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Russische Föderation, Tschetschenien, Wehrpflicht, Wehrdienst, Wehrersatzdienst, Kriegsdienstverweigerung, Wehrdienstpflichtiger, Grundwehrdienstleistende, Zwangsrekrutierung, Vertragssoldat, Freiwillige, Ukraine, Angriffskrieg, Kampfeinsatz, Einsatzgebiet, subsidiärer Schutz, Nachfluchtgrund, interner Schutz, beachtliche Wahrscheinlichkeit, richterliche Überzeugungsbildung


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg Der 12. Senat Entscheidungsdatum 22.08.2024
Aktenzeichen 12 B 18/23 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2024:0822.12B18.23.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen 3 EMRK, 108 Abs. 1 VwGO, 4 Abs. 1 S. 1; 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 28; 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 34; 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG, 11 Abs. 1; 11 Abs. 2 Satz 2; 11 Abs. 3; 59 Abs. 1; 59 Abs. 2; 60 Abs. 5; 60 Abs. 7 AufenthG

Leitsatz

  1. Ungediente junge Männer russischer Staatsangehörigkeit und tschetschenischer Volkszugehörigkeit müssen in Tschetschenien damit rechnen, außerhalb einer Einberufung zum Wehrdienst zwangsweise für sog. Freiwilligenbataillone für einen Kampfeinsatz in der Ukraine rekrutiert zu werden.
  2. In den übrigen Gebieten der Russischen Föderation außerhalb des Nordkaukasus können sich Tschetschenen grundsätzlich niederlassen und sind vor Verfolgung sicher, soweit sie nicht in besonderer Weise politisch in Erscheinung getreten sind und daher kein landesweites Verfolgungsinteresse der föderalen oder tschetschenischen Sicherheitsbehörden anzunehmen ist (Fortführung der bisherigen Rechtsprechung).
  3. In der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens werden Tschetschenen nach den allgemeinen Regeln zum Grundwehrdienst ohne Berücksichtigung der im Gebiet von Tschetschenien geltenden Quote für die Ableistung des Wehrdiensts herangezogen.
  4. Für junge, gesunde, ungebundene und beruflich nicht etablierte, nicht vermögende Rückkehrer besteht ein realistisches Risiko, zum Grundwehrdienst im Rahmen der präsidial verfügten Einberufungsquoten herangezogen zu werden.
  5. Die in der Russischen Föderation von der Verfassung garantierte Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung und Ableistung eines zivilen Wehrersatzdiensts stellt für Rückkehrer, die einen Umgang mit russischen Behörden und Militärdienststellen nicht gewohnt sind, keine erfolgversprechende Möglichkeit dar, einer Heranziehung zum Grundwehrdienst zu entgehen.
  6. Grundwehrdienstleistenden in den russischen Streitkräften droht aktuell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit kein Kampfeinsatz in der Ukraine. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass Grundwehrdienstleistende systematisch oder in nennenswertem Ausmaß zwangsweise als Vertragssoldaten rekrutiert werden; das schließt nicht aus, dass sie im Rahmen fordernder Anwerbung ihnen angebotene Verträge aufgrund der zugesagten finanziellen und sozialen Vorteile in größeren Zahlen unterzeichnen.
  7. Einsätze von Grundwehrdienstleistenden auf russischem Territorium in Grenzregionen zur Ukraine zur Abwehr ukrainischer Gegenoffensiven stellen keine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung dar.

Tenor

Das am 11. August 2023 erlassene Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin wird geändert. Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der 26jährige Kläger ist russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit und begehrt die Gewährung subsidiären Schutzes.

Im Jahr 2011 reiste der Kläger mit seinen Eltern und Geschwistern in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Familie stellte im September 2011 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt). Dieses lehnte den Antrag zunächst mit Bescheid vom Februar 2018 als unzulässig ab, stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote vorlägen und drohte die Abschiebung nach Polen an, wo sich der Kläger nach eigenen Angaben mit seinen Eltern vorher mehrere Jahre aufgehalten hatte, auch seine Person einschließende Asylanträge gestellt worden waren und der Kläger nach Auskunft der polnischen Behörden einen Status erhalten hatte, der subsidiärem Schutz entspricht. Mit Urteil vom 23. Juli 2018 – VG 33 K 124.18 A – stellte das Verwaltungsgericht Berlin fest, dass die Ablehnung des Antrags als unzulässig sowie die Abschiebungsandrohung unwirksam seien und hob die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen, und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf.

Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 20. August 2019 gab der Kläger im Wesentlichen an: Er habe Russland mit ungefähr sechs oder sieben Jahren verlassen. Seitdem sei er nicht wieder in der Russischen Föderation gewesen. Seine mit einer griechischen Staatsangehörigen religiös geschlossene Ehe sei Mitte 2018 geschieden worden. Aus der Beziehung sei eine im Jahr 2017 geborene Tochter hervorgegangen, die Griechin sei. Bei einer tätlichen Auseinandersetzung habe er jemanden „erstochen“, wurde deshalb aber strafrechtlich nicht belangt.

Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 19. Februar 2020 die Anträge des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung sowie auf subsidiären Schutz ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen, forderte den Kläger unter Androhung der Abschiebung in die Russische Föderation zur Ausreise innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. im Falle der Klageerhebung nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens auf und ordnete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot befristet auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung an. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus: Der Kläger berufe sich auf die von seinem Vater beschriebenen Probleme und befürchte, dass er bei einer Rückkehr dafür in Sippenhaft genommen werde. Es lägen jedoch keine zureichenden Hinweise vor, dass diese Befürchtung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eintreten könnte. Der Kläger müsse nicht mit einer flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgung rechnen. Es gebe auch keine Hinweise darauf, dass ihm bei Rückkehr ein ernsthafter Schaden drohe; ihm könne auch kein subsidiärer Schutz gewährt werden. Auch lägen keine Anhaltspunkte für die Feststellung eines Abschiebungsverbots vor.

Die dagegen erhobene Klage hat der Kläger, der im November 2021 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen verurteilt wurde, zurückgenommen, soweit sie auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gerichtet war, und auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes, hilfsweise auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots beschränkt. Zur Begründung macht er insbesondere geltend, dass er bei Rückkehr in die Russische Föderation zu einem Einsatz in dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in der Ukraine unter Lebensgefahr herangezogen werde.

Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben und zur Begründung ausgeführt: Der Kläger habe Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 2 AsylG. Im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation drohe ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden durch unmenschliche Behandlung. Dafür lägen stichhaltige Gründe vor. Nach Alter und Gesundheitszustand drohe ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Einberufung zum Grundwehrdienst in den russischen Streitkräften. In diesem Rahmen müsse er die Entsendung zu Kampfhandlungen in die Ukraine befürchten, wenn nicht als Grundwehrdienstleistender so durch zwangsweise Rekrutierung als Vertragssoldat aus dem Kreis der zum Grundwehrdienst Einberufenen. Ein Einsatz in der Ukraine stelle sich als unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG dar, weil der Kläger zur Teilnahme an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg unter Gefahr für Leib und Leben gezwungen werde. Bei einer Gesamtbetrachtung sei dies wegen der Schwere des befürchteten Eingriffs in die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit trotz verbleibender Unsicherheiten bezüglich Einberufung und Einsatzort des Klägers, der bislang weder einen Musterungs- noch einen Einberufungsbefehl erhalten habe, zur Überzeugung des Gerichts beachtlich wahrscheinlich. Aufgrund der Rechtswidrigkeit der Entscheidung des Bundesamts über die Zuerkennung subsidiären Schutzes seien auch die behördliche Feststellung zum Nichtvorliegen eines Abschiebungsverbots und die Abschiebungsandrohung sowie die Befristung des Aufenthalts- und Einreiseverbots aufzuheben.

Die Berufung gegen dieses Urteil hat der Senat auf Antrag der Beklagten wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen, weil die tatsächliche Frage der Gefahr eines Einsatzes Grundwehrdienstleistender in der Ukraine von den Verwaltungsgerichten im Gerichtsbezirk unterschiedlich beantwortet werde.

Zur Begründung der Berufung führt die Beklagte aus: Die Überzeugungsbildung des Verwaltungsgerichts werde dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht gerecht. Aktuell sei eine Teilnahme Wehrpflichtiger an Kampfhandlungen in der Ukraine nicht nachgewiesen. Ein solcher Einsatz werde offiziell von russischen Stellen in Abrede gestellt; zuletzt auch ausdrücklich eine Stationierung Grundwehrdienstleistender in besetzten Gebieten wie Luhansk, Donezk, Cherson oder Saporischia. Eine Einberufung zum Grundwehrdienst sei angesichts der vom russischen Präsidenten durch Erlass festgelegten Quoten für die Einberufung im Verhältnis zur Zahl der Grundwehrdienstpflichtigen nicht überwiegend wahrscheinlich. Zudem gebe es die Möglichkeit eines Wehrersatzdienstes. Schließlich spreche die intensivierte Anwerbung von Vertragssoldaten mit hohen finanziellen Anreizen gegen den Einsatz zwangsweise rekrutierter Personen wie Grundwehrdienstleistenden. Ein systematisch ausgeübter Druck auf Wehrdienstpflichtige, sich freiwillig zu melden, sei nicht belegt. Eine Quelle spreche insoweit nur von einer niedrigen zweistelligen Anzahl solcher Vorfälle. Angesichts der Erkenntnisse reiche die bloße Möglichkeit, dass es gleichwohl zu einer Heranziehung unter Zwang und womöglich zu einem Einsatz in der Ukraine kommen könne, für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nicht aus. Was die Gefahr einer zwangsweisen Rekrutierung in Tschetschenien angehe, könne der Kläger auf eine Niederlassung im Gebiet der übrigen Russischen Föderation verwiesen werden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 11. August 2023 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil. Er wolle auf gar keinen Fall „für“ die Russische Föderation noch „gegen“ die Ukraine kämpfen. Er befürchte, wegen seines Vaters, der als ehemaliger stellvertretender Leiter der Abteilung für innere Angelegenheiten im Rayon Angehöriger des tschetschenischen Sicherheitsapparats gewesen und Kadyrow persönlich bekannt sei, für eine Zwangsrekrutierung besonders im Fokus der tschetschenischen staatlichen Akteure zu stehen. Sein Vater habe einen Befehl zur Liquidierung von Regimegegnern nicht ausgeführt. Nach einer ergänzenden Auskunft des Auswärtigen Amts vom 27. Februar 2024 werde sein Vater möglicherweise (das Geburtsdatum der zur Fahndung ausgeschriebenen Person weist einen „Dreher“ hinsichtlich Tag und Monat auf) landesweit gesucht.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird neben der Gerichtsakte auf den Verwaltungsvorgang der Beklagten (ein Ordner) und zwei Heftungen der Berliner Ausländerbehörde, die vorgelegen haben und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 125 Abs. 1 i.V.m. § 113 Abs. 5 VwGO); der Kläger hat weder Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 2 AsylG (1.) noch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG (2.). Abschiebungsandrohung, die Anordnung eines abschiebungsbezogenen Einreise- und Aufenthaltsverbots sowie dessen Befristung sind rechtmäßig (3.).

1. Dem Kläger ist wegen seiner Befürchtung, zum Grundwehrdienst einberufen und zu Kampfhandlungen in der Ukraine eingesetzt zu werden, kein subsidiärer Schutz zuzuerkennen.

a) Die Prüfung subsidiären Schutzes wird allerdings nicht dadurch ausgeschlossen, dass sich der Kläger auf nachträglich eingetretene Umstände beruft („Nachfluchtgründe“). Nach § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG zu erleiden, auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer seinen Herkunftsstaat verlassen hat.

Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht (§ 4 Abs.1 Satz 1 AsylG). Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG).

b) Stichhaltige Gründe liegen vor, wenn dem Ausländer ein ernsthafter Schaden in dem beschriebenen Sinne in seinem Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dieser für die begründete Furcht vor Verfolgung im Rahmen der Flüchtlingseigenschaft geltende Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ("real risk") abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 1. Juni 2011 – 10 C 25.10 – BVerwGE 140, 22 Rn. 22 m.w.N. und vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67 Rn. 32; Beschluss vom 15. August 2017 – 1 B 120.17 – juris Rn. 8). Dieser Maßstab ist auch für den subsidiären Schutz anzuwenden.

Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer "qualifizierenden" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013, a.a.O. m.w.N.). Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn bei einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische, nicht auszuschließende Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit“ einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Februar 2008 – 10 C 33.07 – Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 19, juris Rn. 37). Allein die Wertung, dass eine Verfolgung "nicht auszuschließen" sei, genügt für die richterliche Überzeugungsbildung von einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 31.18 – InfAuslR 2019, 459, juris Rn. 20 ff., 32).

c) Nach diesem Maßstab scheiden zunächst die Varianten eines ernsthaften Schadens nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3 AsylG ersichtlich aus; es spricht nichts dafür, dass dem Kläger, der die Russische Föderation als minderjähriges Kind mit seinen Eltern verlassen hat, die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe droht, und es geht nicht um seine Bedrohung als Zivilperson innerhalb eines Konflikts im Zielstaat.

d) Dem Kläger droht aber auch kein ernsthafter Schaden in der Variante des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG.

aa) Die Herleitung stichhaltiger Gründe für die Gefahr eines ernsthaften Schadens dieser Art ist im Zusammenhang mit dem Klagevorbringen schon als solche nicht frei von Bedenken. Denn das Verwaltungsgericht erkennt zwar, dass die von ihm verwerteten Erkenntnisse für eine Einberufung des Klägers keine überwiegende Wahrscheinlichkeit und für einen Einsatz während des Grundwehrdiensts zu Kampfhandlungen in der Ukraine aktuell keine Wahrscheinlichkeit hergeben. Gleichwohl hält es die Befürchtung des Klägers in der Gesamtwürdigung für beachtlich wahrscheinlich, weil es mit einem drohenden Schaden für Leib und Leben ein besonders hochwertiges Schutzgut gefährdet sieht und zum anderen darauf abstellt, dass Grundwehrdienstleistende unter Zwang zur Begründung eines Vertragsverhältnisses als Berufssoldat genötigt werden können, was sodann den Einsatz im Kampfgebiet in der Ukraine ermöglicht. Damit stellt das Verwaltungsgericht einen Zusammenhang her zwischen der Verpflichtung, den Grundwehrdienst abzuleisten, und dem Einsatz von Vertragssoldaten in dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg im Territorium der Ukraine, verbunden mit der Gefahr eines ernsthaften und erheblichen Schadens. Diese Schadenszufügung geht aber regelmäßig nicht von dem staatlichen Akteur aus, der die Kriegsteilnahme erzwingt, sondern von dem sich verteidigenden angegriffenen Staat. Dem staatlichen Akteur, hier der Russischen Föderation, kann sie nur mittelbar zugerechnet werden, weil er seine angreifenden Truppen der Gefahr aussetzt, Schäden an Leib und Leben durch Verteidigungshandlungen des Angegriffenen, hier durch die Ukraine, die in diesem Sinne kein Akteur gemäß § 3c AsylG ist, zu erleiden. Der gravierende Schadenseintritt ist damit durch den Einsatz eigener Kräfte für einen Angriffskrieg nicht intendiert, sondern eine mit dem Austausch kriegerischer Feindseligkeiten einhergehende Folge, die nur dann in die Gesamtwürdigung einbezogen werden darf, wenn man sie als vom russischen Staat „ausgehend“ im Sinne von § 3c AsylG subsumieren kann. Das kann hier im Ergebnis dahinstehen, weil auch dann, wenn man dies annehmen wollte, eine Gesamtwürdigung der Erkenntnislage die Bildung der erforderlichen richterlichen Überzeugung von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit der befürchteten Gefahr nicht zulässt.

bb) Bei dem Kläger kommt hinzu, dass nicht ausgeblendet werden kann, dass er bereits als Kind in Polen einen Schutzstatus zuerkannt bekommen hat, der ihm auch als inzwischen Erwachsener, und zwar nach aktueller Rechtslage als internationaler subsidiärer Schutz, zukommt. Das steht aufgrund der Auskunft der polnischen Dublin Unit gegenüber dem Bundesamt vom 3. Februar 2020 fest.

Dieser Umstand führt zwar nicht dazu, dass dem Kläger das Rechtsschutzinteresse fehlt, einen vergleichbaren Schutzstatus in der Bundesrepublik Deutschland im Klagewege zu begehren und sich gegen einen Bescheid des Bundesamts zu wenden, der seine Abschiebung in die Russische Föderation androht. Er ist aber materiell insofern zu berücksichtigen, als dem Kläger der in Rede stehende Schaden nur bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat droht. Lässt er sich aufgrund des ihm in Polen gewährten subsidiären Schutzstatus dort nieder, entfällt jede Begründung, weshalb ihm subsidiärer Schutz durch die Bundesrepublik Deutschland wegen einer Gefährdung in der Russischen Föderation zu gewähren sein sollte. Der Kläger hat nicht vorgetragen, dass in Polen eine Schutzgewährung nicht gewährleistet werden kann oder es ihm nicht zugemutet werden kann, den dort gewährten Schutz in Anspruch zu nehmen. Das ist auch sonst nicht ersichtlich.

cc) Die Ableistung des Grundwehrdienstes in der Russischen Föderation und die Sanktionen, die dort mit einer Entziehung vom Wehrdienst verbunden sind, sind unterhalb der Schwelle eines Einsatzes in einem völkerrechtlichen Angriffskrieg nicht mit der Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG verbunden.

Wer einer Einberufung keine Folge leistet, macht sich in der Russischen Föderation nach § 328 RussStGB strafbar. Insoweit drohen Sanktionen, Geldstrafen von bis zu 200.000 Rubeln (ca. 2.000 Euro) oder in der Höhe bis zu 18 Monatseinkommen, Zwangsarbeit bis zu zwei Jahren, Arrest von bis zu sechs Monaten oder Freiheitsentzug bis zu zwei Jahren (dazu SFH, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 31. August 2023, Russland/Tschetschenien: Konsequenzen einer Wehrdienstverweigerung, S. 9 ff.; EUAA, COI QUERY vom 3. Oktober 2023, Major developments in the Russian Federation in relation to military service, S. 9 f.; EUAA, The Russian Federation – Military service, Dec. 2022, S. 16 f. m.w.N.). Diese Strafen bieten als solche keinen hinreichenden Anhalt für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Allerdings muss man konstatieren, dass die Bedingungen im russischen Strafvollzug allgemein schlecht sind, so dass eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nicht unwahrscheinlich ist, wenn eine strafrechtliche Verurteilung zu Freiheitsentzug droht.

Dem Kläger droht allerdings keine strafrechtliche Sanktion deshalb, weil er im Ausland aufhältig nicht als Wehrpflichtiger registriert ist. Er ist noch als Minderjähriger ausgereist und erst im Bundesgebiet in das wehrdienstpflichtige Alter hineingewachsen. Wehrpflichtig sind nach einer zum 1. Januar 2024 in Kraft getretenen Gesetzesnovelle 18- bis 30-jährige junge Männer (AA, Lagebericht, Stand 4. Juli 2024, S. 12, BAMF, Briefing Notes vom 31. Juli 2023, S. 9). Ein Einberufungsbefehl für den Kläger liegt bislang nicht vor. Handlungen wie die Nichtbefolgung einer Gestellungsaufforderung und erst recht der Desertation als Militärangehöriger stehen damit nicht in Frage. Eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung hat der Kläger danach nicht zu befürchten. § 328 RussStGB greift frühestens ab der Missachtung eines Gestellungstermins bei den Militärbehörden, jedenfalls ab dem Augenblick eines ignorierten Einberufungsbefehls (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Russische Föderation, Version 14 vom 12. Juni 2024, S. 59). Eine Einberufung zum Grundwehrdienst kann aber nur erfolgen, soweit der Betroffene registriert und tauglich gemustert ist, so dass es beim Kläger bislang an allen Grundlagen für ein strafbares Verhalten fehlt.

Auch sonst kann dem Kläger grundsätzlich die Ableistung des Grundwehrdienstes zugemutet werden. Der Kläger hat – abgesehen von der Befürchtung eines Einsatzes für die Russische Föderation und gegen die Ukraine – insoweit nichts geltend gemacht, was zur Gewährung subsidiären Schutzes zu führen geeignet wäre. Zwar wird innerhalb militärischer Strukturen in der Russischen Föderation vermutet, dass die sog. Dedowschtschina („Herrschaft der Großväter“) – ein System des Schikanierens und der Erniedrigung, Vergewaltigungen, der groben körperlichen Gewalt und Einschüchterungen durch dienstältere Mannschaften an abgelegenen Standorten ohne Ausgang bzw. Urlaub – weiterhin in den russischen Streitkräften vorkommt, wenn auch nach Ausweitung der militärpolizeilichen Befugnisse im Jahre 2015 zur Bekämpfung von Misshandlungen von Soldaten durch Vorgesetzte und Dienstgrade innerhalb der Streitkräfte nicht mehr in dem Ausmaß wie in der Vergangenheit (AA, Lagebericht, Stand: 10. September 2022, S. 10). Diese Entwicklung wird im neuesten Lagebericht nicht mehr beschrieben (AA, Lagebericht, Stand 4. Juli 2024, S. 8); solche Übergriffe werden vielmehr weiterhin als (allgemeines) „Problem“ gesehen. Auch wenn die Erkenntnislage danach wenig für eine Zurückdrängung oder gar Bewältigung des Problems hergibt, besteht aber kein Zweifel, dass es sich um unzulässige und auch mit Strafe bedrohte Übergriffe handelt, die – soweit sie angezeigt werden –  offiziell auch verfolgt werden und zur Versetzung Verantwortlicher in Strafbataillone zur Verrichtung von Schwerstarbeit oder zur Verhängung von Kriminalstrafen führen können. Wesentlich zur Bekämpfung staatlicherseits habe die Verkürzung des Wehrdienstes von zwei Jahren auf ein Jahr gewirkt, weil sie das Aufeinandertreffen von Wehrdienstleistenden verschiedener Einberufungsjahre vermeidet. Effektiv sei auch die Belassung von Mobiltelefonen, weil damit Verletzungsfolgen dokumentiert werden könnten und Vorfälle gemeldet und nicht mehr ohne weiteres „unter den Tisch“ gekehrt werden könnten, was durch die Abgelegenheit und Abgeschlossenheit vieler militärischer Standorte begünstigt wird. Vorkommende Vorfälle dürften daher dem Staat als Akteur nicht zuzurechnen sein und berechtigen nicht zu der grundsätzlichen Annahme, dass die Einberufung zum Grundwehrdienst in der Russischen Föderation im allgemeinen zu einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung im Militär führt.

dd) Die Wahrscheinlichkeit einer Einberufung des Klägers zum Grundwehrdienst dürfte bei einer Rückkehr nach Tschetschenien deutlich herabgesetzt, aber wegen der dort herrschenden Rekrutierungspraxis gleichwohl unberechenbar sein.

aaa) Die herabgesetzte Wahrscheinlichkeit hängt damit zusammen, dass bei Wiedereinführung der Einberufung von Tschetschenen zum Grundwehrdienst im Jahre 2014 eine Quote von 500 Mann festgelegt wurde, die aus Tschetschenien pro Einberufungskampagne gezogen wird (BFA vom 12. Juni 2024 a.a.O., S. 35). Die Erkenntnislage geht im Übrigen dahin, dass russische Staatsbürger tschetschenischer Nationalität in allen Regionen der Russischen Föderation einberufen werden, wenn sie dort amtlich gemeldet und militärisch registriert sind. Die Quote bezieht sich danach nur auf in Tschetschenien wohnhafte wehrpflichtige junge Männer; es wird berichtet, dass wegen der geringen Zahl der Einberufungen junge Tschetschenen, die sich davon Vorteile für ein berufliches Fortkommen im Staatsdienst versprechen, ihren Wohnsitz in andere Regionen verlegen, um einberufen werden zu können (vgl. Memorial, Gutachterliche Auskunft Dr. Cremer an VG Freiburg vom 27. Januar 2020, S. 4; ACCORD vom 31. Oktober 2019, Russische Föderation: Wehrdienst und Dedowschtschina, S. 6 ff.). Die Erkenntnisse stammen zwar aus der Zeit vor Beginn des Ukrainekriegs. Es gibt aber keine Anzeichen für eine wesentliche Änderung der Einberufungspraxis.

bbb) Ungeachtet dessen würde sich der Kläger voraussichtlich einer willkürlichen Rekrutierungspraxis ausgesetzt sehen. Das betrifft zum einen die Einberufung zum Grundwehrdienst im Rahmen der Quote, vor allem aber eine zwangsweise Rekrutierung als Vertragssoldat mit einer dann realen Möglichkeit des Einsatzes zu Kampfhandlungen in der Ukraine.

(1) Tschetschenische Einheiten werden in der Ukraine seit dem Sommer 2022 eingesetzt. Teils handelt es sich um der Nationalgarde Kadyrows unterstellte Einheiten, teils um auf der Ebene des russischen Verteidigungsministeriums in Tschetschenien für diesen Einsatz gebildete Bataillone und Regimenter (BFA, vom 12. Juni 2024, a.a.O., S. 51). Zahlenangaben schwanken zwischen 21.000 (2022) und 9.000 (2023) tschetschenischen Kämpfern (SFH-Russland/Tschetschenien: Konsequenzen einer Wehrdienstverweigerung, Auskunft vom 31. August 2023, S. 7). Kadyrow hatte anfangs zugesagt, 200 „Freiwillige“ pro Woche zu stellen; jüngst gab er gegenüber Putin an, seit Kriegsbeginn 47.000 Mann entsandt zu haben, darunter 19.000 „Freiwillige“ (https://www.tagesspiegel.de/internationales/erster-besuch-seit-13-jahren-putin-inspiziert-tschetschenische-truppen-fur-ukraine-einsatz-12230819.html, zuletzt aufgerufen am 22.08.2024). Putins Teilmobilisierung im September 2022 in der Russischen Föderation wurde in Tschetschenien nicht umgesetzt mit der Begründung, Tschetschenien habe schon überproportional Kräfte beigesteuert. Gleichwohl finden weiterhin Rekrutierungen in Tschetschenien statt, die in der Regel auf vertraglicher Grundlage erfolgen. Realistisch wird eine Zahl von 10 bis 15 sog. Freiwillige pro Monat geschätzt. Teilweise handelt es sich um aus Überzeugung handelnde Freiwillige, der größte Teil kommt aus ärmeren Schichten der Landbevölkerung und wird durch die gute Bezahlung motiviert, und eine dritte Gruppe wird unter Zwang rekrutiert (DIS, Russia, Recruitment of Chechens to the War in Ukraine, April 2024, S. 20). Zwangsmaßnahmen richten sich dabei vor allem gegen bereits „in den Fokus“ geratene vermutete Regimegegner (EUAA vom 17. Februar 2023, Major Developments in the Russian Federation in relation to political opposition an military service, S. 20), gegen gesellschaftliche Randgruppen und solche Kreise, die sich dem Militärdienst entziehen wollen (DIS vom April 2024, a.a.O., S. 20 ff.). Letztere werden offiziell als Lumpen, Gesindel und Feiglinge an den Pranger gestellt, und es werden ihnen Sozialleistungen verweigert. Es sollen auch Listen von ausgereisten Männern aufgestellt worden sein (BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O. S. 52). Der ausgeübte Zwang reicht von Verhaftungen der Betroffenen, Folter, Entführung, Gewalt gegen und Erniedrigung von Familien- und Stammesangehörigen und allgemeiner Benachteiligung. Militärische Ausbildung spielt für die Rekrutierung keine erhebliche Rolle; die „freiwilligen“ Rekruten erhalten in Gudermes eine als nicht besonders anspruchsvoll beschriebene zehntägige Ausbildung, bevor sie in die Ukraine entsandt werden (BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O., S. 51). Kadyrow stellte für eingesetzte Nationalgardeeinheiten zunächst sicher, dass sie nach Möglichkeit nicht an vorderster Front eingesetzt werden. Das ließ sich jedoch im Jahre 2023 nicht mehr durchhalten, nachdem sich die Wagner-Söldner zurückgezogen hatten. Für die tschetschenischen Kampfeinheiten (nähere Beschreibung bei DIS vom April 2024, a.a.O. S. 14 ff.), die dem russischen Verteidigungsministerium unterstehen und sich auch nicht völlig aus tschetschenischen Volkszugehörigen zusammensetzen, wird die Beteiligung an verlustreichen Fronteinsätzen im Rahmen der ukrainischen Sommerinitiative im Südosten berichtet (BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O.; SFH vom 31. August 2023, a.a.O. S. 9); das Risiko, zu fallen, soll bei muslimisch geprägten Einheiten zehnmal höher als bei Soldaten aus Moskau sein, die tschetschenischen Einheiten werden von den russischen Machthabern als „private Wegwerfarmee“ betrachtet und mit der „Drecksarbeit“ betraut (SFH vom 31. August 2023, a.a.O.).

(2) Diese Erkenntnislage birgt für den Kläger eine tatsächliche Gefahr, unter Zwang für den Einsatz in der Ukraine rekrutiert und dort unter Lebensgefahr eingesetzt zu werden, sollte er nach Tschetschenien zurückkehren. Er müsste sich dort als ungedienter junger Mann im wehrpflichtigen Alter bei den Militärbehörden melden und auch sonst würde seine Registrierung örtliche Behörden auf ihn aufmerksam werden lassen. Unregistriert wäre er mit seiner Vita sowieso verdächtig, dass er ein Abkömmling von Regimegegnern oder „Drückebergern“ im Sinne der Lesart von Kadyrow ist. Der Kläger muss damit rechnen, mit dem Verfolgungsschicksal seines Vaters, der als Leutnant der Miliz tätig war (siehe dazu BAMF VV Bl. 94 ff.), in Zusammenhang gebracht und für seinen Vater verantwortlich gemacht zu werden. Ob dessen Schilderung, Kadyrow habe ihm aufgetragen, drei bestimmte Personen aufzuspüren, zu töten und in Uniform bekleidet im Wald abzulegen, zutrifft und er wegen der Nichtausführung dieses Befehls gesucht wird, vermag der Senat nicht abschließend zu beurteilen. Das Asylverfahren der Eltern und Geschwister des Klägers ist ohne Anerkennung rechtskräftig abgeschlossen (VG Berlin, Urteil vom 23. Januar 2024 – VG 33 K 515.19 A –; die Zulassung der Berufung ist mit Senatsbeschluss vom 18. Juni 2024 – OVG 12 N 51/24 – abgelehnt worden); darin hat das Verwaltungsgericht diesen Vortrag als unglaubhaft angesehen. Inwieweit dabei eine Rolle gespielt haben könnte, dass die in diesem Verfahren vorliegende Auskunft des Auswärtigen Amtes keine Erkenntnisse dafür zu liefern mochte, dass nach dem Vater russlandweit gefahndet wird, entzieht sich einer Würdigung durch den Senat. Die vom Kläger eingeführte, im Nachgang gegebene ergänzende Auskunft des Auswärtigen Amtes lässt es ungeachtet des hinsichtlich Tag und Monat umgestellten Geburtsdatums als nicht unwahrscheinlich erscheinen, dass der Vater des Klägers in der gesamten russischen Föderation zur Fahndung ausgeschrieben ist, was seine Ursache schon darin haben kann, dass er sich als Teil der (tschetschenischen) Sicherheitsorgane ins Ausland abgesetzt hat. Das dürfte in Tschetschenien durchaus realistisch dazu führen, dass der Kläger in Sippenhaft für seinen Vater genommen wird, ihm wahre oder vermutete Gründe für dieses Verhalten angelastet werden, er jedenfalls als illoyal zum Regime angesehen und deshalb für eine Rekrutierung für einen Militäreinsatz in der Ukraine in den Blick genommen wird. Aber schon unabhängig davon läuft der Kläger allgemein Gefahr, als junger unabhängiger und kampffähiger Mann in die Rekrutierungsbemühungen einbezogen zu werden. Nicht zuletzt sein Auslandsaufenthalt dürfte ihn – wie ausgeführt – bereits als verdächtig erscheinen lassen.

ee) Die Beklagte geht auf die Thematik, was dem Kläger in Tschetschenien droht, nicht näher ein, sondern verweist auf den internen Schutz in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation.

Bietet eine Niederlassung in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation außerhalb des Nordkaukasus dem Kläger grundsätzlich internen Schutz (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylG), unterläge er nach den vorstehenden Ausführungen auch als Tschetschene als Wehrdienstpflichtiger im Alter zwischen 18 und 30 Jahren nach den allgemein geltenden Regeln der Einberufung zum Grundwehrdienst im Rahmen der nach Erlass des Präsidenten heranzuziehenden Zahl der Einzuberufenden. Eine solche Einberufung des Klägers hält der Senat entgegen der Beklagten nicht für unwahrscheinlich; sie stellt eine ernst zu nehmende Möglichkeit dar. Insbesondere ist es nicht wahrscheinlich, dass der im Umgang mit russischen (Militär-) Behörden vollkommen unerfahrene Kläger durch einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung und Wehrersatzdienstleistung eine Einberufung zum Grundwehrdienst vermeiden können wird.

aaa) Was die Voraussetzungen internen Schutzes angeht, hält der Senat auch unter den veränderten Bedingungen seit dem Angriff auf die Ukraine und insbesondere den gegenwärtig durch interne Fluchtbewegungen auftretenden Belastungen aufgrund der ukrainischen Offensive in der Oblast Kursk an der bisherigen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 3. März 2009 – OVG 3 B 16.08 – juris Rn. 58 ff.) fest, dass Tschetschenen, die nicht in besonderer Weise politisch in Erscheinung getreten sind und bei denen daher kein landesweites Verfolgungsinteresse der föderalen Sicherheitsbehörden anzunehmen ist und keine greifbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die tschetschenischen Sicherheitsbehörden ein besonderes Interesse an ihrer Ergreifung haben und deshalb ihre Festnahme und Überstellung durch föderale oder lokale Behörden in der übrigen Russischen Föderation veranlassen oder sie auch außerhalb ihres örtlichen Zuständigkeitsbereichs inoffiziell verfolgen werden, grundsätzlich bei einer ihnen zumutbaren Niederlassung in anderen Teilen der Russischen Föderation außerhalb des Nordkaukasus vor Verfolgung oder ernsthaften Schäden im Sinne des § 4 AsylG sicher sind (so auch OVG Greifswald, Urteile vom 17. Juni 2024 – 4 LB 215/20 OVG –  juris Rn. 59 und vom 20. November 2023 – 4 LB 82/19 OVG – juris Rn. 44; OVG Bautzen, Urteil vom 6. Februar 2024 – 2 A 617/18.A – juris Rn. 29; OVG Magdeburg, Urteil vom 28. Mai 2020 – 2 L 25/18 – juris Rn. 47; VGH München, Urteil vom 16. Juli 2019 – 11 B 18.32129 – juris Rn. 46 ff. und VG Potsdam, Urteil vom 7. November 2022 – VG 6 K 650/16.A – juris Rn. 16).

(1) Die Macht der tschetschenischen Sicherheitskräfte ist außerhalb der Tschetschenischen Republik formal und faktisch durch den Herrschaftsanspruch der föderalen Sicherheitsbehörden eingeschränkt, die zum Teil eine Zusammenarbeit mit den tschetschenischen Behörden verweigern. Ein beträchtlicher Teil der tschetschenischen Bevölkerung hat Tschetschenien verlassen und lebt legal in anderen Teilen Russlands. Die große tschetschenische Diaspora innerhalb Russlands steht nicht unter der direkten Kontrolle tschetschenischer Sicherheitsbehörden. Es wird jedoch berichtet, dass tschetschenische Behörden, die Zugang zu russlandweiten Informationssystemen haben, in Einzelfällen auch Personen verfolgen, die in andere Teile der Russischen Föderation geflohen sind. Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können ehemalige Bewohner ihrer Region in der gesamten Russischen Föderation auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten festnehmen und nach Tschetschenien überstellen. Wer von der tschetschenischen Polizei offiziell, etwa wegen eines anhängigen Strafverfahrens, gesucht wird, kann überall in der Russischen Föderation gefunden werden. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, können Untergetauchte über eine Vermisstenanzeige ausfindig gemacht werden. Es gibt auch Berichte über verschiedene Personengruppen, die gegen ihren Willen aus einem inländischen Zufluchtsort – vor allem aus Dagestan – nach Tschetschenien zurückgebracht wurden und dort Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden sind. Betroffen sind Oppositionelle und Regimekritiker, darunter ehemalige Kämpfer und Anhän-ger der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung. Besonders gefährdet sind Personen, die einen persönlichen Konflikt mit Kadyrow oder hohen tschetschenischen Funktionären haben, die wegen einer Straftat verurteilt wurden oder glaubhaft verdächtigt werden, Terroristen oder aktive Unterstützer des Terrorismus zu sein, und Personen, die wegen einer schweren Straftat angeklagt sind (BFA vom 12. Juni 2024, Länderinformation der Staatendokumentation Russische Föderation, Tschetschenien pp., Stand 29.06.2023, S. 70; BFA vom 3. Februar 2023, Länderinformation der Staatendokumentation Russische Föderation, S. 95 ff.; Auswärtiges Amt, Lagebericht Stand 4. Juli 2024, S. 18; Galeotti vom 1. Juni 2019, Lizenz zum Töten? Das Risiko für Tschetschenen innerhalb Russlands, S. 18).

Solche besonderen Umstände liegen in der Person des Klägers nicht vor. Er ist als strafunmündiges Kind ausgereist und seither nicht durch regimekritische Äußerungen gegenüber Tschetschenien oder der Russischen Föderation aufgefallen. Befürchtungen wegen einer etwaigen Fahndung nach seinem Vater begründen solche besonderen Umstände ebenfalls nicht. Eine Zurechnung väterlichen Verhaltens ist in der Russischen Föderation anders als in Tschetschenien eher unwahrscheinlich, missliebige Personen wie Angehörige von Regimegegnern werden vielmehr mit gegebenenfalls fingierten Vorwürfen in eigener Person überzogen. Es kann aber selbst dann, wenn der Vater des Klägers föderationsweit zur Fahndung ausgeschrieben wäre, was bislang wegen des unzutreffenden Geburtsdatums der ausgeschriebenen Person gleichen Namens nicht sicher ist, nicht unterstellt werden, dass der Kläger als missliebige Person betrachtet und mit ungerechtfertigten Vorwürfen überzogen werden wird. Zwar kann es sein, dass der Kläger von föderalen Sicherheitsbehörden nach dem Verbleib seines Vaters befragt wird, soweit dort nicht ohnehin bekannt ist, wo er sich aufhält. Dem kann er aber durch Verweis darauf begegnen, dass er weder Einfluss auf noch Kontakt zu seinem Vater habe, was im Falle seiner isolierten Rückkehr jedenfalls äußerlich plausibel ist. Der Kläger kann daher grundsätzlich auf internen Schutz verwiesen werden.

(2) Er kann auch sicher und legal in einen anderen Landesteil außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation reisen und wird dort aufgenommen. Tschetschenische Volkszugehörige können sich in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation außerhalb der Tschetschenischen Republik niederlassen, auch ohne dass dies eine Rückkehr nach Tschetschenien voraussetzt. Gemäß der Verfassung der Russischen Föderation haben alle Personen, die sich rechtmäßig auf dem Territorium der Russischen Föderation aufhalten, das Recht auf Freizügigkeit sowie auf freie Wahl des Aufenthalts- und Wohnortes. Die Bürger der Russischen Föderation haben das Recht auf ungehinderte Rückkehr in die Russische Föderation. Sie sind verpflichtet, ihren Aufenthalts- und Wohnort im Land regis-trieren zu lassen. Die Anmeldung des Wohnsitzes (Propiska) wird im Reisepass vermerkt. Die dauerhafte Registrierung ist Voraussetzung für den Bezug von stationärer medizinischer Versorgung, Sozialhilfe, Arbeitslosengeld und Rente. Grundsätzlich können Personen aus dem Nordkaukasus auch in andere Teile Russlands reisen (BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O., S. 109). Einige regionale Behörden schränken allerdings die Wohnsitzregistrierung für ethnische Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein. Die Migration aus Tschetschenien heraus hat in den letzten Jahren zugenommen. Rund 300.000 Tschetschenen leben außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation. Die tschetschenische Diaspora ist in allen russischen Großstädten stark angewachsen (BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O., Tschetschenen innerhalb und außerhalb der Russischen Föderation (Stand 4. Juli 2023), S. 111; Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand 10. September 2022, S. 17). Dies zeigt, dass es tschetschenischen Volkszugehörigen grundsätzlich möglich ist, ihren Wohnsitz außerhalb Tschetscheniens zu nehmen. Der Kläger braucht für die Einreise in die Russische Föderation ein gültiges Reisedokument (AA, Lagebericht, Stand 4. Juli 2024, S. 33); dieses sollte aber vor einer Rückkehr zu beschaffen sein, da ein früher ausgestellter, im Jahre 2022 abgelaufener Reisepass vorliegt.

bbb) Vom Kläger kann auch vernünftigerweise erwartet werden, sich an einem Ort außerhalb Tschetscheniens oder Dagestans in der Russischen Föderation niederzulassen.

Die Niederlassung in einem sicheren Landesteil ist in diesem Sinne zumutbar, wenn bei umfassender wertender Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen persönlichen Verhältnisse am Ort des internen Schutzes nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit andere Gefahren oder Nachteile drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer für den internationalen Schutz relevanten Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen, und auch sonst keine unerträgliche Härte droht. Das wirtschaftliche Existenzminimum am Ort des internen Schutzes muss dabei nur auf einem Niveau gewährleistet sein, das eine Verletzung des Art. 3 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – (BGBl. 1952 II S.685) nicht besorgen lässt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 – BVerwGE 171, 300, juris Rn. 27 ff. m.w.N.). Darüber hinaus gehende Anforderungen sind keine notwendige Voraussetzung der Zumutbarkeit einer Niederlassung (BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2021 – 1 C 27.20 – juris Rn. 15 m.w.N.). Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist nach § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG unter Berücksichtigung der allgemeinen Gegebenheiten am Ort des internen Schutzes, insbesondere der wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung, sowie der persönlichen Umstände des Ausländers zu prüfen, also insbesondere von familiärem und sozialem Hintergrund, Geschlecht und Alter (BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 a.a.O., Rn. 31).

ccc) Unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse in der Russischen Föderation und seinen persönlichen Umständen wird der Kläger in der Lage sein, das wirtschaftliche Existenzminimum am Ort des internen Schutzes zu sichern.

Nach Angaben der Statistikbehörde lag der Anteil der russischen Bevölkerung mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze im Jahr 2022 bei 10,5 Prozent. Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern (vor allem kinderreiche Familien), Alleinerziehende, Rentner und Menschen mit Behinderungen. In den Wirtschaftszentren Moskau und St. Petersburg ist die Armutsquote nur halb so hoch wie im Landesdurchschnitt. Grundsätzlich ist das Armutsrisiko auf dem Land höher als in den Städten. Russische Staatsbürger haben landesweit Zugang zum Arbeitsmarkt. Der Mindestlohn darf das Existenzminimum nicht unterschreiten. Die Haupteinkommensquelle der russischen Bevölkerung ist nach wie vor das eigene Einkommen. Die Arbeitslosigkeit ist – bedingt wohl auch durch einen durch Mobilisierung und Flucht als Folge des Ukraine-Kriegs wachsenden Arbeitskräftemangel – nach Angaben der International Labour Organisation von 3,9 v.H. Ende 2022 im Jahre 2023 weiter auf 3,3 v.H. und 2,7 v.H. im März 2024 gesunken (AA, Lagebericht, Stand 4. Juli 2024, S. 29; BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O., Grundversorgung, S. 113 f.). In Russland gibt es ein System der sozialen Sicherheit und der sozialen Fürsorge, das Renten zahlt und die sozial schwächsten Bürger unterstützt. Zu den sozial schwachen Gruppen gehören Familien mit mindestens drei Kindern, Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen. Es besteht eine obligatorische Sozialversicherung, einschließlich Arbeitslosenunterstützung. Es gibt ein umfassendes Programm zur Unterstützung von Familien (BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O., S. 118 ff.).

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass der nicht zu den armutsgefährdeten Gruppen gehörende junge, gesunde und arbeitsfähige Kläger seinen Lebensunterhalt in der Russischen Föderation durch Erwerbstätigkeit und Sozialleistungen bestreiten kann. Die Befürchtung, dass ihm dies nicht gelingen könnte, hat der Kläger selbst nicht geäußert. Der russische Arbeitsmarkt bietet auch in der gegenwärtigen eher durch einen Mangel an Arbeitskräften geprägten Lage ausreichende Erwerbsmöglichkeiten.

ddd) Das gilt auch für das gesundheitliche Existenzminimum. Das Gesetz garantiert russischen Staatsbürgern das Recht auf kostenlose medizinische Versorgung in staatlichen Gesundheitseinrichtungen. Rückkehrer haben Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung. Jeder Bürger der Russischen Föderation kann gegen Vorlage eines gültigen russischen Passes oder einer Geburtsurkunde eine Krankenversicherungskarte erhalten. Das Grundprogramm der obligatorischen Krankenversicherung garantiert eine kostenlose medizinische Versorgung in allen Regionen Russlands. Es besteht die Möglichkeit einer freiwilligen Krankenversicherung, die eine medizinische Versorgung auf höherem Niveau ermöglicht. Damit oder gegen direkte Bezahlung können entgeltliche medizinische Leistungen in staatlichen und privaten Krankenhäusern in Anspruch genommen werden. Die Versorgung mit Arzneimitteln ist bei stationärer Behandlung sowie bei Notfallbehandlungen grundsätzlich kostenlos. Bestimmte Patientengruppen erhalten Medikamente kostenlos oder zu ermäßigten Preisen. Dazu gehören Menschen mit Behinderungen, Patienten mit spezifischen Erkrankungen wie Diabetes oder Krebs sowie psychisch Kranke. Die Verfügbarkeit von Medikamenten ist unterschiedlich. Die Beschaffung und Verteilung von Medikamenten ist unzuverlässig, was zu Lieferengpässen und starken Preisschwankungen führt. Dieser Bereich ist jedoch von Sanktionen der internationalen Staatengemeinschaft wegen des Ukraine-Kriegs nicht betroffen. In der Praxis müssen viele Leistungen von den Patienten selbst bezahlt werden, obwohl die medizinische Versorgung für russische Staatsbürger kostenlos sein sollte. Im Jahr 2020 machten Zuzahlungen mehr als ein Viertel der Gesundheitsausgaben aus (BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O., Medizinische Versorgung, Stand 4. Juli 2023, S. 126 ff.). Bei einem jungen Mann ohne gesundheitliche Einschränkungen sind unzumutbare Belastungen zur Sicherung des gesundheitlichen Existenzminimums nicht zu erwarten.

ff) Der Kläger muss in anderen Teilen der Russischen Föderation damit rechnen, dass er zum Grundwehrdienst eingezogen wird.

aaa) Zwar ist die Wahrscheinlichkeit dafür durchaus beschränkt. Denn die durch Erlass des russischen Präsidenten festgelegten Quoten für die jährlich im Frühjahr und Herbst stattfindenden Einberufungskampagnen sind deutlich geringer als die Zahl der ungedienten Wehrpflichtigen, so dass rechnerisch nur etwa jeder Dritte des in das wehrfähige Alter eingetretenen Jahrgangs herangezogen wird (BFA vom 2. April 2024, Themenbericht der Staatendokumentation, Russische Föderation – Militärdienst vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs, S. 6; ACCORD vom 31. Oktober 2019, Russische Föderation: Wehrdienst und Dedowschtschina, S.10: Zahl der Achtzehnjährigen in den Jahren 2016: 664.992, 2017: 687.244, 2018: 670.205; herangezogen wurden im Jahr 2016 307.000 [Frühjahr: 155.00/Herbst: 152.000], im Jahr 2017 276.000 [Frühjahr: 142.000/Herbst: 134.000] und im Jahr 2019 260.000 Wehrpflichtige[Frühjahr 128.000/Herbst:132.500]). Berücksichtigt man die Zahl aller ungedienten Wehrpflichtigen bis zum 30. Lebensjahr, verringert sich das prognostische Risiko einer Heranziehung rechnerisch weiter (ACCORD vom 31. Oktober 2019, a.a.O. S. 12: Gesamtzahl der Wehrpflichtigen im Jahr 2019 – bis 27 Jahre – etwa acht bis neun Millionen Männer, aufgrund der Heraufsetzung des Wehrdienstalters treten schätzungsweise etwa zwei bis drei Millionen hinzu, vgl. BAMF, Briefung Notes vom 31. Juli 2023, S.9). Dass die Einberufungsquoten infolge des Ukraine-Kriegs signifikant gestiegen wären, kann nicht festgestellt werden (Frühjahr 2022: 134.500 Wehrpflichtige; Herbst 2022: 120.000 Wehrpflichtige; Frühjahr 2023: 147.000 Wehrpflichtige, Herbst 2023: 130.000 Wehrpflichtige gemäß den präsidialen Einberufungserlassen lt. EUAA, COI QUERY, 3. Oktober 2023 – Major developments in the Russian Federation in relation to military service, S. 5; BFA vom 2. April 2024, a.a.O. S. 6). Es ist danach nicht erkennbar, dass die Kriegssituation bislang zu einer direkten Mobilisierung soldatischen Potentials über Grundwehrdienstleistende führt. Dagegen spricht auch, dass diese nach den gesetzlichen Bestimmungen erst nach einer viermonatigen Grundausbildung im Ausland einsetzbar wären; die Kriegssituation benötigt aus Sicht der Russischen Föderation für offensive Erfolge und den Ersatz von Verlusten sofort einsatzfähige und ausgebildete Männer. Die Zahlen spiegeln eher, dass die Russische Föderation seit längerem den Umbau zu einer Berufsarmee anstrebt.

bbb) Für die Prognose einer möglichen Einberufung ist aber die Situation des Klägers im Fall der Rückkehr auch qualitativ zu bewerten. Insoweit fällt ins Gewicht, dass er sich selbst als einschränkungslos gesund bezeichnet und damit voraussichtlich als tauglich gemustert wird. Er wird im Rückkehrfall nicht über die Geldmittel verfügen, die notwendig sind, um sich mangelnde Tauglichkeit durch Bestechung zu erkaufen, was in der Russischen Föderation einen üblichen und akzeptierten Weg darstellt, um der Heranziehung zum Wehrdienst zu entgehen (ACCORD vom 29. September 2023, Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: Informationen zum alternativen Zivildienst, S. 9). Der Kläger gerät auch unweigerlich in den Blick der zuständigen Militärkommission, weil er sich nach den gesetzlichen Vorschriften über den Wehrdienst dort binnen zwei Wochen zu melden hat (BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O., S. 58), wenn dies nicht schon als Folge der Einreisekontrolle oder der notwendigen Registrierung am Ort der Niederlassung geschehen ist. Der Kläger ist alleinstehend, seine Kernfamilie befindet sich im Ausland und er ist als Wehrdienstpflichtiger bereits in einem Alter, in dem er nur noch für wenige Einberufungskampagnen zur Verfügung steht. Außerdem dürfte er im Fall einer Rückkehr noch nicht fest im Erwerbsleben verankert sein, weshalb er als verfügbar angesehen werden wird. Diese Umstände sprechen für seine Auswahl zur Erfüllung der Einberufungsquote.

ccc) Demgegenüber dürfte es eher unrealistisch sein, dass es dem Kläger gelingt, einer Heranziehung durch Wehrdienstverweigerung und Ableistung eines zivilen Wehrersatzdiensts zu entgehen.

Zwar ist ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der Russischen Verfassung verbrieft und dieses auch unter der Kriegssituation und der dadurch bedingten Teilmobilisierung von Reservisten für ungediente Wehrpflichtige nicht ausgesetzt (AA, Lagebericht, Stand 4. Juli 2024, S. 13; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Russische Föderation Version 14 vom 12. Juni 2024, S. 62; ACCORD vom 29. September 2023, a.a.O., S. 2 ff.). Gleichwohl stellt ein Antrag auf alternativen Zivildienst in der Russischen Föderation keinen verbreiteten und üblichen Weg dar, um einer Heranziehung zum (Grund-)Wehrdienst zu entgehen; entweder gehe man zur Armee oder werde aus gesundheitlichen Gründen, die entweder tatsächlich vorliegen oder aber aufgrund von Bestechung bescheinigt würden, befreit (vgl. ACCORD vom 29. September 2023, a.a.O., S. 9). Das bestätigt die Zahl der für einen Ersatzdienst vorgesehenen etwa 3000 Stellen (AA, Lagebericht, Stand 4. Juli 2024, a.a.O.) und der aktuell Ersatzdienstleistenden (zwischen 1.100 und 1.200, vgl. ACCORD vom 29. September 2023, a.a.O., S. 3) im Verhältnis zur Zahl der jährlich Einberufenen. Anträge auf Wehrersatzdienst sind nach dem Gesetz sechs Monate vor den jeweiligen Einberufungsterminen zu stellen. Die Anträge auf Kriegsdienstverweigerung sollen nur vor Ort und nicht durch Bevollmächtigte gestellt werden können (AA, Lagebericht Stand 4. Juli 2024, S. 14). Das würde für den Kläger bedeuten, dass er einen solchen Antrag nicht für die unmittelbar auf seine Rückkehr folgende Einberufungskampagne stellen kann, sondern erst frühestens für die darauffolgende. Über die Erfolgsaussichten solcher Anträge wird Unterschiedliches berichtet. Teilweise werden Betroffene mit der Begründung abgewiesen, es gäbe kein Recht auf Ersatzdienst oder dadurch demotiviert, dass sie in einem zivilen Ersatzdienst an abgelegenen Orten Schwerstarbeit leisten müssten (ACCORD vom 29. September 2023, S. 7). Es wird berichtet, etwa die Hälfte der nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums jährlich etwa 2000 Anträge sei erfolgreich. Bei Ablehnung könne mit aufschiebender Wirkung ein Gericht angerufen werden (BFA, Themenbericht der Staatendokumentation vom 2. April 2024, Russische Föderation – Militärdienst vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs, S. 28); etwa ein Fünftel der Ablehnung habe vor Gericht keinen Bestand (ACCORD vom 29. September 2023, a.a.O., S. 5). Jedenfalls wird berichtet, dass nur eine beharrliche Verfolgung des Anliegens erfolgversprechend ist (ACCORD vom 29. September 2023, S. 6 ff.).

Der Senat traut dem Kläger, der durch seine langen Aufenthalte in Polen und im Bundesgebiet den Umgang mit russischen Behörden nicht gewohnt ist, das notwendige Geschick und die gebotene Beharrlichkeit in einem bürokratischen Verfahren nicht ohne weiteres zu. Überdies dürfte es dem Kläger, der hier gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht aus dem Wege geht und deshalb auch schon strafrechtlich verurteilt worden ist, schwerfallen, eine Gewissensentscheidung gegen den Dienst mit der Waffe überzeugend darzustellen. Deshalb folgt der Senat der Beklagten nicht, soweit sie meint, der Kläger könne seinen Befürchtungen im Zusammenhang mit der Leistung des Wehrdiensts durch Wahrnehmung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung und einen alternativen Zivildienst entgehen.

gg) Es ist jedoch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger im Fall einer Einberufung zum Grundwehrdienst in der Ukraine und damit in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg eingesetzt wird.

aaa) Die Erkenntnislage stellt sich wie folgt dar: Grundwehrdienstleistende wurden zu Beginn der russischen Offensive im Frühjahr 2022 eingesetzt, obwohl Präsident Putin dies Anfang März 2022 ausgeschlossen hatte. Als die Stationierung in der Ukraine publik wurde, ordnete er Ermittlungen der Militärstaatsanwaltschaft an, die zur Rückholung von 600 Grundwehrdienstleistenden und zur Bestrafung oder Entlassung von zwölf Offizieren geführt haben sollen (BFA vom 2. April 2024, a.a.O., S. 15). Aktuell gibt es weiterhin keine Hinweise auf eine Teilnahme russischer Grundwehrdienstleistender an Kampfhandlungen in der Ukraine (BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O., S. 46); offizielle russische Verlautbarungen bestreiten auch einen Einsatz in den besetzten Gebieten Luhansk, Donezk oder in den Regionen Cherson und Saporischia (https://www.gazeta.ru/army/news /2024/07/11/23438779.shtml). Grundwehrdienstleistende werden auf der Krim sowie für Grenzsicherungszwecke entlang der russisch-ukrainischen Grenze eingesetzt (BFA, a.a.O.; EUAA vom Dezember 2022, Russian Federation – Military Service, S 37 f.). Das wird bestätigt durch die Gefangennahme von Grundwehrdienstleistenden im Rahmen des Vorstoßes der ukrainischen Armee auf russisches Gebiet in der Oblast Kursk seit Anfang August des Jahres (Tagesschau vom 17. August 2024: Krieg gegen die Ukraine: Reportage aus der Region Sumy von Vasily Golod; https://www.tagesschau.de/multimedia/video/schnellinformiert /video-1369670.html, zuletzt aufgerufen am 21. August 2024) und ihre Verwicklung in Kampfhandlungen (Christian Mölling und András Rácz, Kursk-Offensive hält hohe Geschwindigkeit, 15.08.2024, https://www.zdf.de/nachrichten /politik/ausland/kursk-offensive-geschwindigkeit-hoch-ukraine-krieg-russland-100.html, zuletzt aufgerufen am 21. August 2024). Diese Kampfhandlungen finden indessen auf russischem Territorium statt und dienen der Abwehr der ukrainischen Offensive. Der Kampfeinsatz der Wehrpflichtigen findet nicht statt, um das Gebiet der Ukraine oder Teile davon völkerrechtswidrig zu erobern, zu besetzen oder zu annektieren. Der Einsatz zur Verteidigung eigenen Territoriums stellt keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG dar. Im Ergebnis nicht anders verhält es sich bei der Stationierung Wehrpflichtiger auf der Krim. Die Russische Föderation betrachtet dieses Gebiet nach der völkerrechtswidrigen Annektierung als russisches Territorium, so dass der militärische Einsatz dort der Aufrechterhaltung des geschaffenen Zustands dient. Direkte Kampfhandlungen gegen die Ukraine finden auf der Krim nicht statt, so dass ein ernsthafter Schaden im Sinne der Vorschrift nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.

bbb) Diese Erkenntnislage ermöglicht keine Überzeugungsbildung dahin, dass dem Kläger als Grundwehrdienstleistenden ein ernsthafter Schaden durch eine Verstrickung in den Angriffskrieg gegen die Ukraine droht.

Der Senat verkennt nicht, dass den Machthabern in der Russischen Föderation in besonderer Weise daran gelegen ist, die Information nach innen zu verbreiten, dass keine Wehrpflichtigen für die „Sonderoperation“ in der Ukraine (mehr) in Anspruch genommen werden. Diese propagandistische Zielsetzung bietet aber keine Gewähr dafür, dass es abhängig von der Entwicklung der militärischen Lage auch entgegen geltendem russischen Recht und wider allen öffentlichen Verlautbarungen doch zu einem solchen Einsatz kommen kann (vgl. AA, Auskunft vom 10. Februar 2023 zum Amtshilfeersuchen des BMI zur Aktualisierung der HKL-Leitsätze, Gz.: 508-9-516.80/RUS, S. 2). Immerhin sind bereits zu Beginn der Feindseligkeiten Wehrdienstleistende in der Ukraine eingesetzt worden, was in der Folge mit einigem propagandistischen Aufwand als fehlerhafte Vorgehensweise dargestellt wurde, mutmaßlich um die Militäroperation zum Schutz der inneren Sicherheit nicht in den Augen der Angehörigen Wehrpflichtiger zu diskreditieren und Fluchtbewegungen entgegenzuwirken. Dass diese Möglichkeit besteht und nicht auszuschließen ist, genügt jedoch in Anbetracht aller übrigen Umstände, insbesondere der Erkenntnisse über sog. verdeckte Mobilisierung, nicht, um sie als beachtlich wahrscheinlich anzunehmen. Bei der Würdigung ist vor allem der Zeitfaktor von Gewicht. Nach den Ereignissen bis Sommer 2022 sind keine Informationen über einen Einsatz Wehrdienstleistender in der Ukraine mehr bekannt geworden. Diese Erkenntnislage ist damit über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren stabil. Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) reicht angesichts dessen die fortbestehende Möglichkeit, dass die Machthaber in der Russischen Föderation den Einsatz Wehrdienstleistender zu Kampfhandlungen durchsetzen könnten, wenn sie sich davon einen Vorteil versprechen, für die richterliche Überzeugungsbildung nach § 108 Abs. 1 VwGO nicht aus.

ccc) Dem Verwaltungsgericht kann auch nicht darin gefolgt werden, dass eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Kläger nach einer Einberufung zum Grundwehrdienst genötigt werden wird, sich als Vertragssoldat zu verpflichten und sodann in der Ukraine eingesetzt werden könnte.

(1) Auch insoweit gibt die Erkenntnislage zu dieser Form der verdeckten Mobilisierung zu wenig her, um die volle richterliche Überzeugung für einen solchen Hergang zu gewinnen. Allgemein werden „Medienberichte“ für eine Rekrutierung unter Zwang angeführt (vgl. BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O., S. 46, unter Berufung auf die Quelle „Wichtige Geschichten“ vom 29. November 2023 – https//istories.media/stiries/2023/11/29/na-chto-rossiyane-zhalu-yutsya-putinu, S. 47). Besondere Aufmerksamkeit scheint einem Interview zuzukommen, das Professor Mathiesen vom Danish Defense College mit einer nicht näher bezeichneten Quelle geführt hat, dessen Inhalte in den Bericht des Danish Immigration Service vom Dezember 2022 eingeflossen sind (DIS, Russia – An update on military service since July 2022, Dez. 2022, S. 17 f, S. 47 f. Ziffern 29, 30). Die Aussage der Quelle ist allerdings vage, weil sie lediglich glaubt („believed“), dass Grundwehrdienstleistende zur Vertragsunterzeichnung gezwungen werden, weil das ein Weg sei, sie legal sofort einsetzen zu können. Die Quelle gab weiter an, dass der Druck auf Wehrdienstleistende, einen Militär-Vertrag zu unterzeichnen, unzweifelhaft gestiegen sei. Dem steht eine andere Quelle („Menschenrechtsaktivist“) gegenüber, wonach die Fälle der Täuschung und/oder des Zwangs bei Vertragsschluss in einem niedrigen zweistelligen Bereich lägen (AA, Auskunft vom 10. Februar 2023, a.a.O., S. 3). Die Erkenntnislage ist demnach wenig dicht und fundiert; es ist weder klar, welchen Erkenntnishorizont die Quellen angesichts der territorialen Ausdehnung der Russischen Föderation haben, insbesondere inwiefern ihre Angaben verallgemeinerungsfähig sind. Auch ist nicht erkennbar, ob ausreichend zwischen „Druck“ und auf einen Willensbruch zielenden Handlungsweisen wie Zwang und Täuschung differenziert wird. Andererseits ist bekannt, dass die Anwerbung von Vertragssoldaten mit hohen finanziellen Anreizen und sonstigen staatlichen Vergünstigungen von der Russischen Föderation – offenbar erfolgreich – betrieben wird (BFA vom 12. Juni 2024, a.a.O., Teilmobilisierung, S. 43), weil dies insbesondere ärmere Schichten und die Landbevölkerung anspricht, was eine zwangsweise Rekrutierung, die mit Spekulationen über die militärischen Verluste verbunden sein könnte, entbehrlich machen dürfte.

(2) Das Verwaltungsgericht hat den Kläger zudem als Angehörigen einer vulnerablen Personengruppe gekennzeichnet, obwohl er – der Minderjährigkeit schon länger entwachsen – der Gruppe der jungen, gesunden und arbeitsfähigen Männer angehört, der nach allgemeinem Verständnis am meisten zugemutet werden kann. Dabei bleibt unklar, weshalb gerade der Kläger einem Zwang militärischer Vorgesetzter nicht widerstehen können sollte, wenn er nach seinem Vortrag weder „für“ die Russische Föderation noch „gegen“ die Ukraine kämpfen will. Anders als bei der Frage der Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer und dem Erfolg eines Antrags auf zivilen Ersatzdienst liegt die Entscheidung, sich als Berufssoldat zu verpflichten, grundsätzlich allein in der Hand des Klägers und ist von seinem Willen abhängig. Defizite im Umgang mit Behörden und militärischen Strukturen, die der weitgehend im Ausland aufgewachsene Kläger sicherlich aufweisen wird, werden sich auf diese in seiner Sphäre zu treffende Entscheidung kaum auswirken. Der Kläger gehört – wie ausgeführt – jedenfalls nach Aktenlage eher zu den robusteren Persönlichkeiten, die in körperlichen Auseinandersetzungen „ihren Mann“ zu stehen wissen. Ihn in einer schriftlichen Entscheidung ohne persönlichen Eindruck als vulnerable Person darzustellen, erscheint nicht tragfähig. Es bietet auch unter der Prämisse, dass Zwang bei der Rekrutierung von Wehrdienstleistenden – wenn nach der zitierten Quelle auch eher selten und nur punktuell – vorkommt, keine Grundlage für die Annahme, der Kläger sei einem nicht zu vernachlässigenden Risiko ausgesetzt, zu einem Vertragsabschluss als Berufssoldat genötigt zu werden.

(3) In der Gesamtwürdigung fehlt es danach an ausreichenden Belegen für eine systematisch oder jedenfalls in nennenswertem Umfang erfolgende zwangsweise Rekrutierung Wehrdienstpflichtiger. Mit der Beklagten ist zudem die Sinnhaftigkeit solchen Vorgehens nicht einleuchtend, weil zwangsweise zum Vertragsschluss genötigte Männer keine für einen Kampfeinsatz motivierten Kräfte darstellen. Der Senat geht allerdings davon aus, dass eine Rekrutierung von Grundwehrdienstleistenden als Vertragssoldaten in nicht unerheblichem Ausmaß erfolgt. Anders sind die offiziell angegebenen hohen Zahlen neu angeworbener Berufssoldaten kaum zu erklären. Die Anwerbung erfolgt aber über das Angebot finanzieller und sonstiger Vorteile, die gemessen an den durchschnittlichen Einkommensverhältnissen aktuell offenbar so attraktiv sind, dass sich Wehrpflichtige in beachtlichen Zahlen für einen Vertragsabschluss entscheiden. Solange solche Methoden aus Sicht der Russischen Föderation hinreichend erfolgreich sind, spricht nichts dafür, dass zur Anwerbung – vergleichbar den Verhältnissen in Tschetschenien – Zwang angewendet wird, um Grundwehrdienstleistende zur Anstellung als Berufssoldaten zu nötigen.

e) Nach allem lässt die aktuelle Erkenntnislage die Feststellung nicht zu, dass dem Kläger infolge des Umstands, dass er sich im wehrpflichtigen Alter befindet und bei einer ihm als Tschetschenen als interne Schutzmöglichkeit zumutbaren Rückkehr in die Russische Föderation mit der Einberufung zum Grundwehrdienst rechnen muss, im Zusammenhang mit dem gegen die Ukraine geführten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg aktuell ein ernsthafter Schaden gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 2 AsylG droht. Das geht zu Lasten des sich auf die nichterweisliche Behauptung berufenden Klägers.

2. Für die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG ist vom Kläger über den geltend gemachten Nachfluchtgrund hinaus nichts Hinreichendes vorgetragen.

a) In Anknüpfung an die vorstehenden Ausführungen wird dem Kläger die Erwirtschaftung des Existenzminimums möglich sein (s.o. Ziffer 1 d, ee, ccc), so dass unter diesem Aspekt nichts für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK spricht. Das gilt auch sonst unter dem Aspekt unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, die ihm nach den vorstehenden Ausführungen zu § 4 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 2 AsylG nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.

b) Auch für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG besteht unter dem Gesichtspunkt einer Verstrickung in den Ukrainekrieg kein hinreichender Anhalt. Gesundheitliche Gründe, aus denen sich eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben ergibt, hat der Kläger nicht geltend gemacht.

3. Die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung entsprechen den gesetzlichen Vorgaben in § 34 Abs. 1 i.V.m. § 38 Abs. 1 AsylG, § 59 Abs. 1 und 2 AufenthG. Insbesondere steht die festgestellte Vaterschaft bezüglich der am 13. Mai 2017 geborenen gemeinsamen Tochter mit einer Griechin als familiäre Bindung dem Erlass der Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG nicht entgegen. Nach den Angaben des Bevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung fehlt es an einer dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK unterfallenden familiären Gemeinschaft, weil die Kindesmutter solche Kontakte unterbindet und der Kläger gegen ihren Willen keinen Umgang mit dem Kind anstrebt.

Das in Ziffer 6 des Bescheids verhängte Einreise- und Aufenthaltsverbot des § 11 Abs. 1 AufenthG begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Es gilt, wie die Vorschrift in der seit dem 21. August 2019 geltenden Fassung nunmehr ausdrücklich klarstellt, nicht schon kraft Gesetzes, sondern ist als Anordnung eines „Einreise- und Aufenthaltsverbots von bestimmter Dauer“ zu verstehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. August 2018 – 1 C 21.17 – juris Rn. 21; BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 – 1 VR 3.17 – juris Rn. 71 f.). Die Befristung auf eine Dauer von 30 Monaten ab dem Tag der Abschiebung liegt im mittleren Bereich des von § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG für den Regelfall aufgezeigten Rahmens. Schutzwürdige Interessen des Klägers, die eine Reduzierung der Geltungsdauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots angezeigt erscheinen lassen (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 7. September 2021 – 1 C 47.20 – juris Rn. 18 ff.), sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben; besondere Umstände für eine Erhöhung oder Absenkung des Gegenstandswerts gemäß § 30 Abs. 2 RVG bestehen nicht. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil hierfür keine Gründe nach § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG und § 132 Abs. 2 VwGO vorliegen.