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Familiennachzug, subsidiär Schutzberechtigte, Nachzug minderjährigen Kindes, maßgeblicher Zeitpunkt, humanitärer Grund, sonstiger (unbenannter) Grund, Ermessen, Ausfall, Integrationsleistungen


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg Der 3. Senat Entscheidungsdatum 05.12.2023
Aktenzeichen 3 B 38/23 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2024:1205.3B38.23.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen 36a Abs. 1; 36a Abs. 2 Satz 1 AufenthG

Tenor

Die Berufung der Beigeladenen gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 9. März 2023 wird zurückgewiesen.

Die Beigeladene trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beigeladene darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 vom Hundert des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in Höhe von 110 vom Hundert des aus diesem Urteil vollstreckbaren Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der am 1. März 2003 geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger und lebt in D____. Er erstrebt die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug zu seiner Mutter, Frau V_____, der mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 28. November 2019 der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden war.

Die Mutter des Klägers war am 14. Oktober 2019 nach Deutschland eingereist mit einem Visum zur Familienzusammenführung mit ihrem Sohn F_____, geb. am 1. Januar 2002, dem mit Bescheid des BAMF vom 2. November 2016 der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden war. Zusammen mit dem Antrag der Mutter gestellte Visumanträge des Klägers und seiner Geschwister waren durch Bescheide der Botschaft im Oktober 2019 bestandskräftig abgelehnt worden. Am 19. Dezember 2019 bestätigte die Beklagte den Eingang fristwahrender Anzeigen nach § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG für den Kläger und drei jüngere Geschwister. Mit Schreiben vom 19. Februar 2021, der Botschaft der Beklagten in Beirut am selben Tag per E-Mail übermittelt, bezog sich die Prozessbevollmächtigte des Klägers auf die in Kopie beigefügten fristwahrenden Anzeigen und erklärte, aus ihrer Sicht sei damit ein gültiger Antrag auf Erteilung eines Visums zu der in Deutschland anerkannten Schutzberechtigten Frau V_____ (der Mutter des Klägers) bereits gestellt, über den noch nicht entschieden worden sei. Es werde um weitere Prüfung und um kurzfristige Mitteilung gebeten, da der Kläger am 6_____ das 18. Lebensjahr vollenden werde. Die Botschaft antwortete hierauf mit E-Mail vom 22. Februar 2021, das erste Visumverfahren sei am 8. Oktober 2019 abgeschlossen worden, neue Visumanträge der Kinder seien bislang nicht zu verzeichnen. Da bereits eine erneute Terminregistrierung bei IOM erfolgt sei, werde IOM mit der Familie Kontakt aufnehmen, sobald neue Visumsanträge abgegeben werden könnten. Die fristwahrende Anzeige für den Kläger könne, da sie der Botschaft vor Eintritt der Volljährigkeit zugegangen sei, zur Wahrung der Altersgrenze für den Kindernachzug herangezogen werden. Die E-Mail werde aufbewahrt, die Botschaft empfehle dennoch, sie im Rahmen der persönlichen Antragstellung bei IOM ebenfalls einzureichen.

Der Kläger stellte, gemeinsam mit seinen Geschwistern, am 25. Mai 2021 in der Botschaft Beirut einen förmlichen Visumantrag. In zwei gesonderten Schreiben erklärte er, dass er seinen früheren, abgelehnten Antrag auf Familienzusammenführung (BC59207) zurückziehe, auf eine Remonstration verzichte „und einen neuen Antrag auf Familienzusammenführung stellen möchte“. In der Befragung durch IOM erklärte der Kläger unter anderem, vor dem Krieg habe er mit seinem Vater, seiner Mutter und Stiefmutter sowie elf Geschwistern in ihrem Haus in D____ gelebt. Im Sommer 2014 sei die Gegend von ISIS besetzt und das Haus während eines Luftangriffs beschädigt worden. Damals sei sein älterer Bruder R_____ irregulär nach Deutschland gereist, um den Militärdienst zu vermeiden. Die anderen Familienmitglieder hätten nicht die Mittel gehabt, die Reise zu finanzieren. Seine Stiefmutter sei mit ihren Kindern in das Haus ihrer Schwester in D____ umgezogen, während er mit seinen Eltern und Geschwistern für drei Monate in der Wüste in A____ hätten leben müssen, bis sich die Situation in D____ stabilisiert habe und sie Anfang 2015 wieder in ihr Haus hätten zurückkehren können. Ende 2015 sei der ganzen Familie klar geworden, dass das Leben in Syrien nicht mehr sicher sei. Deshalb hätten seine Eltern entschieden, seinen Bruder F_____ nach Deutschland zu schicken. Wiederum hätten alle anderen bleiben müssen, weil sie die Reise nicht hätten finanzieren können. Seine Mutter, er und seine Geschwister hätten dann am 9. Juli 2019 Anträge auf Familienzusammenführung gestellt, die nur für seine Mutter bewilligt worden sei. Sein Vater habe keinen Antrag stellen wollen, weil er sich um seine zweite Frau und ihre Kinder kümmern müsse. Der Kläger und seine Geschwister lebten weiterhin zusammen mit ihrem Vater in D____. Sie könnten nicht zur Schule gehen, weil alle Schulen in der Region geschlossen seien. Finanziert werde die Familie durch ihn und den Vater. Der Kläger arbeite fünf Tage in der Woche in einem Fahrradgeschäft, dessen Inhaber ihn nicht gut behandele, sondern ihn ständig beleidige.

Die Botschaft leitete den Antrag zunächst mit dem Hinweis an die Beigeladene weiter, das Einreisebegehren richte sich nach § 36 Abs. 2 AufenthG. Die Beigeladene nahm am 13. Oktober 2021 Stellung und stimmte der Visumerteilung nicht zu, weil der Kläger bereits am 6_____ volljährig geworden und damit § 36a AufenthG nicht mehr anwendbar sei. Eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG sei nicht gegeben. Im Übrigen sei der Lebensunterhalt nicht gesichert und lägen nur wenige Integrationsleistungen der Mutter des Klägers vor. Ausreichender Wohnraum für die gesamte, aus sechs Personen bestehende Familie sei ebenfalls nicht nachgewiesen.

Daraufhin wandte sich die Botschaft Beirut mit E-Mail vom 14. Oktober 2021 an die Beigeladene und teilte - unter Beifügung des Schreibens der Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 19. Februar 2021 - mit, bei nochmaligem Durchsuchen des E-Mail-Postfachs sei dort ein formloser fristwahrender Antrag gefunden worden, der die Minderjährigkeit des mittlerweile volljährigen Antragstellers über den Zeitpunkt der Antragstellung hinaus bewahre. Nach Ansicht der Botschaft lägen somit alle Voraussetzungen für einen Familiennachzug vor, es werde um erneute Prüfung und abschließenden Stellungnahme gebeten. Die Beigeladene verwies auf ihre ablehnende Stellungnahme vom 13. Oktober 2021. Die Sachlage habe sich nicht geändert. Daraufhin bat die Botschaft mit weiterer E-Mail vom 26. Oktober 2021 „noch einmal eindringlich um erneute Prüfung“. Da die Beigeladene bei ihrer Ablehnung blieb, lehnte die Botschaft mit Bescheid vom 11. November 2021 die Visumerteilung an den Kläger ab, weil die zuständige innerdeutsche Ausländerbehörde ihre nach § 31 Abs. 1 AufenthV erforderliche Zustimmung verweigert habe. Auf die Remonstration des Klägers hin lehnte die Botschaft den Visumantrag mit - den Bescheid vom 11. November 2021 ersetzendem - Remonstrationsbescheid vom 30. November 2021 erneut ab. Der Tatbestand des § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG sei nach Ansicht der Botschaft erfüllt, jedoch habe die zuständige innerdeutsche Ausländerbehörde im Remonstrationsverfahren die erforderliche Zustimmung zur Visumerteilung verweigert.

Daraufhin hat der Kläger am 28. Dezember 2021 Klage erhoben, zu deren Begründung er im Wesentlichen geltend gemacht hat, zum Zeitpunkt der fristwahrenden Anzeige am 19. Dezember 2019 sei er noch nicht volljährig gewesen, und die Botschaft in Beirut habe ihm mit E-Mail vom 22. Februar 2021 bestätigt, dass die fristwahrende Anzeige zur Wahrung der Altersgrenze für den Kindernachzug herangezogen werden könne. Auf Sprachkenntnisse komme es nicht an, weil § 32 Abs. 2 AufenthG hier keine Anwendung finde. Sein Vater lebe zwar nach wie vor in Syrien, kümmere sich aber nicht um den Kläger, sondern lebe bei seiner neuen Familie.

Die Beklagte hat im Klageverfahren keinen eigenen Antrag gestellt. Sie hat an ihrer Rechtsauffassung festgehalten, der Kläger habe durch die E-Mail seiner Rechtsanwältin vom 19. Februar 2021, die im Zusammenhang mit der fristwahrenden Anzeige vom 19. Dezember 2019 alle wesentlichen Angaben enthalten habe, einen formlosen Antrag auf Nachzug zur Mutter gestellt, der durch die persönliche Vorsprache am 25. Mai 2021 nur noch vervollständigt worden sei. Bei Erreichen der Altersgrenze hätten die Voraussetzungen für den Kindernachzug vorgelegen. Erwägungen zu Integrationsaspekten, die die Beigeladene hier angestellt habe, würden im Rahmen der Auswahlentscheidung des Bundesverwaltungsamts berücksichtigt; der Ermessensspielraum der Beklagten und der Beigeladenen auf der vorherigen Stufe des Verfahrens sei deutlich eingeschränkt.

Die Beigeladene hat an ihrer Auffassung festgehalten, der Visumantrag sei bei ihr erst mit Eingang des Formblattantrages am 17. Juni 2021 gestellt worden. Eine Vorverlagerung auf den Zeitpunkt der Terminbuchung bzw. der fristwahrenden Anzeige komme nicht in Betracht. Humanitäre Gründe im Sinne des § 36a Abs. 2 AufenthG seien nicht gegeben. Der Kläger sei jedenfalls zum Zeitpunkt der Vervollständigung seines Visumantrags volljährig gewesen. Er lebe gemeinsam mit seinem Vater und weiteren Geschwistern in Syrien, habe einen Job und sei nicht auf sich alleine gestellt. Die Trennung zwischen dem Kläger und seiner Mutter sei auf eine freiwillige Migrationsentscheidung zurückzuführen und habe bis zum Zeitpunkt der Antragstellung nur 16 Monate betragen. Bei den im Rahmen der Entscheidung nach § 36a AufenthG ebenfalls zu berücksichtigenden Integrationsaspekten sei festzuhalten, dass die Mutter des Klägers vollständig Leistungen vom Jobcenter zur Sicherung des Lebensunterhalts erhalte und der Integrationskurs nach wie vor nicht beendet sei. Beim Kläger selbst lägen derartige Integrationsaspekte ebenfalls nicht vor. Die Beigeladene habe indessen nur das Vorliegen der humanitären Gründe im Wege des eingeschränkten Ermessens geprüft; Integrationsaspekte seien für die Ablehnungsentscheidung nicht tragend gewesen.

Das Verwaltungsgericht hat in der mündlichen Verhandlung am 9. März 2023 die Mutter des Klägers zur Frage der aktuellen Situation der Familie in Deutschland bzw. Syrien als Zeugin vernommen sowie die beiden in Deutschland lebenden Brüder F_____ und R_____ des Klägers informatorisch befragt. Wegen der Einzelheiten wird auf das Sitzungsprotokoll vom 9. März 2023 Bezug genommen.

Mit Urteil vom 9. März 2023 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides der Botschaft in Beirut vom 30. November 2021 verpflichtet, den Visumantrag des Klägers bei der Auswahlentscheidung nach § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu berücksichtigen, und die Klage im Übrigen abgewiesen. Der Visumantrag beurteile sich nach § 36a Abs. 1 Satz 1, 2. Alt. AufenthG, weil der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der - hier formlos mit dem Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten vom 19. Februar 2021 erfolgten - Antragstellung noch minderjährig gewesen sei. Für den Kläger streite der humanitäre Grund des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG. Da er im militärdienstpflichtigen Alter sei und nach wie vor in Syrien und dort im Gouvernement D____ lebe, seien nach den aktuellen Erkenntnissen alleine aufgrund seiner Anwesenheit dort sein Leib, sein Leben und seine Freiheit ernsthaft gefährdet. Die Verweigerung der nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthV erforderlichen Zustimmung durch die Beigeladene sei ermessensfehlerhaft, weil sie § 36a AufenthG zu Unrecht für nicht anwendbar halte. Unter Berücksichtigung der Integrationsbemühungen seiner Mutter und vor allem seiner Geschwister sei die erfolgreiche Integration des Klägers zu erwarten, so dass das Ermessen rechtmäßig nur im Sinne einer Zustimmung zur Visumerteilung ausgeübt werden könne. Eine Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung des Visums komme dennoch nicht in Betracht, weil das Gericht die vom Bundesverwaltungsamt zu treffende Auswahlentscheidung nicht an Stelle der Beklagten vornehmen könne. Ein Visumanspruch nach § 36 Abs. 2 AufenthG oder § 22 AufenthG sei nicht gegeben.

Die Beigeladene hat die vom Verwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassene Berufung eingelegt. Sie hält an ihrer Rechtsauffassung fest, dass der Kläger sich nicht mit Erfolg auf § 36a AufenthG berufen könne, weil der Visumantrag erst am 25. Mai 2021 und damit nach der Volljährigkeit des Klägers gestellt worden sei. Der Fristwahrungsanzeige sei für einen Visumantrag nicht ausreichend. Eine Antragstellung am 19. Dezember 2019, auf die sich die bevollmächtigte Rechtsanwältin in ihrer E-Mail vom 19. Februar 2021 beziehe, sei aktenkundig nicht erfolgt. Selbst wenn man diese E-Mail als ausreichende Antragstellung gelten lasse, fehle es an den weiteren Erteilungsvoraussetzungen gemäß § 36a AufenthG. Humanitäre Gründe lägen nicht vor. Eine lange Trennungszeit von mehr als vier Jahren sei weder bei Eintritt der Volljährigkeit des Klägers noch zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Klage abgelaufen, denn die Mutter des Klägers sei erst im Oktober 2019 nach Deutschland eingereist. Der Kläger mache auch keinerlei Gründe zum Nachweis einer Gefährdung von Leib, Leben oder Freiheit geltend. Hierfür reiche eine abstrakte Gefahr nicht aus, sondern bedürfe es einer konkreten Gefahr im Sinne des Polizeirechts. Der Kläger gehe einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nach und lebe mit seinem Vater und weiteren Verwandten nach wie vor im selben Dorf zusammen. Die mögliche Einziehung zur allgemeinen Wehrpflicht erfülle das Tatbestandsmerkmal humanitärer Gründe nicht, weil es insoweit nicht um ein singuläres Einzelschicksal gehe. Eine aktuelle Einberufung zum Wehrdienst liege nicht vor. Der Bericht von EASO, Leitfaden Syrien (Stand: November 2021), auf den das Verwaltungsgericht sich berufe, sei beinahe zwei Jahre alt und damit überholt. Eine Heranziehung von § 4 AsylG sei unzulässig. Anderenfalls hätte der Gesetzgeber dies durch einen Verweis oder eine eindeutige Regelung klargestellt. Ihre Entscheidung, die Zustimmung zur Visumerteilung zu verweigern, sei auch nicht ermessensfehlerhaft gewesen. Soweit nunmehr festgestellt werde, dass der Kläger zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt tatsächlich minderjährig gewesen sei, sei sie berechtigt, Ermessenserwägungen auch noch im Berufungsverfahren nachzuschieben, und behalte sich weitere Ermessensausübung vor. Insoweit gelte weiterhin, dass der Kläger keinerlei Gründe angegeben habe, die eine konkrete und ernsthafte Gefährdung von Leib, Leben oder Freiheit erkennen ließen.

Die Beigeladene hat schriftsätzlich beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 9. März 2022 (VG 38 K 919/21 V) aufzuheben, soweit die Beklagte darin unter Aufhebung des Bescheides der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Beirut vom 30. November 2021 verpflichtet wurde, den Visumantrag des Klägers bei der Auswahlentscheidung nach § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu berücksichtigen, sowie die Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland vom 28. Dezember 2021 auf Erteilung eines Visums zum Zwecke der Familienzuführung abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angegriffene Urteil.

Die Beklagte stellt keinen Antrag. Sie erklärt, aus ihrer Sicht seien sowohl die Minderjährigkeit des Klägers bei Antragstellung als auch die Voraussetzungen des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG gegeben.

Die Aufenthaltserlaubnis der Mutter des Klägers gemäß § 25 Abs. 2 AufenthG ist bis zum 11. September 2025 verlängert worden. Sie besucht seit dem 21. Juli 2023 als Wiederholerin einen Integrationskurs mit Alphabetisierung, der voraussichtlich bis zum 5. Februar 2024 stattfinden wird. Sein älterer Bruder R_____ hat die deutsche Staatsangehörigkeit erworben und ist nach Angaben des Klägers als Elektrofachhelfer unbefristet beschäftigt; der Bruder F_____ hat im Juli 2021 die Fachhochschulreife erworben und studiert seit Oktober 2021 Bauingenieurswesen. Die 2004 geborene Schwester R_____ hat den Deutschtest für Zuwanderer im Juli 2023 mit dem Gesamtergebnis B1 bestanden, die jüngeren Geschwister besuchen die Schule. Der Kläger hat im Berufungsverfahren eine Ablichtung seines bis zum 23. Oktober 2025 gültigen Reisepasses vorgelegt. Nach seinen Angaben hat er das Abitur bestanden und studiert seit November 2023 Krankenpflege. Militärdienst habe er nicht geleistet; dieser sei wegen seines Studiums aufgeschoben worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte (zwei Bände), des beigezogenen Visumvorgangs der Beklagten und der Verwaltungsvorgänge der Beigeladenen Bezug genommen, die vorliegen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung waren.

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte über die Berufung der Beigeladenen trotz ihres Ausbleibens in der mündlichen Verhandlung entscheiden, weil sie rechtzeitig unter Hinweis darauf geladen worden ist, dass bei ihrem Ausbleiben auch ohne sie verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Die Berufung ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Recht in der Weise stattgegeben, dass es die Beklagte verpflichtet hat, den Visumantrag des Klägers bei der Auswahlentscheidung nach § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu berücksichtigen. Die ablehnende Entscheidung der Beklagten in ihrem Remonstrationsbescheid vom 30. November 2021 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 2022 - 1 C 8.21 - juris Rn. 8; Urteil vom 17. Dezember 2020 - 1 C 30.19 - juris Rn. 10; Urteil vom 17. Dezember 2015 - 1 C 31.14 - juris Rn. 9) einen Anspruch auf Berücksichtigung seines Visumantrags in dem auf monatlich 1.000 nationale Visa begrenzten Kontingent nach § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG.

Der Kläger gehört zu dem anspruchsberechtigten Personenkreis des § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Nach § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann dem Ehegatten oder dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 zweite Alternative besitzt, aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Die Mutter des Klägers, Frau V_____, ist infolge der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus durch Bescheid des BAMF vom 28. November 2019 Inhaberin einer bis zum 11. September 2025 gültigen Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. An dem Verwandtschaftsverhältnis, zu dessen Beleg der Kläger im Visumverfahren seine Geburtsurkunde sowie einen Auszug aus dem Familienregister vorgelegt hat, hat keiner der Beteiligten Zweifel geäußert.

Der Kläger ist als minderjähriges Kind im Sinne des § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG anzusehen, obwohl er seit dem 1. März 2021 volljährig ist. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass die zum Kindernachzug nach § 32 AufenthG entwickelten Grundsätze auch für den Kindernachzug zum subsidiär schutzberechtigten Elternteil nach § 36a AufenthG gelten. Es kommt daher maßgeblich darauf an, ob die betreffende Person zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährig war. Die übrigen Voraussetzungen für den Kindernachzug müssen spätestens auch im Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze und zudem der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz gegeben sein, so dass alle Voraussetzungen wenigstens einmal zeitgleich erfüllt sein müssen. Bei Anspruchsgrundlagen, die eine Altersgrenze enthalten, die der Betroffene im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Verhandlung oder Entscheidung überschritten hat, ist mithin eine auf zwei unterschiedliche Zeitpunkte bezogene Doppelprüfung erforderlich (BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 2022 - 1 C 8.21 - juris Rn. 9).

Die Beklagte und das Verwaltungsgericht haben zu Recht angenommen, dass der Kläger seinen Visumantrag nicht erst bei der persönlichen Vorsprache in der Botschaft Beirut am 25. Mai 2021 gestellt hat, sondern schon vor Erreichen der Volljährigkeit.

Allerdings hat der Senat mehrfach entschieden, dass die sog. fristwahrende Anzeige, die hier am 19. Dezember 2019 erfolgt ist, ebenso wenig einen Visumantrag darstellt wie die bloße Registrierung eines Terminwunschs zur Antragstellung in der Botschaft (vgl. nur OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. Januar 2022 - OVG 3 S 87/21 - juris Rn 15 ff., 20). Ob diese Rechtsprechung im Hinblick auf mit Angaben zur Behördenpraxis verbundene Kritik (vgl. Müller/Ronte/Ujkašević, ZAR 2023, 68 ff.) zu überdenken ist, bedarf hier nicht der Entscheidung. Der Senat hat nämlich stets betont, dass die Stellung eines Visumantrags grundsätzlich auch formlos möglich ist, etwa durch ein Schreiben an die (zuständige) Botschaft, wenn aus diesem hinreichend deutlich hervorgeht, dass die Erteilung eines Visums beantragt wird (s. nur OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. Januar 2022 - OVG 3 S 87/21 - juris Rn 19, Beschluss vom 20. Januar 2021 - OVG 3 M 154/20 - juris Rn. 9). Hier hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers mit ihrem Schreiben vom 19. Februar 2021, der Botschaft Beirut am selben Tag per E-Mail übermittelt, erklärt, „die Familie“ (darunter der Kläger) habe unter dem 19. Dezember 2019 erneut einen Antrag auf Erteilung eines Visums zum Zwecke der Familienzusammenführung gestellt, nunmehr zu der in Deutschland anerkannten Schutzberechtigten Frau V_____, geb. am 6_____. Die fristwahrende Anzeige werde beigefügt. Über diesen Antrag sei bisher nicht entschieden worden. Unabhängig von der Richtigkeit der dem zu Grunde liegenden Wertung, mit der fristwahrenden Anzeige sei bereits ein Antrag gestellt worden, lässt sich diesem an die Botschaft gerichteten Schreiben selbst mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, dass die Personen, für die die fristwahrende Anzeige abgegeben wurde, den Familiennachzug zu ihrer namentlich (und unter Angabe ihres Geburtsdatums) bezeichneten, subsidiär schutzberechtigten Mutter, und zu diesem Zweck die Erteilung eines Visums erstreben. Die Beklagte nimmt daher zu Recht an, dass mit Eingang dieses Schreibens der Rechtsanwältin bei der Botschaft (in Verbindung mit den beigefügten fristwahrenden Anzeigen) am 19. Februar 2021, als der Kläger noch minderjährig war, ein formloser Visumantrag gestellt worden ist. Dementsprechend hatte sie der Rechtsanwältin schon in ihrer E-Mail vom 22. Februar 2021 mitgeteilt, die fristwahrende Anzeige könne zur Wahrung der Altersgrenze für den Kindernachzug herangezogen werden. Der Antrag ist später im Rahmen der persönlichen Vorsprache auch nicht zurückgenommen worden; die abgegebenen Erklärungen, den früheren Visumantrag zurückzuziehen und einen neuen Antrag stellen zu wollen, beziehen sich allein auf die im Juli 2019 gestellten Anträge auf Nachzug zum damals noch nicht volljährigen Bruder F_____ zusammen mit der Mutter, nicht auf den späteren formlosen Antrag.

Dem Kläger steht ein humanitärer Grund im Sinne des § 36a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG zur Seite. § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG knüpft die Möglichkeit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an die dort genannten Familienmitglieder eines subsidiär Schutzberechtigten an das Vorliegen humanitärer Gründe. Es handelt sich um Tatbestandsvoraussetzungen, die den Kreis der Nachzugsberechtigten dem Grunde nach festlegen und begrenzen (vgl. Zeitler, HTK-AuslR, § 36a AufenthG - zu Abs. 1 - Rn. 45, 47; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 36a AufenthG Rn. 39, 94; ebenso wohl Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Januar 2024, § 36a AufenthG Rn. 67, anders Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 36a AufenthG Rn. 10), und die als unbestimmter Rechtsbegriff der vollen rechtlichen Überprüfung unterliegen (so Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 36a AufenthG Rn. 23). Nach § 36a Abs. 2 AufenthG liegen humanitäre Gründe im Sinne dieser Vorschrift insbesondere vor, wenn einer der in den nachfolgenden Nummern 1 bis 4 aufgeführten Fälle gegeben ist (Satz 1). Monatlich können 1.000 nationale Visa für eine Aufenthaltserlaubnis nach Absatz 1 Satz 1 und 2 erteilt werden (Satz 2). Das Kindeswohl ist besonders zu berücksichtigen (Satz 3) und bei Vorliegen von humanitären Gründen sind Integrationsaspekte besonders zu berücksichtigen (Satz 4).

Ein humanitärer Grund im Sinne des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ist allerdings nicht gegeben. Das würde voraussetzen, dass die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft mit dem subsidiär Schutzberechtigten seit langer Zeit nicht möglich ist. Unabhängig davon, ob man für den Beginn der Trennungszeit auf die Stellung des Asylantrags durch die subsidiär schutzberechtigte Person abstellt (so die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 19/2438 S. 22; ebenso Zeitler, HTK-AuslR, § 36a AufenthG - zu Abs. 2 Satz 1 - Rn. 16; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 36a AufenthG Rn. 47; Hailbronner, Ausländerrecht, § 36a AufenthG Rn. 81), oder auf das ihrer Trennung von den Familienangehörigen, hier spätestens mit der Einreise nach Deutschland am 14. Oktober 2019, waren bei Eintritt der Volljährigkeit des Klägers weniger als anderthalb Jahre und damit noch kein sehr erheblicher Zeitraum vergangen. Darauf, dass die Trennung im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat schon seit mehr als vier Jahren andauert, kommt es angesichts der eingetretenen Volljährigkeit und der deshalb vorzunehmenden, auf diesen Zeitpunkt bezogenen Doppelprüfung nicht an.

Es kann dahinstehen, ob ein humanitärer Grund im Sinne des § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG gegeben ist, der vorliegt, wenn ein minderjähriges lediges Kind betroffen ist. Der Kläger ist zum jetzigen Zeitpunkt - wie schon bei der Entscheidung der Beklagten über den Visumantrag - nicht mehr minderjährig. Es mag einiges dafür sprechen, für das Vorliegen eines humanitären Grundes nach § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ebenso auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen wie für § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Darauf kommt es indessen nicht entscheidungserheblich an, weil ein humanitärer Grund nach § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG und auf Grund der besonderen Umstände des Einzelfalls jedenfalls ein unbenannter humanitärer Grund im Sinne des § 36a Abs. 2 Satz 1 AufenthG gegeben ist.

Nach § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG liegen humanitäre Gründe im Sinne der Vorschrift insbesondere dann vor, wenn Leib, Leben und Freiheit des nach § 36a Abs. 1 nachzugsberechtigten Familienangehörigen im Aufenthaltsstaat ernsthaft gefährdet sind. Mit dem Erfordernis einer konkreten Gefahr für eines der genannten Rechtsgüter trägt der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung, dass der subsidiäre Schutzstatus dem Grunde nach vorübergehend ist und nicht nur aus Gründen gewährt werden kann, die - wie im Falle Syriens - große Teile der Bevölkerung betreffen, sondern auch aus allein in der einzelnen Person liegenden Gründen. Daher bedarf es für die Annahme eines humanitären Grundes der Feststellung, dass auch der Nachzugswillige selbst einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt ist, und zwar in seinem Aufenthaltsstaat, der mit dem Herkunftsstaat des subsidiär schutzberechtigten Familienangehörigen nicht identisch sein muss.

Der Kläger hält sich in Syrien auf, seinem Herkunftsstaat und dem seiner Mutter, der mit Bescheid vom 28. November 2019 der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist. Es entspricht seit etwa zwölf Jahren der gerichtsbekannten Praxis des BAMF, syrischen Staatsangehörigen, die in Deutschland einen Antrag auf Flüchtlingsschutz stellen, jedenfalls den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, der nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG an das Bestehen stichhaltiger Gründe für die Annahme eines im Herkunftsland drohenden ernsthaften Schadens im Sinne des Satzes 2 anknüpft, etwa der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Ein Ende dieser Praxis, für syrische Staatsangehörige generell die Gefahr einer ernsthaften Bedrohung ihres Lebens oder Unversehrtheit anzunehmen, wie auch im Fall des Bruders des Klägers F_____ mit Bescheid vom 2. November 2016 geschehen, ist nicht absehbar. Es stünde im Widerspruch zu dieser langjährigen und andauernden Verfahrensweise der Beklagten, einen humanitären Grund für den Nachzug eines noch im Herkunftsstaat aufhältlichen Familienangehörigen mit der Begründung zu verneinen, er sei keiner ernsthaften Gefährdung von Leib, Leben oder Freiheit im Sinne von § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ausgesetzt. Unabhängig von diesen Erwägungen ergibt sich auch aus dem vom Verwaltungsgericht angeführten EUAA-Bericht von Februar 2023 (EUAA, Country Guidance: Syria, Februar 2023, S. 39), dass in Gouvernement D____, aus dem der Kläger stammt und wo er sich weiterhin aufhält, ein so hoher Grad willkürlicher Gewalt besteht, dass eine in das Gebiet zurückkehrenden Zivilperson allein wegen ihrer Anwesenheit einer ernsthaften Gefahr (real risk) im Sinne des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95/EU ausgesetzt wäre. Für den Kläger als jungen Mann im wehrdienstfähigen Alter wäre die Gefahr eher noch höher. Soweit die Beigeladene im Berufungsverfahren die vom Verwaltungsgericht angeführten Erkenntnisse für zeitlich überholt hält, ist nicht zu erkennen, warum das für den weniger als ein Jahr alten Bericht von Februar 2023 gelten sollte, mit dem sie sich inhaltlich nicht auseinandergesetzt hat. Für die Annahme der Beigeladenen, es bedürfe für einen humanitären Grund im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG einer konkreten Gefahr im Sinne des Polizeirechts, fehlt es an jeglichem Anhaltspunkt im Wortlaut der Norm oder der Begründung des Gesetzentwurfs; vielmehr spricht alles für eine Parallele zu den Kriterien für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 36a AufenthG Rn. 92; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 36a AufenthG Rn. 67; Marx, in: GK-AufenthG, § 36a Rn. 43 f.).

Unabhängig davon ist jedenfalls unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ein sonstiger - unbenannter - humanitärer Grund im Sinne des § 36a Abs. 2 Satz 1 AufenthG gegeben. Dessen Formulierung „Humanitäre Gründe im Sinne dieser Vorschrift liegen insbesondere vor, wenn“ einer der anschließend unter Nummern 1 bis 4 aufgeführten Gründe gegeben ist, zeigt, dass diese Aufzählung nicht abschließend, sondern offen für die Annahme unbenannter humanitärer Gründe auf der Grundlage einer Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls ist. Daran gemessen sind hier humanitäre Gründe gegeben. Auch wenn der Kläger zum grundsätzlich maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht mehr minderjährig im Sinne von § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG und der formlose Visumantrag nur wenige Wochen vor Erreichen der Volljährigkeit gestellt worden ist, gilt es zu berücksichtigen, dass er sich bereits seit langer Zeit um die Einreise zusammen mit seiner Mutter bemüht hat. Mit ihr gemeinsam hatte er schon im Juli 2019, im Alter von 16 Jahren, einen Visumantrag gestellt, der abgelehnt worden war, weil ein Geschwisternachzug zu seinem in Deutschland lebenden subsidiär schutzberechtigten Bruder F_____ nicht möglich war und ein Kindernachzug gemeinsam mit der Mutter nach § 32 AufenthG an der fehlenden Sicherung des Lebensunterhalts scheiterte, so lange sie nicht ihrerseits als subsidiär schutzberechtigt anerkannt worden war. Nachdem die Mutter in Deutschland umgehend einen entsprechenden Schutzantrag gestellt hatte und ihr Ende November 2021 der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden war, hat der Kläger sich, wie aus der fristwahrenden Anzeige im Dezember 2019 zu erkennen ist, umgehend erneut um die Erteilung eines Visums bemüht, konnte allerdings den förmlichen Antrag erst im Mai 2021 stellen. Diese lange Zeit konsequent verfolgten Bemühungen des anfangs noch sechzehnjährigen Klägers um Familiennachzug, in Verbindung mit der allgemeinen Gefahrensituation im Herkunftsstaat und insbesondere im Gouvernement D____, wo der Kläger lebt, und der durch das nach seinen Angaben kürzlich begonnene Studium der Krankenpflege zwar vorübergehend verringerten, aber nicht ausgeschlossenen Gefahr einer Einziehung zum Wehrdienst rechtfertigen in der Gesamtschau die Annahme eines sonstigen, dem Gewicht der in § 36a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ausdrücklich aufgeführten Gründe entsprechenden humanitären Grunds für die Erteilung des beantragten Visums zum Familiennachzug zur Mutter.

Auf die Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) kommt es ebenso wenig an wie auf das Vorhandensein ausreichenden Wohnraums (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Das ergibt sich nicht aus § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG, der die Nichtanwendbarkeit dieser Bestimmungen für den Fall des Nachzugs der Eltern zu einem subsidiär schutzberechtigten, eine Aufenthaltserlaubnis nach § 5 Abs. 2 Satz 1 zweite Alternative besitzenden minderjährigen Ausländer regelt, sondern schon aus § 29 Abs. 2 AufenthG (vgl. BT-Drs.19/2438 S. 22). Danach kann bei dem Ehegatten und dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, der (unter anderem) eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder 2 besitzt, von den Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 und des Abs. 1 Nr. 2 abgesehen werden (Satz 1), und ist davon abzusehen, wenn die in Satz 2 geregelten Voraussetzungen erfüllt werden, wobei § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG, der eine Dreimonatsfrist für die Stellung des Nachzugsantrags regelt, gemäß § 36a Abs. 5 AufenthG keine Anwendung findet. Daraus folgt, dass weder die Sicherung des Lebensunterhalts noch ausreichender Wohnraum erforderlich ist, wenn nicht die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in einem Drittstaat im Sinne des § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AufenthG, zu dem der Ausländer und seine Familienangehörigen eine besondere Bindung haben, möglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2020 - 1 C 30.19 - juris Rn. 45). Das ist hier nicht der Fall. Der Kläger hält sich in Syrien auf und seiner subsidiär schutzberechtigten Mutter kann die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft dort nicht zugemutet werden. Eine besondere Bindung an einen anderen Drittstaat ist nicht erkennbar.

Die Passpflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) ist erfüllt. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat mit Schriftsatz vom 30. November 2023 Kopien seines bis zum 23. Oktober 2025 gültigen syrischen Reisepasses vorgelegt. Regelausschlussgründe im Sinne des § 36a Abs. 3 AufenthG sind nicht gegeben.

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis steht nach § 36a Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 AufenthG im Ermessen. Zuständig für die Erteilung des beantragten Visums ist nach § 71 Abs. 2 AufenthG die Auslandsvertretung, auch wenn die wegen der Begrenzung auf monatlich 1.000 nationale Visa (§ 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG) unter Berücksichtigung der Kriterien nach § 36a Abs. 2 Satz 3, 4 AufenthG zu treffende Auswahlentscheidung dem Bundesverwaltungsamt obliegt. Die Botschaft hat sich zur Begründung der von ihr erlassenen ablehnenden Bescheide allein auf die nach § 31 Abs. 1 Nr. 1 AufenthV erforderliche, aber fehlende Zustimmung der Beigeladenen berufen. Anhaltspunkte dafür, dass sie das ihr eröffnete Ermessen ausgeübt hätte, finden sich weder in den Bescheiden noch im Visumvorgang. Im Gegenteil hat die Botschaft seit Oktober 2021 stets deutlich gemacht, dass sie die Erteilungsvoraussetzungen bejaht und sich nur durch die fehlende Zustimmung der Beigeladenen an der Weitergabe an das Bundesverwaltungsamt zur Auswahlentscheidung gehindert sieht. Schon hierin liegt ein Ermessensausfall, der den Ausspruch des angefochtenen Urteils rechtfertigt. Es spricht nämlich alles dafür, dass das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 36a Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG - jedenfalls bei Nichtvorliegen eines Regelausschlussgrundes gemäß § 36a Abs. 3 AufenthG - in der Regel zu einer Einbeziehung des Visumantrags in die Auswahlentscheidung nach § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG über die Vergabe der dort monatlich vorgesehenen 1.000 Visa unter Berücksichtigung des Kriterien des § 36a Abs. 2 Satz 3 und 4 AufenthG führt. Im Übrigen hat auch die Beigeladene, deren Erwägungen die Botschaft sich nicht zu eigen gemacht hat, kein Ermessen ausgeübt. Sie ist vielmehr unzutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen der Visumerteilung nicht gegeben seien, weil der Kläger bei Antragstellung nicht mehr minderjährig gewesen sei und kein humanitärer Grund vorliege. Es ist schließlich auch nicht erkennbar, dass sich die Beigeladene für die Versagung der Zustimmung auf tragfähige Ermessenserwägungen hinsichtlich der Berücksichtigung von Integrationsaspekten (§ 36a Abs. 2 Satz 4 AufenthG) stützen könnte. Auf mangelnde Integrationsleistungen der Mutter des Klägers hat sie nicht abgestellt, nachdem sie bereits im erstinstanzlichen Verfahren erklärt hatte, Integrationsaspekte seien „für die Entscheidung nicht ablehnungsbegründend“ gewesen. Die Integrationsleistungen der Geschwister des Klägers sind beachtlich. Von seinen beiden älteren Brüdern hat einer die deutsche Staatsangehörigkeit erworben und ist unbefristet beschäftigt, der andere hat die Fachhochschulreife absolviert und studiert Bauingenieurwesen. Die 2021 zur Mutter nachgezogenen Geschwister des Klägers haben zügig Deutsch gelernt bzw. besuchen die Schule.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und Abs. 3 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 der Zivilprozessordnung.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt. Die Bejahung humanitärer Gründe im Sinne von § 36a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG beruht auf einer Würdigung der Umstände des Einzelfalls, so dass sich über diesen Fall hinaus klärungsfähige Fragen zur Auslegung von § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 3 AufenthG nicht entscheidungserheblich stellen.