Gericht | OLG Brandenburg 1. Strafsenat | Entscheidungsdatum | 09.09.2024 | |
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Aktenzeichen | 1 Ws 119/24 (S) | ECLI | ECLI:DE:OLGBB:2024:0909.1WS119.24S.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Neuruppin wird der Eröffnungsbeschluss der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Neuruppin vom 08. Juli 2024 dahin abgeändert, dass die Anklage der Staatsanwaltschaft Neuruppin vom 28. Mai 2024 vor der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Neuruppin zugelassen und das Hauptverfahren dort eröffnet wird.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Landeskasse.
I.
Die Staatsanwaltschaft Neuruppin wirft dem Angeklagten mit ihrer Anklageschrift vom 28. Mai 2024 vor, am 15. März 2024 in Z…, gemeinschaftlich handelnd, tateinheitlich
Konkret legt die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten Folgendes zur Last:
Gemäß zuvor gefasstem Tatplan des Angeklagten mit den gesondert Verfolgten A...S... und E...F...M...W... habe W... am 15. März 2024 gegen 19:15 Uhr bei dem geschädigten Zeugen L...-M...M... angerufen und ihn unter einem Vorwand aus seiner Wohnung gelockt. Nachdem beide sich zunächst auf der Rückseite des von dem Geschädigten bewohnten Mehrfamilienhauses getroffen hätten, habe W... den Zeugen zum vorderen Hauseingang gelotst, wo der Angeklagte und der gesondert Verfolgte S... bereits gewartet hätten. Beide hätten den Geschädigten in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken angegriffen, wobei S... den Zeugen in den „Schwitzkasten“ genommen habe und sowohl er als auch der Angeklagte ihm in das Gesicht geschlagen hätten. Der Zeuge M... habe hierdurch Prellungen des rechten Jochbeins und der linken Augenbraue sowie ein Hämatom an der rechten Augenhöhle erlitten, die medikamentös hätten behandelt werden müssen.
Der gesondert Verfolgte S... habe sodann sein mitgeführtes Messer mit einer Klingenlänge von etwa fünf bis sieben Zentimetern aus seiner Hosen- oder Jackentasche gezogen und es unter Androhung entsprechender Anwendung in einer Entfernung von etwa einem Zentimeter vor den Unterbauch des Zeugen M... gehalten, um diesem zu verdeutlichen, dass er die geschuldeten 100,00 € bis zum Folgetag zu zahlen habe. Anschließend habe S... dem Geschädigten dessen Smartwatch Samsung Watch 5 im Wert von 200,00 € vom Handgelenk gerissen; dabei habe er ausgenutzt, dass sich der Geschädigte, beeindruckt von der durch die vorausgegangenen Schläge aufgebauten Drohkulisse und dadurch, dass er sich zwei Tätern gegenüber gesehen habe, von denen einer ihm ein Messer vorgehalten habe, nicht getraut habe, sich zu verteidigen.
S... habe die Smartwatch sodann dem Angeklagten übergeben. Dieser habe den Geschädigten gezwungen, die mit einer PIN gesicherte Uhr zurückzusetzen, damit der Angeklagte sie für sich verwenden konnte.
Verbrechen und Vergehen des gemeinschaftlichen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, strafbar gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Ziff. 3 und 4, 249 Abs. 1, 250 Abs. 2 Ziff. 1, 25 Abs. 2 StGB.
Die Staatsanwaltschaft Neuruppin beantragte in ihrer Anklageschrift, das Hauptverfahren vor dem Landgericht Neuruppin – große Strafkammer – zu eröffnen.
Mit Beschluss vom 08. Juli 2024 ließ die 1. große Strafkammer des Landgerichts Neuruppin die Anklage zur Hauptverhandlung zu und eröffnete gemäß § 209 Abs. 1 StPO abweichend von dem Antrag der Staatsanwaltschaft Neuruppin das Hauptverfahren gegen den Angeklagten vor dem Schöffengericht des Amtsgerichts Zehdenick. Zur Begründung führte die Kammer aus, der Angeklagte sei der ihm in der Anklageschrift zur Last gelegten Tat hinreichend verdächtig, § 203 StPO. Allerdings falle die Sache in die Zuständigkeit des Schöffengerichts bei dem Amtsgericht Zehdenick.
Zwar werfe die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten einen in Mittäterschaft begangenen besonders schweren Raub in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung vor, der gemäß §§ 250 Abs. 2, 52 Abs. 2 S. 1 StGB mit Freiheitsstrafe zwischen fünf und fünfzehn Jahren bedroht sei. Bei Würdigung aller Umstände sei allerdings nicht ernstlich mit der Anwendung des Regelstrafrahmens und, daraus resultierend, mit der Verhängung einer vier Jahre überschreitenden Freiheitsstrafe zu rechnen, die gemäß § 74 Abs. 1 S. 2 Var. 1 GVG die Zuständigkeit der großen Strafkammer bei dem Landgericht Neuruppin begründen würde. Nach Aktenlage sprächen vielmehr gewichtige Strafzumessungserwägungen von vornherein dafür, dass nicht nach dem Regelstrafrahmen, sondern nach dem eines minder schweren Falls im Sinne von § 250 Abs. 3 StGB zu bestrafen sein werde. Insoweit sei insbesondere zu berücksichtigen, dass der Angeklagte nicht vorbestraft sei und der gesondert Verfolgte S... die treibende Kraft im verfahrensgegenständlichen Geschehen gewesen sei. Der physische Tatbeitrag des Angeklagten erschöpfe sich nach vorläufiger Würdigung des bisherigen Ermittlungsergebnisses auf einen Schlag mit der Hand in das Gesicht des Geschädigten. Der Tatimpuls hinsichtlich der Verwendung des Messers und des Ansichreißens der Smartwatch dürfte von dem gesondert Verfolgten S... ausgegangen sein. Der Wert dieser Uhr sei eher gering gewesen. Zudem habe der Geschädigte durch den Einsatz des Messers offensichtlich keine und im Übrigen keine schwerwiegenden, dauerhaften Verletzungen davongetragen. Insgesamt erscheine das Tatbild im Vergleich zu durchschnittlich angeklagten Fällen des schweren Raubes deutlich von geringerem Unrechtsgehalt geprägt und die Verhängung einer so gravierenden Sanktion wie fünf Jahre Freiheitsstrafe nicht angemessen. Vielmehr dürfte von einem minder schweren Fall nach § 250 Abs. 3 StGB auszugehen sein, für den das Gesetz einen Strafrahmen von einem Jahr bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe vorsehe. Eine Straferwartung im unteren Bereich erscheine nicht abwegig, sodass nicht mit einer vier Jahre überschreitenden Freiheitsstrafe im Sinne des § 74 Abs. 1 S. 2 Var. 1 GVG zu rechnen sei.
Zugleich weise das Verfahren keinen Umfang auf, der gemäß § 74 Abs. 1 S. 2 Var. 4 GVG in Verbindung mit § 24 Abs. 1 S. 1 Ziff. 3 Var. 2 GVG eine Zuständigkeit der Kammer begründen könne.
Die sachliche Zuständigkeit innerhalb des Amtsgerichts liege beim Schöffengericht, §§ 25, 28 GVG. Örtlich zuständig sei das Schöffengericht des Amtsgerichts Zehdenick, in dessen Bezirk der mutmaßliche Tatort nach § 7 Abs. 1 StPO liege.
Der Beschluss wurde der Staatsanwaltschaft Neuruppin am 15. Juli 2024 zugestellt. Deren sofortige Beschwerde ging am 22. Juli 2024 bei dem Landgericht Neuruppin ein. Die Staatsanwaltschaft spricht sich gegen die Annahme eines minder schweren Falles aus und vertritt die Auffassung, angesichts der Strafdrohung des § 250 Abs. 2 StGB sei die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts begründet.
II.
Hängt die Zuständigkeit – wie hier – von den im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Rechtsfolgen ab, so ist die Eröffnung vor einem Gericht niederer Ordnung – hier dem Schöffengericht – nur dann gerechtfertigt, wenn die für die Strafzumessung maßgeblichen Umstände, soweit sie sich dem Gericht aus den Akten erschließen, überschlägig gegeneinander abgewogen werden und sich daraus mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Straferwartung von nicht mehr als vier Jahren ergibt (KG, Beschluss vom 05. Juni 2000 – 3 Ws 231/00 –; Senat, Beschluss vom 13. Januar 2016 – 1 Ws 195/15 –; juris).
Die Zuständigkeit richtet sich nicht abstrakt nach der Androhung des „normalen“ Strafrahmens, sondern es kommt bei der Bestimmung der Zuständigkeit nach der Strafgewalt eines Gerichtes auf die konkret zu verhängende Strafe an, wobei auch zu beachten ist, ob ein minder schwerer Fall vorliegt (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 17. Mai 1991 – 1 AR 126/90-1 – Rz. 3, juris)
Vorliegend ist die Annahme der Strafkammer, die nach § 24 Abs. 1 S. 1 Ziff. 2 GVG auf vier Jahre begrenzte Strafgewalt des Schöffengerichts sei ausreichend, bei überschlägiger Gesamtbetrachtung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände nicht gerechtfertigt. Die Erwägungen, mit denen die Strafkammer zu dem Ergebnis gelangt ist, im Fall des Schuldspruchs würde sich die Tat voraussichtlich als minder schwerer Fall im Sinne der § 250 Abs. 3 StGB erweisen, halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Für die Entscheidung, ob ein minder schwerer Fall vorliegt, ist maßgebend, ob das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der gewöhnlich vorkommenden Fälle so sehr abweicht, dass die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens geboten erscheint. Hierzu ist eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen, bei der alle Umstände einzubeziehen und zu würdigen sind, die für die Bewertung der Tat und des Täters in Betracht kommen, gleichgültig, ob sie der Tat selbst innewohnen, sie begleiten, ihr vorausgehen oder nachfolgen (BGH, Urteil vom 07. Mai 2009 – 3 StR 122/09 – Rz. 12; BGH NStZ-RR 1998, 298; BGH, Beschluss vom 23. April 1996 – 4 StR 156/96 – Rz. 5; Urteil vom 26. Juni 1991 – 3 StR 145/91 – Rz. 8; juris; BGHSt 26, 97, 98).
Hieran gemessen, lässt sich die Annahme eines minder schweren Falles bei prognostischer Würdigung nicht rechtfertigen.
Die Strafkammer hat ihre Wertung darauf gestützt, dass der Angeklagte nicht vorbestraft sei und der gesondert Verfolgte S... die „treibende Kraft“ im verfahrensgegenständlichen Geschehen gewesen sei. Der physische Tatbeitrag des Angeklagten erschöpfe sich nach vorläufiger Würdigung des bisherigen Ermittlungsergebnisses auf einen Schlag mit der Hand in das Gesicht des Geschädigten. Der Tatimpuls hinsichtlich der Verwendung des Messers und des Ansichreißens der Smartwatch dürfte von dem gesondert Verfolgten S... ausgegangen sein. Der Wert dieser Uhr sei eher gering gewesen. Zudem habe der Geschädigte durch den Einsatz des Messers offensichtlich keine und im Übrigen keine schwerwiegenden, dauerhaften Verletzungen davongetragen.
Diese Ausführungen lassen wesentliche, gegen das Vorliegen eines minder schweren Falles sprechende Umstände außer Betracht.
Zunächst festzuhalten, dass ein Körperverletzungserfolg von §§ 249, 250 StGB nicht vorausgesetzt wird, sodass den nicht schwerwiegenden Verletzungsfolgen des Geschädigten M... entgegen der Argumentation der Kammer kein besonderer Stellenwert zukommt. Im Gegenteil:
Bei der Prüfung, ob ein minder schwerer Fall im Sinne des § 250 Abs. 3 StGB vorliegt, ist auch der strafschärfende Gesichtspunkt einzubeziehen, ob die Einzeltatschuld durch eine Mehrheit von Taten erhöht worden ist. Das gilt erst recht für tateinheitlich zusammentreffende Gesetzesverletzungen (BGH, Urteil vom 12. Oktober 1988 – 3 StR 315/88 – Rz. 3; Fischer, StGB, 71. Auflage, zu § 52, Rz. 4; Rissing-van Saan in: LK, StGB, 13. Auflage, zu § 52 Rz. 53; Jäger in: SK, StGB, 10. Auflage, zu § 52, Rz. 35; v. Heintschel-Heinegg in: MüKo-StGB, zu § 52, Rz. 124 f.). Dieser strafschärfende Gesichtspunkt ist ferner in die Abwägung einzubeziehen, ob ein minder schwerer Fall vorliegt (BGH a. a. O.).
Auf der Grundlage dessen hätte die Strafkammer, statt einen minder schweren Fall des schweren Raubes auch mit dem Argument anzunehmen, die Verletzungsfolgen für den Geschädigten seien nicht schwerwiegend gewesen, strafschärfend in den Blick nehmen müssen, dass der Angeklagte nach Aktenlage tateinheitlich eine gefährliche Körperverletzung im Sinne der §§ 223, 224 Abs. 1 Ziff. 3 und 4 StGB verwirklicht hat.
Hinzu tritt die erhebliche kriminelle Energie, mit der die Täter den Geschädigten geradezu hinterlistig aus dem Haus gelockt haben. Auch kann auf der Grundlage des Akteninhalts nicht abschließend beurteilt werden, ob tatsächlich nicht der Angeklagte, sondern der gesondert Verfolgte S... die „treibende Kraft“ hinter dem Tatgeschehen war. Immerhin hat nicht S..., sondern der Angeklagte gemäß der Anklageschrift die Tatbeute in Gestalt der Smartwatch für sich behalten.
Insgesamt ist ein minder schwerer Fall derzeit nicht mit einer Sicherheit anzunehmen, die es erlaubt, das Verfahren einem Spruchkörper zuzuweisen, dessen Strafgewalt bei Verneinung eines minder schweren Falles nicht ausreicht. Die Auffassung der Strafkammer, der Angeklagte habe im Fall seiner Verurteilung sicher keine höhere als eine vierjährige Freiheitsstrafe zu erwarten, geht fehl.
Anlass, von der Regelung des § 210 Abs. 3 StPO Gebrauch zu machen und die Anklage vor einer anderen Strafkammer des Landgerichts Neuruppin zur Hauptverhandlung zuzulassen, besteht nicht.
III.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Landeskasse zu tragen, weil sonst niemand dafür haftet (BGHSt 14, 391, 393; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Auflage, zu § 464, Rz. 2 und zu § 473, Rz. 2).