Gericht | OLG Brandenburg 1. Strafsenat | Entscheidungsdatum | 26.08.2024 | |
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Aktenzeichen | 1 Ws 109/24 (S) | ECLI | ECLI:DE:OLGBB:2024:0826.1WS109.24S.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss der 1. großen Strafkammer – Schwurgericht – des Landgerichts Potsdam vom 28. Mai 2024 aufgehoben.
Der Antrag der Staatsanwaltschaft Potsdam vom 1. März 2024, die durch Urteil des Landgerichts Potsdam – Schwurgericht – vom 31. Mai 2021 (21 Ks 1/21) gewährte Strafaussetzung zur Bewährung zu widerrufen, wird zurückgewiesen.
Die Bewährungszeit aus dem Urteil der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam – Schwurgericht – vom 31. Mai 2021 (21 Ks 1/21) wird um 2 Jahre, mithin bis zum 7. Juni 2026, verlängert. Die Auflagen und Weisungen aus dem Bewährungsbeschluss des Landgerichts Potsdam vom 31. Mai 2024 sowie aus dem Beschluss desselben Gerichts vom 18. Dezember 2023 bleiben aufrechterhalten.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Verurteilten darin entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse.
I.
Der Verurteilte wendet sich mit seiner sofortigen Beschwerde gegen den durch Beschluss der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Potsdam vom 28. Mai 2024 (21 Ks 1/21) angeordneten Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Urteil des desselben Gerichts vom 31. Mai 2021 (21 Ks 1/21).
Dem liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:
1. Die 1. große Strafkammer des Landgerichts Potsdam – Schwurgericht - verurteilte den wegen Bedrohung, Sachbeschädigung und Erschleichens von Leistungen mit geringen Geldstrafen bereits mehrfach vorbestraften Beschwerdeführer am 31. Mai 2021, rechtskräftig seit 8. Juni 2021 (21 Ks 1/21), wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung die Schwurgerichtskammer zur Bewährung aussetzte. Hintergrund der Straftat war eine Auseinandersetzung des Beschwerdeführers mit einem ebenfalls aus dem Irak stammenden Landsmann. Unter Berücksichtigung der Umstände, dass der Geschädigte „die Tat durch sein aggressives und provozierendes Auftreten heraufbeschworen hat“ (S. 12 UA), „der Geschädigte nur leichte Verletzungen erlitten und keine bleibende Schäden davongetragen hat“, der Angeklagte u.a. sich selbst bei der Polizei gestellt, sich geständig eingelassen und sein Bedauern über die Tat zum Ausdruck gebracht hat, er „sozial integriert [ist] und sich sozial engagiert, indem er sich regelmäßig um den gebrechlichen Landsmann A...S... kümmerte“ (S. 12 UA) hat die Schwurgerichtskammer einen minder schweren Fall des versuchten Totschlags nach § 213 2. Alt. StGB angenommen.
Mit Beschluss ebenfalls vom 31. Mai 2021 hat die Schwurgerichtskammer die Bewährungszeit auf drei Jahre festgesetzt, den Beschwerdeführer der Aufsicht und Leitung eines für seinen Wohnsitz zuständigen Bewährungshelfers unterstellt sowie ihm aufgegeben, binnen sechs Monaten 100 Stunden gemeinnützige Arbeit nach näherer Weisung seines Bewährungshelfers zu leisten und dem Gericht jeden Wohnungswechsel mitzuteilen.
2. a) Infolge einer Erkrankung konnte der Verurteilte die gemeinnützige Arbeit nicht innerhalb der gesetzten Frist leisten, weshalb das Schwurgericht mit Beschluss vom 13. Dezember 2021 die Frist zur Ableistung der gemeinnützigen Arbeit um sechs Monate verlängerte. Unter dem Datum des 20.06.2022 bescheinigte ein Mitarbeiter der „S...A...M... e.V.“ die vollständige Erbringung der dem Verurteilten mit Beschluss vom 31. Mai 2021 auferlegten Arbeit und führte aus: „Hr. K... hat seine Arbeiten selbständig in einer sehr guten Qualität erledigt. Pünktliches Erscheinen zur Arbeit sowie höfliches Auftreten waren für ihn selbstverständlich.“
b) Die Bewährungshelferin berichtete am 22. Oktober 2021 dem Schwurgericht, dass das Erstgespräch mit dem Verurteilten am 9. August 2021 durchgeführt wurde und Folgegespräche am 14. und 21. September 2021 sowie am 5. Oktober 2021 stattfanden. Zu den vereinbarten Bewährungshilfegesprächen am 13. Oktober 2021 und 19. Oktober 2021 sei der Verurteilte hingegen nicht erschienen. Im Ergänzungsbericht vom 24. November 2021 führte die Bewährungshelferin aus, dass der Verurteilte am 18. November 2021 in der Dienststelle vorsprach und berichtete, dass es ihm „gesundheitlich nicht gut gehe“.
Nach Ableistung der gemeinnützigen Arbeit berichtete die Bewährungshelferin am 17. Oktober 2022 dem Landgericht Potsdam, dass der Verurteilte letztmalig am 3. August 2022 bei der Bewährungshilfe vorsprach. Zu den Folgeterminen am 11. August 2022, 5. September 2022, 26. September 2022 und 17. Oktober 2022 erschien der Verurteilte nicht, er war weder telefonisch noch mit Hilfe der Sozialarbeiter des Übergangwohnheimes erreichbar. Unter dem Datum des 18. November 2022 teilte die Bewährungshelferin mit, dass weithin kein Kontakt zum Verurteilten bestehe; eine Einladung zum Gespräch am 9. November 2022 habe er nicht wahrgenommen. Am 30. November 2022 teilte die Bewährungshelferin mit, dass der Verurteilte eine weitere Einladung zum Gespräch am 29. November 2022 ignoriert habe, und regte eine gerichtliche Anhörung an.
Am 21. Dezember 2023 fand eine Anhörung vor einer Richterin der Schwurgerichtskammer statt, die den Verurteilten u. a. auf die Konsequenzen weiteren Kontaktabbruchs mit der Bewährungshilfe hinwies.
Am 22. Dezember 2022 und am 29. Dezember 2022 erschien der Verurteilte wieder bei der Bewährungshilfe; unter dem 16. März 2023 berichtete die Bewährungshelferin, dass der Verurteilte „alle vereinbarten Termine zuverlässig wahrnimmt. Zusätzlich meldet er sich, wenn er Beratungsbedarf hat.“
Am 28. September 2023 teilte die Bewährungshelferin dem Gericht mit, dass das letzte Gespräch mit dem Verurteilten am 4. Juli 2023 stattgefunden habe; ein vereinbartes Gespräch für den 3. August 2023 habe er ebenso ignoriert wie Einladungen zu Gesprächen am 31. August 2023, 11. September 2023 und 18. September 2023. Des Weiteren teilte die Bewährungshelferin dem Gericht mit, der Verurteilte habe ihr im Mai 2023 mitgeteilt, dass er seit ca. einem Monat Speed konsumiere, da er ständig Kopfschmerzen und viel Langeweile habe sowie depressiv sei.
Unter dem 6. November 2023 teilte die Bewährungshelferin mit, dass der Verurteilte auch eine Einladung zum Gespräch am 3. November 2023 nicht wahrgenommen habe und der Kontaktabbruch fortbestehe.
Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Potsdam vom 9. November 2023 hat die 1. große Strafkammer des Landgerichts Potsdam für den 12. Dezember 2023 einen Anhörungstermin anberaumt, zu dem der Verurteilte nicht erschienen ist. Mit Beschluss vom 18. Dezember 2023 hat die Schwurgerichtskammer den Bewährungsbeschluss vom 31. Mai 2021 dahin konkretisiert, dass dem Verurteilten aufgegeben wurde, sich mindestens einmal monatlich bei seiner Bewährungshelferin nach deren näherer Weisung durch persönliches Erscheinen zu melden. Zudem wurde er angewiesen, seinen Aufenthaltsort bekannt zu machen und diesen nicht ohne Anzeige gegenüber der Bewährungshelferin und dem Gericht zu wechseln und/oder aufzugeben.
Mit Schreiben vom 26. Februar 2024 teilte die Bewährungshelferin dem Landgericht mit, dass der Verurteilte Einladungen zu Gesprächen am 9. Januar 2024 und am 12. Februar 2024 nicht nachgekommen und bei einem unangemeldeten Hausbesuch am 19. Februar 2024 nicht angetroffen worden sei. Auf die hinterlassene Visitenkarte habe der Verfolgte am 21. Februar 2024 Kontakt mit der Bewährungshilfe und sei zu einem Gespräch am 23. Februar 2024 erschienen. Bei dem Gespräch habe der Verfolgte angegeben, weiterhin Amphetamine zu konsumieren, da dies von seinen Problemen ablenken würde.
Am 22. Mai 2024 berichtete die Bewährungshelferin, dass sie letztmalig am 21. März 2024 persönlichen Kontakt zum Verurteilten gehabt habe. Weitere für den 22. April 2024, 23. April 2024 und 14. Mai 2024 vorgesehene Gesprächstermine habe der Verurteilte ignoriert, auch sei er zu einem vereinbarten Gesprächstermin bei der Suchtberatungsstelle „S...“ nicht erschienen; telefonisch sei er nicht erreichbar gewesen.
c) Zwischenzeitlich hat das Amtsgericht Brandenburg an der Havel den Verurteilten bzw. Beschwerdeführer am 9. November 2023, rechtskräftig seit demselben Tag (24 Ds 88/23), wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 10,00 € verurteilt. Am 28. Mai 2023 führte der Verurteilte gegen 22:20 Uhr in der Ruppinstraße in Brandenburg 5,44 Gramm netto Amphetamin bei sich, ohne über eine Erlaubnis für den Erwerb bzw. Besitz von Betäubungsmitteln zu verfügen.
3. Unter dem Datum des 1. März 2024 beantragte die Staatsanwaltschaft Potsdam die durch Urteil des Landgerichts Potsdam am 31. Mai 2021 gewährte Strafaussetzung gemäß § 56f StGB wegen erneuter Straffälligkeit in der Bewährungszeit und wegen beharrlichen Entziehens der Aufsicht und Leitung durch einen Bewährungshelfer zu widerrufen. Mit Verfügung des Landgerichts vom 15. April 2024 wurde der Verurteilte zum Antrag der Staatsanwaltschaft Potsdam formlos schriftlich angehört; ob der Verurteilte das Anhörungsschreiben erhalten hat, ist der Akte nicht zu entnehmen.
Am 28. Mai 2024 ordnete die 1. große Strafkammer – Schwurgerichtskammer – im Beschlusswege dem Verurteilten für das Widerrufsverfahren einen Pflichtverteidiger bei und widerrief die mit Urteil der Schwurgerichtskammer vom 31. Mai 2021 gewährte Aussetzung der erkannten Freiheitsstrafe von zwei Jahren zur Bewährung. Das Landgericht begründete den Widerruf der Strafaussetzung mit der Verurteilung durch das Amtsgericht Brandenburg an der Havel vom 9. November 2023 sowie mit dem beharrlichen Entziehen der Aufsicht und Leitung durch einen Bewährungshelfer, mithin habe sich die mit der Strafaussetzung verbundene Erwartung straffreien Lebens nicht erfüllt.
Gegen diese, dem Verteidiger des Betroffenen am 14. Juni 2024 zugestellte Entscheidung hat dieser mit dem bei Gericht am selben Tag angebrachten Anwaltsschriftsatz sofortige Beschwerde eingelegt und diese nach Akteneinsicht mit weiterem Anwaltsschriftsatz vom 5. Juli 2024 begründet.
Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg hat mit Stellungnahme vom 18. Juli 2024, eingegangen beim Brandenburgischen Oberlandesgericht am 25. Juli 2024, beantragt, die sofortige Beschwerde mit der Maßgabe, dass die von dem Beschwerdeführer erbrachte Arbeitsleistung von 13 Tagen auf die zu vollstreckende Freiheitsstrafe angerechnet wird, als unbegründet zu verwerfen.
II.
1. Das gem. § 453 Abs. 2 Satz 3 StPO statthafte Rechtsmittel ist form- und fristgerecht bei Gericht angebracht worden (§§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO), mithin zulässig.
2. Die sofortige Beschwerde des Verurteilten ist teilweise begründet und hat im tenorierten Umfang Erfolg.
a) Die Voraussetzungen für den Widerruf der durch Urteil des Landgerichts Potsdam vom 31. Mai 2021 (21 Ks 1/21) gewährten Strafaussetzung zur Bewährung liegen an sich vor. Der Beschwerdeführer ist zum einen nach dem vorbenannten Urteil innerhalb der Bewährungszeit erneut straffällig geworden und deswegen durch das Amtsgericht Brandenburg an der Havel rechtskräftig zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Zum anderen hat sich der Beschwerdeführer während der gesamten Bewährungszeit immer wieder über einen nicht unerheblichen Zeitraum der Aufsicht und Leitung seiner Bewährungshelferin entzogen. Insgesamt sind die Voraussetzungen für einen Bewährungswiderruf nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB dem Grunde nach gegeben.
b) Von dem Widerruf sieht das Gericht jedoch dann ab, wenn es ausreicht, weitere Auflagen oder Weisungen zu erteilen, insbesondere die verurteilte Person einer Bewährungshelferin oder einem Bewährungshelfer zu unterstellen oder die Bewährungszeit zu verlängern (§ 56f Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 StGB). Letzteres ist vorliegend der Fall. Die in dem vorliegenden Ausnahmefall gegebenen Besonderheiten lassen es noch als ausreichend erscheinen, die Bewährungszeit um 2 Jahre zu verlängern. Durch die Verlängerung der Bewährungszeit kann die nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Nr. 2 StGB widerlegte Aussetzungsprognose wiederhergestellt werden.
aa) Hinsichtlich des Widerrufgrundes nach § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB hat der Senat berücksichtigt, dass es sich bei dem Anlassdelikt um ein Bagatelldelikt handelt, wofür schon die geringe Geldstrafe von 50 Tagessätzen spricht. Der Beschwerdeführer hatte lediglich Drogen in einem sehr geringen Umfang von 5,44 Gramm zum Eigenkonsum besessen, was zum einen der Bewährungshelferin bekannt war und wozu der Verurteilte angab, dass der Drogenkonsum ihn von seinen Problemen ablenke. Mithin fehlt es an einem kriminologischen Zusammenhang der Anlasstat (geringer Drogenbesitz zum Eigenkonsum) mit der dem Urteil des Landgerichts Potsdam vom 31. Mai 2021 zugrunde liegenden Straftat des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 29. Juli 2013, 1 Ws 116/13; Senatsbeschluss vom 17. April 2004, 1 Ws 29/04).
Zu berücksichtigen ist dabei, dass § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht der Ahndung von Verfehlungen während der Bewährungszeit dient (Fischer, StGB, 71. Aufl., § 56 f StGB, Rn. 8 m.w.N.). § 56 Abs. 1 Nr. 1 StGB stellt nicht nur auf bloßes Legalverhalten, sondern auf die Möglichkeit zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft ab (Fischer, a.a.O., Rn. 8a m.w.N.).
Hinsichtlich der Anlassverurteilung ist nach § 56f Abs. 2 Nr. 2 StGB die Verlängerung der Bewährungs- und Unterstellungszeit ausreichend, um die für den Verurteilten günstige Aussetzungsprognose wiederherzustellen.
bb) Soweit das Landgericht den Widerruf der Strafaussetzung auch auf einen beharrlichen Verstoß gegen Bewährungsauflagen gestützt hat, ist anzumerken, dass ein erheblicher Verfahrensmangel vorliegt, da der Verurteilte dazu durch das Schwurgericht nicht mündlich angehört worden ist. Nach § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO „soll“ das Gericht, wenn es über einen Widerruf der Strafaussetzung wegen eines Verstoßes gegen Auflagen oder Weisungen zu entscheiden hat, dem Verurteilten zuvor Gelegenheit zur mündlichen Anhörung geben. Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der Verurteilte beachtenswerte Gründe für die Nichterfüllung haben kann, aber nicht in der Lage ist, diese Gründe in einer das Gericht überzeugenden Weise schriftlich darzustellen. Das Gesetz will damit von vornherein der Gefahr begegnen, dass schwerwiegende Widerrufsentscheidungen ohne zureichende Tatsachengrundlage ergehen, weshalb die obergerichtliche Rechtsprechung die mündliche Anhörung des Verurteilten entgegen dem Wortlaut der Norm („soll“) als zwingend erachtet (st. Senatsrechtsprechung, statt vieler: Senatsbeschluss vom 1. November 2011, 1 Ws 174/11; ebenso: OLG Naumburg, StraFo, 2021, 71; KG JR 1988, 39; OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 91; OLG Frankfurt NStZ-RR 2003, 200; OLG Jena, Beschluss vom 07. Dezember 2007, 1 Ws 438/07; OLG Jena, Beschluss vom 15. Februar 2008, 1 Ws 49/08; jeweils zit. n. juris; siehe auch Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 453 Rn. 7; Fischer, StGB, 71 Aufl., § 56 f, Rn. 21). Die Ausgestaltung als Sollvorschrift eröffnet dem Gericht lediglich die Möglichkeit, von der grundsätzlich zwingend gebotenen mündlichen Anhörung aus schwerwiegenden Gründen abzusehen, beispielsweise, wenn der Auflagen- oder Weisungsverstoß neben der neuen Straftat des Verurteilten nicht ins Gewicht fällt (vgl. OLG Stuttgart, NStZ 1987, S. 43), oder wenn der Verurteilte auf sie verzichtet (OLG Karlsruhe, StV 2003, 344; OLG Düsseldorf, NStE Nr. 13 zu § 453 StPO; OLG Jena, Beschluss vom 18. April 2005, 1 Ws 128/05; OLG Jena, Beschluss vom 15. Februar 2008, 1 Ws 49/08, jew. zit. n. juris; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 56f Rdnr. 21 m.w.N.). Dass sich das Gericht der Notwendigkeit bewusst war, eine mündliche Anhörung vorzunehmen, muss sich aus dem Beschluss, zumindest aber aus den Akten ergeben (vgl. OLG Stuttgart MDR 1987, 164; OLG Jena, StraFo 1997, 345).
Im vorliegenden Fall hat das Schwurgericht den Verurteilten zwar zu Frage der Änderung von Auflagen und Weisungen mündlich angehört bzw. dies versucht, jedoch nicht zum hier nach § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO maßgeblichen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung. Nach der Aktenlage ist nicht einmal gesichert, ob der Antrag der Staatsanwaltschaft Potsdam auf Widerruf der Strafaussetzung den Verurteilten erreicht hat und ihm die Möglichkeit eingeräumt war, dazu schriftlich Stellung zu nehmen.
In der Sache ist anzumerken, dass der Verurteilte, nachdem er sich der Aufsicht und Leitung durch seine Bewährungshelferin entzogen hatte, immer wieder – wie auch der spätere Bewährungsbericht vom 9. Juli 2024 zeigt – Kontakt zur Bewährungshelferin aufgenommen hatte, so dass auch insoweit ein Widerruf der Strafaussetzung nicht zwingend ist, vielmehr die Verlängerung der Bewährungszeit um zwei Jahre die widerlegte Aussetzungsprognose wiederherstellen kann.
cc) Der Verlängerung der Bewährungszeit steht nicht entgegen, dass die ursprüngliche Bewährungszeit am 7. Juni 2024 abgelaufen war. Die Verlängerung der Bewährungszeit ist – wie auch der Widerruf der Bewährung – auch nach Ablauf der Bewährungszeit grundsätzlich zulässig (allgemeine Ansicht, siehe Gesetzesmaterialien BT-Drucks. 8/3857, 12; 9/22, 5; vgl. auch BGH NStZ 1998, 586; KG Berlin NJW 2003, 2468, 2469; OLG Karlsruhe MDR 1993, 780; OLG Hamm NStZ 1998, 478; OLG Düsseldorf MDR 1985, 516; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 254; MK-Groß, StGB, § 56 f Rn. 38; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 56 f Rn. 19). Eine bestimmte Frist, innerhalb derer die Widerrufsentscheidung ergehen muss und nach deren Ablauf der Widerruf oder mildere Maßnahmen unzulässig wären, gibt es nicht; die Jahresfrist des § 56 g Abs. 2 Satz 2 StGB ist auf § 56f StGB nicht anwendbar (vgl. Fischer a.a.O.).
Die Verlängerung der Bewährungszeit bzw. der Widerruf der Bewährung ist indes nicht unbegrenzt möglich. Beides hat zu unterbleiben, wenn aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes des Verurteilten eine solche Entscheidung nicht mehr vertretbar ist (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. Beschluss vom 22. September 2003, 1 Ws 120/03; Beschluss vom 23. Januar 2004, 1 Ws 164/03; Beschluss vom 4. April 2004, 1 Ws 17/04; Beschluss vom 18. Juni 2008, 1 Ws 114/08; vgl. auch KG JR 1967, 307; OLG Hamm NJW 1970, 1520; OLG Celle StV 1987, 30; OLG Bremen StV 1986, 165; OLG Hamm StV 1985, 198; KG NJW 2003, 2468).
Aus Gründen des Vertrauensschutzes wird in der Rechtsprechung ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung oder eine Verlängerung der Bewährungszeit dann für unzulässig erachtet, wenn seit Ende der Bewährungszeit bzw. seit Rechtskraft der neuen Verurteilung ein erheblicher Zeitablauf eingetreten ist (vgl. OLG Stuttgart, Die Justiz 1982, S. 273; OLG Koblenz MR 1985, S. 70: nahezu 2 Jahre; OLG Bremen StV 1986, S. 166; OLG Koblenz OLGSt Nr. 1; OLG Hamm StV 1985, S. 198; siehe auch OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 254; OLG Köln StV 2001, 412 f.; OLG Oldenburg StV 2003, S. 346). Ein solcher „erheblicher Zeitablauf“ liegt im vorliegenden Fall nicht vor, auch konnte der Beschwerdeführer aufgrund der Anlassverurteilung und des Verstoßes gegen Auflagen und Weisungen nicht damit rechnen, dass dies für die laufende Bewährung ohne Konsequenzen bleiben könnte. Je schwerer der Verurteilte in der Bewährungszeit versagt hat, desto weniger kann sich ein Vertrauen auf den Bestand der Strafaussetzung bilden. Denn umso mehr muss sich bei dem Probanden das Bewusstsein bilden, dass sich lediglich die justizförmige Abwicklung des auf jeden Fall zu erwartenden „Widerrufsverfahrens“ verzögert hat (vgl. KG, Beschluss vom 1. Februar 2006, 5 Ws 33/06, zitiert nach juris). Zudem lagen neben der Anlasstat auch das darauf bezogene erstinstanzliche Urteil und der Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung sowie die angegriffene Widerrufsentscheidung des Schwurgerichts innerhalb der Bewährungszeit, so dass bei dem Verurteilten kein Vertrauen darauf entstehen konnte, dass dies folgenlos bleiben werde.
dd) Der Verlängerung der Bewährungszeit um 2 Jahre steht § 56f Abs. 2 Satz 2 StGB, wonach in den Fällen des § 56f Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StGB die Bewährungszeit nicht um mehr als die Hälfte der zunächst bestimmten Bewährungszeit verlängert werden darf, nicht entgegen. Bei der Auslegung dieser Vorschrift ist deren Spannungsverhältnis zu § 56a Abs. 2 Satz 2 StGB zu berücksichtigen, der eine Verlängerung der Bewährungszeit schon bei Anlässen unterhalb der Widerrufsschwelle ohne zeitliche Begrenzung zulässt, soweit hierdurch das gesetzliche Höchstmaß von fünf Jahren nicht überschritten wird. Mithin gilt die in § 56 f Abs. 2 Satz 2 StGB enthaltene Beschränkung bei der Verlängerung der Bewährungszeit - unabhängig vom Wortlaut - nur, wenn die Bewährungszeit über das in § 56 a Abs. 1 StGB bestimmte Höchstmaß von fünf Jahren hinaus verlängert werden soll.
Für diese Auslegung spricht die historische Entwicklung der Normen des § 56f StGB.
Die heutige Fassung des § 56 f Abs. 2 StGB ist durch eine Abänderung der Vorschrift durch das 23. Strafrechtsänderungsgesetz vom 13. April 1986 entstanden. Bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes am 1. Mai 1986 hatte die Vorschrift die folgende Fassung: „Das Gericht sieht jedoch von dem Widerruf ab, wenn es ausreicht, die Bewährungszeit zu verlängern oder weitere Auflagen oder Weisungen zu erteilen, namentlich den Verurteilten einem Bewährungshelfer zu unterstellen (§ 56 e); das Höchstmaß der Bewährungszeit (§ 56 a Abs. 1 Satz 2) kann überschritten werden, jedoch darf in diesem Fall die Bewährungszeit nicht um mehr als die Hälfte verlängert werden.“ Dem Wortlaut der früheren Fassung des § 56 f Abs. 2 StGB war einerseits zu entnehmen, dass das Höchstmaß der Bewährungszeit nach § 56 a Abs. 1 StGB überschritten werden konnte, wenn das Gericht von dem Widerruf absieht, andererseits aber auch, dass sich die Beschränkung der Verlängerung der Bewährungszeit um nicht mehr als deren Hälfte auf gerade diesen Fall bezog. Diese Regelung sollte nach dem Regierungsentwurf des 23. Strafrechtsänderungsgesetzes unverändert bleiben (BT-Drucks. 10/2720, S. 4). Vom Bundesrat wurde jedoch vorgeschlagen, § 56 f Abs. 2 StGB wie folgt zu fassen (BT-Drucks., a.a.O., S. 21): „Das Gericht sieht jedoch von dem Widerruf ab, wenn es ausreicht, 1. weitere Auflagen oder Weisungen zu erteilen … oder 2. die Bewährungs- oder Unterstellungszeit zu verlängern. In den Fällen der Nr. 2 kann das Höchstmaß der Bewährungs- und Unterstellungszeit überschritten werden, jedoch darf die Bewährungszeit nicht um mehr als die Hälfte der zunächst bestimmten Bewährungszeit verlängert werden.“ Auch diese vorgeschlagene Regelung enthielt nach ihrem Wortlaut noch eine inhaltliche Verknüpfung zwischen dem Überschreiten des Höchstmaßes der Bewährungszeit und der Beschränkung der Verlängerung der Bewährungszeit um nicht mehr als die Hälfte der zunächst bestimmten Bewährungszeit. Der Begründung zu diesem Gesetzesvorschlag (BT-Drucks., a.a.O., S. 22) ist nicht zu entnehmen, dass insoweit eine inhaltliche Änderung der bisherigen Regelung angestrebt wurde. Erst die Beratung der Gesetzesvorlage im Rechtsausschuss des Bundestages führte zu der heutigen Fassung des § 56 f Abs. 2 Satz 2 StGB. Dabei ist aus der vom Bundesrat vorgeschlagenen Formulierung die Wortfolge „kann das Höchstmaß der Bewährungs- und Unterstellungszeit überschritten werden, jedoch“ herausgefallen (BT-Drucks. 10/4391, S. 5). Zur Begründung enthielt die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (BT-Drucks. 10/4391, S. 17) lediglich den folgenden Satz: „Die Änderung des Absatzes 2 nimmt eine Anregung des Bundesrates auf, die Vorschrift redaktionell klarer zu fassen.“ Dieser Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens macht deutlich, dass mit der Neufassung der Vorschrift deren inhaltliche Änderung, die in einer wesentlichen Beschränkung der bis dahin bestehenden Möglichkeiten zur Verlängerung der Bewährungszeit bestanden hätte, nicht beabsichtigt war. Er ist deshalb in der Folgezeit von der obergerichtlichen Rechtsprechung zum Anlass genommen worden, die jetzige Fassung des § 56 f Abs. 2 StGB im Sinne der früheren Regelung zu interpretieren (ausf. OLG Brandenburg, 2. Strafsenat, 2 Ws 107/08, abgedr. bei juris; grundlegend OLG Hamm JMBl. NW 1987, 6 f.; sich anschließend OLG Oldenburg NStZ 1988, 502 f.; OLG Schleswig SchlHA II/1988, 31; OLG Schleswig, Beschluss vom 15. Dezember 2009, 2 Ws 474/09, zit. n. juris; OLG Braunschweig StV 1989, 25; OLG Frankfurt StV 1989, 25; OLG Düsseldorf MDR 1990, 356, OLG Düsseldorf StV 1990, 118, OLG Düsseldorf MDR 1994, 931 f., OLG Düsseldorf StV 1996, 218 OLG Düsseldorf NStZ-RR 1996, 185; OLG Celle StV 1990, 117; KG Berlin JR 1993, 75 f.; OLG Hamburg NStZ-RR 1999, 330 f.; OLG Thüringen, Beschluss vom 26.08.2005 - 1 Ws 319/05 - zit. n. juris; OLG Thüringen, Beschluss 15. Januar 2010 – 1 Ws 538/09 - zit. n. juris; anders dagegen OLG Zweibrücken NStZ 1987, 328 und OLG Stuttgart NStZ 2000, 478 f., beide letztgenannten Entscheidungen jedoch ohne inhaltliche Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte der Vorschrift).
Der Senat hat sich der ganz überwiegenden Auffassung angeschlossen, dass die in § 56 f Abs. 2 Satz 2 StGB enthaltene Beschränkung nur gilt, wenn die Bewährungszeit über das in § 56a Abs. 1 StGB bestimmte Höchstmaß von 5 Jahren hinaus verlängert werden soll (vgl. statt vieler: Senatsbeschluss vom 17. Dezember 2012, 1 Ws 216/12). Es ist auszuschließen, dass der Gesetzgeber mit dem 23. Strafrechtsänderungsgesetz eine erhebliche Beschränkung der bis dahin bestehenden Möglichkeiten zur Verlängerung der Bewährungszeit hat vornehmen wollen, ohne dass dafür im Gesetzgebungsverfahren ein einziges Sachargument dokumentiert ist. Zudem entstünde ein Wertungswiderspruch, wenn nach § 56 a Abs. 1 StGB die Verlängerung der Bewährungszeit auch ohne das Vorliegen von Widerrufsgründen ohne weitere zeitliche Beschränkung bis zum dort bestimmten Höchstmaß von 5 Jahren möglich sein soll, andererseits aber zur Vermeidung eines Widerrufs - dem gewichtigeren Anlass - die einzelne Verlängerung der Bewährungszeit stets der zeitlichen Schranke des § 56 f Abs. 2 StGB unterliegen solle (vgl. Senatsbeschluss vom 17. Dezember 2012, 1 Ws 216/12).
Zu welchem „absolutem Höchstmaß“ dann aber die Begrenzung auf nicht mehr als die Hälfte „der zunächst bestimmten Bewährungszeit“ führt, braucht im vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden, da im vorliegenden Fall die in § 56a StGB normierte Höchstfrist nicht überschritten wird (vgl. dazu ausf. OLG Schleswig, Beschluss vom 15. Dezember 2009, 2 Ws 474/09; OLG Thüringen, Beschluss vom 15. Januar 2010, 1 Ws 538/09 m.w.N., jew. zit. n. juris)
ee) Die Verlängerung der Bewährungszeit beträgt 2 Jahre. Die verlängerte Bewährungsfrist beginnt unmittelbar mit dem Ende der zunächst bestimmten Frist, auch wenn diese im Zeitpunkt der Verlängerung bereits abgelaufen war (vgl. OLG Hamm NStZ-RR 2010, 127; OLG Bamberg NStZ-RR 2010, 60) und endet daher mit Ablauf des 08. Juni 2026.
Die im Bewährungsbeschluss der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Potsdam vom 31. Mai 2021 enthaltene Unterstellung des Verurteilten der Aufsicht und Leitung eines für seinen Wohnsitz zuständigen Bewährungshelfers, die Weisung, jeden Wohnungswechsel dem Gericht mitzuteilen, sowie die im Beschluss des Landgerichts Potsdam vom 18. Dezember 2023 enthaltene Konkretisierung, sich mindestens einmal monatlich bei seiner Bewährungshelferin nach deren näherer Weisung durch persönliches Erscheinen zu melden, gelten fort. Es bleibt der Kammer unbenommen, dem Verurteilten bei erneutem Suchtmittelkonsum aufzugeben, Termine bei der Suchtberatungsstelle „S...“ wahrzunehmen.
ff) Der Verurteilte wird sich jedoch bewusst sein müssen, dass er bei erneuter Begehung einer Straftat, und handele es dabei auch nur um ein Bagatelldelikt, oder bei erneutem beharrlichen Entziehen der Aufsicht und Leitung durch seine Bewährungshelferin – nach mündlicher Anhörung – mit einem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung rechnen muss.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 4 StPO und trägt dem Umstand Rechnung, dass das Rechtsmittel überwiegend Erfolg hat.