronteinsätzen im Rahmen der ukrainischen Sommerinitiative im Südosten berichtet (BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O.; SFH vom 31. August 2023, a.a.O. S. 9); das Risiko, zu fallen, soll bei muslimisch geprägten Einheiten zehnmal höher als bei Soldaten aus Moskau sein, die tschetschenischen Einheiten werden von den russischen Machthabern als „private Wegwerfarmee“ betrachtet und mit der „Drecksarbeit“ betraut (SFH vom 31. August 2023, a.a.O.).

bbb) Diese Erkenntnislage birgt für den Kläger eine tatsächliche Gefahr, unter Zwang für den Einsatz in der Ukraine rekrutiert und dort unter Lebensgefahr eingesetzt zu werden, sollte er nach Tschetschenien zurückkehren. Er müsste sich dort als ungedienter junger Mann im wehrpflichtigen Alter bei den Militärbehörden melden und auch sonst würde seine Registrierung örtliche Behörden auf ihn aufmerksam werden lassen. Das dürfte in Tschetschenien durchaus realistisch dazu führen, dass der Kläger allgemein Gefahr läuft, als junger unabhängiger und kampffähiger Mann in zwangsweise Rekrutierungsbemühungen für den Einsatz in der Ukraine einbezogen zu werden. Nicht zuletzt sein Auslandsaufenthalt dürfte ihn bereits als verdächtig erscheinen lassen.

b) Dem Kläger kann aber zugemutet werden, sich in der Russischen Föderation außerhalb seiner Heimatregion und des Nordkaukasus niederzulassen, wenn ihm dort nicht droht, Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK unterzogen zu werden. Zwar muss der Kläger an einem solchen anderen Rückkehrort in der Russischen Föderation mit einer Einberufung zum Wehrdienst rechnen. Es ist für den Kläger auch nicht realistisch, eine Heranziehung zum Grundwehrdienst durch eine Kriegsdienstverweigerung und Ableistung eines zivilen Ersatzdienstes zu vermeiden. Ein Einsatz als Grundwehrdienstleistender zu Kampfhandlungen in der Ukraine ist jedoch nicht beachtlich wahrscheinlich.

aa) Was die Voraussetzungen einer Ausweichmöglichkeit durch Niederlassung in anderen Landesteilen des Zielstaats der Abschiebung angeht, hält der Senat auch unter den veränderten Bedingungen seit dem Angriff auf die Ukraine und insbesondere den gegenwärtig durch interne Fluchtbewegungen auftretenden Belastungen aufgrund der ukrainischen Offensive in der Oblast Kursk an der bisherigen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 3. März 2009 – OVG 3 B 16.08 – juris Rn. 58 ff.) fest, dass Tschetschenen, die nicht in besonderer Weise politisch in Erscheinung getreten sind und bei denen daher kein landesweites Verfolgungsinteresse der föderalen Sicherheitsbehörden anzunehmen ist und keine greifbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die tschetschenischen Sicherheitsbehörden ein besonderes Interesse an ihrer Ergreifung haben und deshalb ihre Festnahme und Überstellung durch föderale oder lokale Behörden in der übrigen Russischen Föderation veranlassen oder sie auch außerhalb ihres örtlichen Zuständigkeitsbereichs inoffiziell verfolgen werden, grundsätzlich bei einer ihnen zumutbaren Niederlassung in anderen Teilen der Russischen Föderation außerhalb des Nordkaukasus eine interne Schutzmöglichkeit haben (so auch OVG Greifswald, Urteile vom 17. Juni 2024 – 4 LB 215/20 OVG –  juris Rn. 59 und vom 20. November 2023 – 4 LB 82/19 OVG – juris Rn. 44; OVG Bautzen, Urteil vom 6. Februar 2024 – 2 A 617/18.A – juris Rn. 29; OVG Magdeburg, Urteil vom 28. Mai 2020 – 2 L 25/18 – juris Rn. 47; VGH München, Urteil vom 16. Juli 2019 – 11 B 18.32129 – juris Rn. 46 ff. und VG Potsdam, Urteil vom 7. November 2022 – VG 6 K 650/16.A – juris Rn. 16).

bb) Die Macht der tschetschenischen Sicherheitskräfte ist außerhalb der Tschetschenischen Republik formal und faktisch durch den Herrschaftsanspruch der föderalen Sicherheitsbehörden eingeschränkt, die zum Teil eine Zusammenarbeit mit den tschetschenischen Behörden verweigern. Ein beträchtlicher Teil der tschetschenischen Bevölkerung hat Tschetschenien verlassen und lebt legal in anderen Teilen Russlands. Die große tschetschenische Diaspora innerhalb Russlands steht nicht unter der direkten Kontrolle tschetschenischer Sicherheitsbehörden. Es wird jedoch berichtet, dass tschetschenische Behörden, die Zugang zu russlandweiten Informationssystemen haben, in Einzelfällen auch Personen verfolgen, die in andere Teile der Russischen Föderation geflohen sind. Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können ehemalige Bewohner ihrer Region in der gesamten Russischen Föderation auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten festnehmen und nach Tschetschenien überstellen. Wer von der tschetschenischen Polizei offiziell, etwa wegen eines anhängigen Strafverfahrens, gesucht wird, kann überall in der Russischen Föderation gefunden werden. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, können Untergetauchte über eine Vermisstenanzeige ausfindig gemacht werden. Es gibt auch Berichte über verschiedene Personengruppen, die gegen ihren Willen aus einem inländischen Zufluchtsort – vor allem aus Dagestan – nach Tschetschenien zurückgebracht wurden und dort Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden sind. Betroffen sind Oppositionelle und Regimekritiker, darunter ehemalige Kämpfer und Anhänger der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung. Besonders gefährdet sind Personen, die einen persönlichen Konflikt mit Kadyrow oder hohen tschetschenischen Funktionären haben, die wegen einer Straftat verurteilt wurden oder glaubhaft verdächtigt werden, Terroristen oder aktive Unterstützer des Terrorismus zu sein, und Personen, die wegen einer schweren Straftat angeklagt sind (BFA vom 12. Juni 2024, Länderinformation der Staatendokumentation Russische Föderation, Tschetschenien pp., Stand 29.06.2023, S. 70; BFA vom 3. Februar 2023, Länderinformation der Staatendokumentation Russische Föderation, S. 95 ff.; Auswärtiges Amt, Lagebericht Stand 4. Juli 2024, S. 18; Galeotti vom 1. Juni 2019, Lizenz zum Töten? Das Risiko für Tschetschenen innerhalb Russlands, S. 18).

Solche besonderen Umstände liegen in der Person des Klägers nicht vor. Er ist als strafunmündiges Kind ausgereist und seither nicht durch regimekritische Äußerungen gegenüber Tschetschenien und auch nicht gegenüber der Russischen Föderation aufgefallen. Der Kläger kann daher grundsätzlich auf internen Schutz verwiesen werden.

cc) Er kann auch sicher und legal in einen anderen Landesteil außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation reisen und wird dort aufgenommen. Tschetschenische Volkszugehörige können sich in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation außerhalb der Tschetschenischen Republik niederlassen, auch ohne dass dies eine Rückkehr nach Tschetschenien voraussetzt. Gemäß der Verfassung der Russischen Föderation haben alle Personen, die sich rechtmäßig auf dem Territorium der Russischen Föderation aufhalten, das Recht auf Freizügigkeit sowie auf freie Wahl des Aufenthalts- und Wohnortes. Die Bürger der Russischen Föderation haben das Recht auf ungehinderte Rückkehr in die Russische Föderation. Sie sind verpflichtet, ihren Aufenthalts- und Wohnort im Land regis-trieren zu lassen. Die Anmeldung des Wohnsitzes (Propiska) wird im Reisepass vermerkt. Die dauerhafte Registrierung ist Voraussetzung für den Bezug von stationärer medizinischer Versorgung, Sozialhilfe, Arbeitslosengeld und Rente. Grundsätzlich können Personen aus dem Nordkaukasus auch in andere Teile Russlands reisen (BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O., S. 109). Einige regionale Behörden schränken allerdings die Wohnsitzregistrierung für ethnische Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein. Die Migration aus Tschetschenien heraus hat in den letzten Jahren zugenommen. Rund 300.000 Tschetschenen leben außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation. Die tschetschenische Diaspora ist in allen russischen Großstädten stark angewachsen (BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O., Tschetschenen innerhalb und außerhalb der Russischen Föderation (Stand 4. Juli 2023), S. 111; Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand 10 September 2022, S. 17). Dies zeigt, dass es tschetschenischen Volkszugehörigen grundsätzlich möglich ist, ihren Wohnsitz außerhalb Tschetscheniens zu nehmen.

dd) Vom Kläger kann auch vernünftigerweise erwartet werden, sich an einem Ort außerhalb Tschetscheniens oder Dagestans in der Russischen Föderation niederzulassen.

Die Niederlassung in einem sicheren Landesteil ist in diesem Sinne zumutbar, wenn bei umfassender wertender Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen persönlichen Verhältnisse am Ort des internen Schutzes nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit andere Gefahren oder Nachteile drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer für den internationalen Schutz relevanten Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen, und auch sonst keine unerträgliche Härte droht. Das wirtschaftliche Existenzminimum am Ort des internen Schutzes muss dabei nur auf einem Niveau gewährleistet sein, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 – BVerwGE 171, 300, juris Rn. 27 ff. m.w.N.). Darüber hinaus gehende Anforderungen sind keine notwendige Voraussetzung der Zumutbarkeit einer Niederlassung (BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2021 – 1 C 27.20 – juris Rn. 15 m.w.N.). Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist unter Berücksichtigung der allgemeinen Gegebenheiten am Ort des internen Schutzes, insbesondere der wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung, sowie der persönlichen Umstände des Ausländers zu prüfen, also insbesondere von familiärem und sozialem Hintergrund, Geschlecht und Alter (BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 a.a.O., Rn. 31). Insoweit verweist der Senat auf seine vorstehenden Ausführungen unter Ziffer 1.

ee) Der Kläger muss als tschetschenischer Volkzugehöriger – wie ausgeführt – auch in anderen Teilen der Russischen Föderation damit rechnen, dass er zum Grundwehrdienst eingezogen wird.

aaa) Zwar ist auch die Wahrscheinlichkeit für eine solche Heranziehung durchaus beschränkt. Denn die durch Erlass des russischen Präsidenten festgelegten Quoten für die jährlich im Frühjahr und Herbst stattfindenden Einberufungskampagnen sind deutlich geringer als die Zahl der ungedienten Wehrpflichtigen, so dass rechnerisch nur etwa jeder Dritte des in das wehrfähige Alter eingetretenen Jahrgangs herangezogen wird (BFA vom 2. April 2024, Themenbericht der Staatendokumentation, Russische Föderation – Militärdienst vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs, S. 6; ACCORD vom 31. Oktober 2019, Russische Föderation: Wehrdienst und Dedowschtschina, S.10: Zahl der Achtzehnjährigen in den Jahren 2016: 664.992, 2017: 687.244, 2018: 670.205; herangezogen wurden im Jahr 2016 307.000 [Frühjahr: 155.00/Herbst: 152.000], im Jahr 2017 276.000 [Frühjahr: 142.000/Herbst: 134.000] und im Jahr 2019 260.000 Wehrpflichtige[Frühjahr 128.000/Herbst:132.500]). Berücksichtigt man die Zahl aller ungedienten Wehrpflichtigen bis zum 30. Lebensjahr, verringert sich das prognostische Risiko einer Heranziehung rechnerisch noch mehr (ACCORD vom 31. Oktober 2019, a.a.O. S. 12: Gesamtzahl der Wehrpflichtigen im Jahr 2019 – bis 27 Jahre – etwa acht bis neun Millionen Männer, aufgrund der Heraufsetzung des Wehrdienstalters treten schätzungsweise etwa zwei bis drei Millionen hinzu, vgl. BAMF, Briefing Notes vom 31. Juli 2023, S.9). Dass die Einberufungsquoten infolge des Ukraine-Kriegs signifikant gestiegen wären, kann nicht festgestellt werden (Frühjahr 2022: 134.500 Wehrpflichtige; Herbst 2022: 120.000 Wehrpflichtige; Frühjahr 2023: 147.000 Wehrpflichtige, Herbst 2023: 130.000 Wehrpflichtige gemäß den präsidialen Einberufungserlassen lt. EUAA, COI QUERY, 3. Oktober 2023 – Major developments in the Russian Federation in relation to military service, S. 5; BFA vom 2. April 2024, a.a.O. S. 6). Es ist danach nicht erkennbar, dass die Kriegssituation bislang zu einer direkten Mobilisierung soldatischen Potentials über Grundwehrdienstleistende führt. Dagegen spricht auch, dass diese nach den gesetzlichen Bestimmungen erst nach einer viermonatigen Grundausbildung im Ausland einsetzbar wären; die Kriegssituation benötigt aus Sicht der Russischen Föderation für offensive Erfolge und den Ersatz von Verlusten sofort einsatzfähige und ausgebildete Männer. Die Zahlen spiegeln eher, dass die Russische Föderation seit längerem den Umbau zu einer Berufsarmee anstrebt.

bbb) Für die Prognose einer möglichen Einberufung ist aber die Situation des Klägers im Fall der Rückkehr auch qualitativ zu bewerten. Insoweit fällt ins Gewicht, dass er sich selbst als einschränkungslos gesund bezeichnet und damit voraussichtlich als tauglich gemustert wird. Er wird im Rückkehrfall nicht über die Geldmittel verfügen, die notwendig sind, um sich mangelnde Tauglichkeit durch Bestechung zu erkaufen, was in der Russischen Föderation einen üblichen und akzeptierten Weg darstellt, um der Heranziehung zum Wehrdienst zu entgehen (ACCORD vom 29. September 2023, Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: Informationen zum alternativen Zivildienst, S. 9). Der Kläger gerät auch unweigerlich in den Blick der zuständigen Militärkommission, weil er sich nach den gesetzlichen Vorschriften über den Wehrdienst dort binnen zwei Wochen zu melden hat (BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O., S. 58), wenn dies nicht schon als Folge der Einreisekontrolle oder der notwendigen Registrierung am Ort der Niederlassung geschehen ist. Der Kläger ist alleinstehend, seine Kernfamilie befindet sich im Ausland und er gehört in seinem Alter nicht mehr zum Kreis der ganz jungen Wehrdienstpflichtigen, der noch relativ länger für eine Einberufung zur Verfügung steht. Außerdem dürfte er im Fall einer Rückkehr noch nicht fest im Erwerbsleben verankert sein, weshalb er als verfügbar angesehen werden wird. Diese Umstände sprechen für seine Auswahl zur Erfüllung der Einberufungsquote.

ccc) Demgegenüber dürfte es eher unrealistisch sein, dass es dem Kläger gelingt, einer Heranziehung durch Wehrdienstverweigerung und Ableistung eines zivilen Wehrersatzdiensts zu entgehen.

Zwar ist ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der Russischen Verfassung verbrieft und dieses auch unter der Kriegssituation und der dadurch bedingten Teilmobilisierung von Reservisten für ungediente Wehrpflichtige nicht ausgesetzt (AA, Lagebericht, Stand 4. Juli 2024, S. 13; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Russische Föderation Version 14 vom 12. Juni 2024, S. 62; ACCORD vom 29. September 2023, a.a.O., S. 2 ff.). Gleichwohl stellt ein Antrag auf alternativen Zivildienst in der Russischen Föderation keinen verbreiteten und üblichen Weg dar, um einer Heranziehung zum (Grund-)Wehrdienst zu entgehen; entweder gehe man zur Armee oder werde aus gesundheitlichen Gründen, die entweder tatsächlich vorliegen oder aber aufgrund von Bestechung bescheinigt würden, befreit (vgl. ACCORD vom 29. September 2023, a.a.O., S. 9). Das bestätigt die Zahl der für einen Ersatzdienst vorgesehenen etwa 3000 Stellen (AA, Lagebericht, Stand 4. Juli 2024, a.a.O.) und der aktuell Ersatzdienstleistenden (zwischen 1.100 und 1.200, vgl. ACCORD vom 29. September 2023, a.a.O., S. 3) im Verhältnis zur Zahl der jährlich Einberufenen. Anträge auf Wehrersatzdienst sind nach dem Gesetz sechs Monate vor den jeweiligen Einberufungsterminen zu stellen. Die Anträge auf Kriegsdienstverweigerung sollen nur vor Ort und nicht durch Bevollmächtigte gestellt werden können (AA, Lagebericht, Stand 4. Juli 2024, S. 14). Das würde für den Kläger bedeuten, dass er einen solchen Antrag nicht für die unmittelbar auf seine Rückkehr folgende Einberufungskampagne stellen kann, sondern erst frühestens für die darauffolgende. Über die Erfolgsaussichten solcher Anträge wird Unterschiedliches berichtet. Teilweise werden Betroffene mit der Begründung abgewiesen, es gäbe kein Recht auf Ersatzdienst oder dadurch demotiviert, dass sie in einem zivilen Ersatzdienst an abgelegenen Orten Schwerstarbeit leisten müssten (ACCORD vom 29. September 2023, S. 7). Es wird berichtet, etwa die Hälfte der nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums jährlich etwa 2000 Anträge sei erfolgreich. Bei Ablehnung könne mit aufschiebender Wirkung ein Gericht angerufen werden (BFA, Themenbericht der Staatendokumentation vom 2. April 2024, Russische Föderation – Militärdienst vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs, S. 28); etwa ein Fünftel der Ablehnung habe vor Gericht keinen Bestand (ACCORD vom 29. September 2023, a.a.O., S. 5). Jedenfalls wird berichtet, dass nur eine beharrliche Verfolgung des Anliegens erfolgversprechend ist (ACCORD vom 29. September 2023, S. 6 ff.).

Der Senat traut dem Kläger, der durch seinen langen Aufenthalt im Bundesgebiet den Umgang mit russischen Behörden nicht gewohnt ist, das notwendige Geschick und die gebotene Beharrlichkeit in einem bürokratischen Verfahren nicht ohne weiteres zu. Überdies dürfte es dem Kläger, der hier Gewalttaten begangen hat und deshalb wiederholt strafrechtlich verurteilt worden ist, schwerfallen, eine Gewissensentscheidung gegen den Dienst mit der Waffe überzeugend darzustellen. Deshalb folgt der Senat der Beklagten nicht, soweit sie meint, der Kläger könne seinen Befürchtungen im Zusammenhang mit der Leistung des Wehrdiensts durch Wahrnehmung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung und einen alternativen Zivildienst entgehen.

ff) Es ist jedoch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger im Fall einer Einberufung zum Grundwehrdienst in der Ukraine und damit in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg eingesetzt wird.

aaa) Die Erkenntnislage stellt sich wie folgt dar: Grundwehrdienstleistende wurden zu Beginn der russischen Offensive im Frühjahr 2022 eingesetzt, obwohl Präsident Putin dies Anfang März 2022 ausgeschlossen hatte. Als die Stationierung in der Ukraine publik wurde, ordnete er Ermittlungen der Militärstaatsanwaltschaft an, die zur Rückholung von 600 Grundwehrdienstleistenden und zur Bestrafung oder Entlassung von zwölf Offizieren geführt haben sollen (BFA vom 2. April 2024, a.a.O., S. 15). Aktuell gibt es weiterhin keine Hinweise auf eine Teilnahme russischer Grundwehrdienstleistender an Kampfhandlungen in der Ukraine (BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O., S. 46); offizielle russische Verlautbarungen bestreiten auch einen Einsatz in den besetzten Gebieten Luhansk, Donezk oder der Regionen Cherson und Saporischia (https://www.gazeta.ru/army/news /2024/07/11/23438779.shtml). Grundwehrdienstleistende werden auf der Krim sowie für Grenzsicherungszwecke entlang der russisch-ukrainischen Grenze eingesetzt (BFA, a.a.O.; EUAA vom Dezember 2022, Russian Federation – Military Service, S 37 f.). Das wird bestätigt durch die Gefangennahme von Grundwehrdienstleistenden im Rahmen des Vorstoßes der ukrainischen Armee auf russisches Gebiet in der Oblast Kursk seit Anfang August des Jahres (Tagesschau vom 17. August 2024: Krieg gegen die Ukraine: Reportage aus der Region Sumy von Vasily Golod; https://www.tagesschau.de/multimedia/video/schnellinformiert /video-1369670.html, zuletzt aufgerufen am 21. August 2024) und ihre Verwicklung in Kampfhandlungen (Christian Mölling und András Rácz, Kursk-Offensive hält hohe Geschwindigkeit, 15.08.2024, https://www.zdf.de/nachrichten /politik/ausland/kursk-offensive-geschwindigkeit-hoch-ukraine-krieg-russland-100.html, zuletzt aufgerufen am 21. August 2024). Diese Kampfhandlungen finden indessen auf russischem Territorium statt und dienen der Abwehr der ukrainischen Offensive. Der Kampfeinsatz der Wehrpflichtigen findet nicht statt, um das Gebiet der Ukraine oder Teile davon völkerrechtswidrig zu erobern, zu besetzen oder zu annektieren. Der Einsatz zur Verteidigung eigenen Territoriums stellt keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK dar. Im Ergebnis nicht anders verhält es sich bei der Stationierung Wehrpflichtiger auf der Krim. Die Russische Föderation betrachtet dieses Gebiet nach der völkerrechtswidrigen Annektierung als russisches Territorium, so dass der militärische Einsatz dort der Aufrechterhaltung des geschaffenen Zustands dient. Direkte Kampfhandlungen gegen die Ukraine finden auf der Krim nicht statt, so dass die Unterwerfung einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bei einem dortigen Einsatz nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.

bbb) Diese Erkenntnislage ermöglicht keine Überzeugungsbildung dahin, dass dem Kläger als Grundwehrdienstleistenden eine Verstrickung in den Angriffskrieg gegen die Ukraine droht.

Der Senat verkennt nicht, dass den Machthabern in der Russischen Föderation in besonderer Weise daran gelegen ist, die Information nach innen zu verbreiten, dass keine Wehrpflichtigen für die „Sonderoperation“ in der Ukraine (mehr) in Anspruch genommen werden. Diese propagandistische Zielsetzung bietet aber keine Gewähr dafür, dass es abhängig von der Entwicklung der militärischen Lage auch entgegen geltendem russischen Recht und wider allen öffentlichen Verlautbarungen doch zu einem solchen Einsatz kommen kann (vgl. AA, Auskunft vom 10. Februar 2023 zum Amtshilfeersuchen des BMI zur Aktualisierung der HKL-Leitsätze, Gz.: 508-9-516.80/RUS, S. 2). Immerhin sind bereits zu Beginn der Feindseligkeiten Wehrdienstleistende in der Ukraine eingesetzt worden, was in der Folge mit einigem propagandistischen Aufwand als fehlerhafte Vorgehensweise dargestellt wurde, mutmaßlich um die Militäroperation zum Schutz der inneren Sicherheit nicht in den Augen der Angehörigen Wehrpflichtiger zu diskreditieren und Fluchtbewegungen entgegenzuwirken. Dass diese Möglichkeit besteht und nicht auszuschließen ist, genügt jedoch in Anbetracht aller übrigen Umstände, insbesondere der Erkenntnisse über sog. verdeckte Mobilisierung, nicht, um sie als beachtlich wahrscheinlich anzunehmen. Bei der Würdigung ist vor allem der Zeitfaktor von Gewicht. Nach den Ereignissen bis Sommer 2022 sind keine Informationen über einen Einsatz Wehrdienstleistender in der Ukraine mehr bekannt geworden. Diese Erkenntnislage ist damit über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren stabil. Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) reicht angesichts dessen die fortbestehende Möglichkeit, dass die Machthaber in der Russischen Föderation den Einsatz Wehrdienstleistender zu Kampfhandlungen durchsetzen könnten, wenn sie sich davon einen Vorteil versprechen, für die richterliche Überzeugungsbildung nach § 108 Abs. 1 VwGO nicht aus.

gg) Dem Verwaltungsgericht kann auch nicht darin gefolgt werden, dass eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Kläger nach einer Einberufung zum Grundwehrdienst genötigt werden wird, sich als Vertragssoldat zu verpflichten und sodann in der Ukraine eingesetzt werden könnte.

aaa) Auch insoweit gibt die Erkenntnislage zu dieser Form der verdeckten Mobilisierung zu wenig her, um die volle richterliche Überzeugung für einen solchen Hergang zu gewinnen. Allgemein werden „Medienberichte“ für eine Rekrutierung unter Zwang angeführt (vgl. BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O., S. 46, unter Berufung auf die Quelle „Wichtige Geschichten“ vom 29. November 2023 – https//istories.media/stiries/2023/11/29/na-chto-rossiyane-zhalu-yutsya-putinu, S. 47). Besondere Aufmerksamkeit scheint einem Interview zuzukommen, das Professor Mathiesen vom Danish Defense College mit einer nicht näher bezeichneten Quelle geführt hat, dessen Inhalte in den Bericht des Danish Immigration Service vom Dezember 2022 eingeflossen sind (DIS, Russia – An update on military service since July 2022, Dez. 2022, S. 17 f, S. 47 f. Ziffern 29, 30). Die Aussage der Quelle ist allerdings vage, weil sie lediglich glaubt („believed“), dass Grundwehrdienstleistende zur Vertragsunterzeichnung gezwungen werden, weil das ein Weg sei, sie legal sofort einsetzen zu können. Die Quelle gab weiter an, dass der Druck auf Wehrdienstleistende, einen Militär-Vertrag zu unterzeichnen, unzweifelhaft gestiegen sei. Dem steht eine andere Quelle („Menschenrechtsaktivist“) gegenüber, wonach die Fälle der Täuschung und/oder des Zwangs bei Vertragsschluss in einem niedrigen zweistelligen Bereich lägen (AA, Auskunft vom 10. Februar 2023, a.a.O., S. 3). Die Erkenntnislage ist demnach wenig dicht und fundiert; es ist weder klar, welchen Erkenntnishorizont die Quellen angesichts der territorialen Ausdehnung der Russischen Föderation haben, insbesondere inwiefern ihre Angaben verallgemeinerungsfähig sind. Auch ist nicht erkennbar, ob ausreichend zwischen „Druck“ und auf einen Willensbruch zielenden Handlungsweisen wie Zwang und Täuschung differenziert wird. Andererseits ist bekannt, dass die Anwerbung von Vertragssoldaten mit hohen finanziellen Anreizen und sonstigen staatlichen Vergünstigungen von der Russischen Föderation – offenbar erfolgreich – betrieben wird (BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O., Teilmobilisierung, S. 43), weil dies insbesondere ärmere Schichten und die Landbevölkerung anspricht, was eine zwangsweise Rekrutierung, die mit Spekulationen über die militärischen Verluste verbunden sein könnte, entbehrlich machen dürfte.

bbb) Das Verwaltungsgericht hat den Kläger zudem als Angehörigen einer vulnerablen Personengruppe gekennzeichnet, obwohl er – der Minderjährigkeit schon länger entwachsen – der Gruppe der jungen, gesunden und arbeitsfähigen Männer angehört, der nach allgemeinem Verständnis am meisten zugemutet werden kann. Dabei bleibt unklar, weshalb gerade der Kläger einem Druck militärischer Vorgesetzter nicht widerstehen können sollte, wenn er sich im hiesigen Verfahren auf die Gefahren eines Kampfeinsatzes beruft. Anders als bei der Frage der Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer und dem Erfolg eines Antrags auf zivilen Ersatzdienst liegt die Entscheidung, sich als Berufssoldat zu verpflichten, grundsätzlich allein in der Hand des Klägers und ist von seinem Willen abhängig. Defizite im Umgang mit Behörden und militärischen Strukturen, die der weitgehend im Ausland aufgewachsene Kläger sicherlich aufweisen wird, werden sich auf diese in seiner Sphäre zu treffende Entscheidung kaum auswirken. Der Kläger gehört – wie ausgeführt – jedenfalls nach Aktenlage eher zu den robusteren Persönlichkeiten, die in körperlichen Auseinandersetzungen „ihren Mann“ zu stehen wissen. Ihn ohne persönlichen Eindruck und ungeachtet der von ihm begangenen Straftaten als vulnerable Person darzustellen, erscheint nicht tragfähig. Es bietet auch unter der Prämisse, dass Zwang bei der Rekrutierung von Wehrdienstleistenden – wenn nach der zitierten Quelle auch eher selten und nur punktuell – vorkommt, keine Grundlage für die Annahme, der Kläger sei einem nicht zu vernachlässigenden Risiko ausgesetzt, zu einem Vertragsabschluss als Berufssoldat genötigt zu werden.

ccc) In der Gesamtwürdigung fehlt es danach an ausreichenden Belegen für eine systematisch oder jedenfalls in nennenswertem Umfang erfolgende zwangsweise Rekrutierung Wehrdienstpflichtiger. Mit der Beklagten ist zudem die Sinnhaftigkeit solchen Vorgehens nicht einleuchtend, weil zwangsweise zum Vertragsschluss genötigte Männer keine für einen Kampfeinsatz motivierten Kräfte darstellen. Der Senat geht allerdings davon aus, dass eine Rekrutierung von Grundwehrdienstleistenden als Vertragssoldaten in nicht unerheblichem Ausmaß erfolgt. Anders sind die offiziell angegebenen hohen Zahlen neu angeworbener Berufssoldaten kaum zu erklären. Die Anwerbung erfolgt aber über das Angebot finanzieller und sonstiger Vorteile, die gemessen an den durchschnittlichen Einkommensverhältnissen aktuell offenbar so attraktiv sind, dass sich Wehrpflichtige in beachtlichen Zahlen für einen Vertragsabschluss entscheiden. Solange solche Methoden aus Sicht der Russischen Föderation hinreichend erfolgreich sind, spricht nichts dafür, dass – vergleichbar den Verhältnissen in Tschetschenien – Zwang angewendet wird, um Grundwehrdienstleistende zur Anstellung als Berufssoldaten zu nötigen.

3. Die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG wegen einer im Zielstaat bestehenden erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit liegen auch im Übrigen nicht vor. Auf eine gesundheitlich bedingte erhebliche Gefahr für Leib und Leben bei einer Abschiebung in die Russische Föderation nach § 60 Abs. 7 AufenthG hat sich der Kläger nicht berufen; sie ist auch sonst ersichtlich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben; besondere Umstände für eine Erhöhung oder Absenkung des Gegenstandswerts gemäß § 30 Abs. 2 RVG bestehen nicht. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10 der Zivilprozessordnung.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil hierfür keine Gründe nach § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG und § 132 Abs. 2 VwGO vorliegen.