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Afghanistan, minderjähriger Flüchtling, Familiennachzug der Eltern und der Schwester, (wirksame) Antragstellung, Registrierung zur Antragstellung


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Gericht OVG Berlin-Brandenburg Der 6. Senat Entscheidungsdatum 22.08.2024
Aktenzeichen 6 B 10/23 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2024:0822.6B10.23.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, 29 Abs. 2; 36 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG, 4 Abs., 5 Abs. 1, 10 Abs. 3 Buchst. a, Abs. 1 UAbs. 1 RL 2003/86/EG

Leitsatz

  1. § 29 Abs. 2 AufenthG dient der Umsetzung des Artikels 12 Abs. 1 UAbs. 1 der Familienzusammenführungsrichtlinie. Dieser bezieht sich nur auf die in Artikel 4 Abs. 1 der Richtlinie genannten Familienangehörigen, d. h. den Ehegatten und die minderjährigen Kinder (Anschluss an OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Juni 2019 - OVG 3 M 98.19 - , juris Rn. 10, sowie Beschluss vom 9. Dezember 2021 - OVG 3 M 53/21 -, juris Rn. 9). Die Möglichkeit einer "fristwahrenden Anzeige" des Stammberechtigten sieht das AufenthG im Falle des Elternnachzugs nicht vor.

  2. Die "Registrierung für die Beantragung eines Visums zur Familienzusammenführung" ist weder ihrem Wortlaut noch ihrer Funktion nach ein Antrag auf Familienzusammenführung (Anschluss an OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. August 2020 - OVG 12 B 18.19 -, juris Rn. 24, sowie Beschluss vom 25. Januar 2022 - OVG 3 S 87/21 -, juris Rn. 14; ferner BVerwG, Urteil vom 15. August 2019 - 1 C 23.18 -, BVerwGE 166, 219 ff., juris Rn. 28 m.w.N. zur Buchung eines Termins bei der Ausländerbehörde über eine Online-Terminvereinbarung).

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 13. Juli 2023 geändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten beider Rechtszüge mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 vom Hundert des Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Kläger, afghanische Staatsangehörige, begehren die Erteilung von Visa für den Familiennachzug zu ihrem am ___ 2000 geborenen und mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 11. Mai 2017 als Flüchtling anerkannten Sohn bzw. Bruder, dem sog. Stammberechtigten. Die Kläger zu 1 und 2 sind dessen 1966 bzw. 1971 geborene Eltern, die Klägerin zu 3 ist seine im Januar 2009 geborene Schwester.

Mit E-Mail vom 16. September 2017 wandte sich der Stammberechtigte an die Deutsche Botschaft Kabul, die sich damals in Berlin befand und teilte mit, seine Eltern würden zur Visa-Antragstellung nach Delhi kommen und hätten gerne einen Vorstellungstermin. Der Antrag werde durch einen Anwalt aus Hamburg für die Deutsche Botschaft in Delhi gestellt. Er bitte um einen Termin für seine Eltern. In der Antwort-E-Mail der Beklagten an den Stammberechtigten vom 21. September 2017 heißt es: „Zunächst müssten sich Ihre Eltern auf der Warteliste der Botschaft Kabul […] eintragen. Sobald dann die Botschaft in Neu-Delhi Anträge entgegennimmt (voraussichtlich im Oktober) werden die Termine zugewiesen. Senden Sie mir bitte noch […] zu, damit wir einen frühen Termin für Ihre Eltern vergeben können, da der Nachzug nur bis zu Ihrer Volljährigkeit unter erleichterten Bedingungen möglich ist.“ Weiter wurde dem Prozessbevollmächtigten der Kläger mit E-Mail der Beklagten vom 22. Oktober 2017 die erfolgreiche Registrierung für die Beantragung eines Visums zur Familienzusammenführung bestätigt. Am 27. September 2018 stellten die Kläger anlässlich der Vorsprache bei der Botschaft in Neu Delhi den formalen Antrag auf Erteilung der Visa.

Mit Remonstrationsbescheid vom 8. Mai 2019 lehnte die Botschaft diesen Antrag mit der Begründung ab, der Stammberechtigte sei bereits vor der Beantragung des Familiennachzugs volljährig geworden. Die Erteilung von Visa zum Familiennachzug komme daher nur nach § 36 Abs. 2 AufenthG zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte in Betracht, für die nichts ersichtlich sei.

Auf die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht die Beklagte unter Aufhebung des Remonstrationsbescheides verpflichtet, den Klägern jeweils ein Visum zum Familiennachzug zu erteilen. Zur Begründung hat es ausgeführt, den Klägern zu 1 und 2 stehe ein Nachzugsanspruch nach § 36 Abs. 1 AufenthG zu. Diese Vorschrift sei unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass es für die Frage der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung durch den Stammberechtigten ankomme, zu dem der Nachzug stattfinden solle. Die insoweit zwischen den Beteiligten allein streitige rechtzeitige Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung liege vor. Der Stammberechtigte habe mit E-Mail vom 16. September 2017 an die Botschaft der Beklagten in Kabul jedenfalls im Rahmen einer Anscheinsvollmacht auch im Namen seiner Eltern hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er und seine Eltern die Familienzusammenführung begehrten. Diese Erklärung sei zumindest als Antrag nach § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und Satz 3 AufenthG zu verstehen und genüge damit den Anforderungen des EuGH. Dieser habe ausdrücklich darauf abgestellt, dass die zuständigen nationalen Behörden nicht in einer Weise handeln dürften, die das Recht auf Familienleben sowohl eines Elternteils mit seinem minderjährigen Kind als auch des Kindes mit einem Familienangehörigen gefährde. Damit stehe die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg (Urteil vom 17. Februar 2023 - OVG 3 B 9/21 -), wonach zur Fristwahrung allein der in § 81 Abs. 1 AufenthG geregelte Antrag maßgeblich sei, mit dem der deutsche Gesetzgeber von der ihm durch Artikel 5 Abs. 1 der Familienzusammenführungsrichtline eingeräumten Regelungsbefugnis Gebrauch gemacht habe, nicht in Einklang. Unabhängig davon sei jedenfalls bei der Auslandsvertretung der Beklagten, bei der die Kläger ihre Anträge gestellt hätten, eine persönliche Antragstellung innerhalb einer Frist von drei Monaten praktisch ausgeschlossen gewesen. Dies zeige die insoweit exemplarische Wartezeit der Kläger von etwa einem Jahr. Würde gleichwohl auf die erst nach Ablauf der Frist mögliche Antragstellung abgestellt, widerspräche dies dem Postulat des EuGH, wonach es gerade nicht vom Behördenhandeln abhängen dürfe, ob der Antrag rechtzeitig gestellt worden sei. Der Anspruch der Klägerin zu 3 folge aus § 32 Abs. 1 AufenthG, für den der elterliche Besitz eines nationalen Visums als Aufenthaltserlaubnis genüge. Die mangelnde Lebensunterhaltssicherung stehe nicht entgegen, weil keine Anhaltspunkte dafür bestünden, dass sich weitere Familienangehörige vor Ort um das immaterielle Wohlergehen der dort auf sich allein gestellten minderjährigen Klägerin zu 3 kümmern könnten. Ausreichender Wohnraum stehe im Haus ihres Onkels zur Verfügung, das über sieben Zimmer verfüge.

Mit ihrer rechtzeitig erhobenen Berufung wendet die Beklagte ein: § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1, Satz 3 AufenthG sei vorliegend nicht einschlägig. Er regele allein den Familiennachzug eines Ehegatten oder minderjährigen ledigen Kindes, nicht aber Fälle des Elternnachzugs. Unabhängig davon sei die fristwahrende Anzeige jedenfalls kein wirksamer Visumantrag im Sinne des § 81 Abs. 1 AufenthG. Diese Frage sei mangels vorrangiger Regelungen in der Familienzusammenführungsrichtlinie oder anderweitigen Unionsrechts nach nationalem Recht zu beurteilen. Artikel 12 Abs. 1 UAbs. 3 der Richtlinie ermögliche den Mitgliedstaaten eine Regelung, wonach der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb einer Frist von drei Monaten nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt werden müsse. Diese Möglichkeit greife § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG auf. Daneben habe der deutsche Gesetzgeber für den Fall, dass der Visumantrag nicht innerhalb von drei Monaten gestellt werden könne, in § 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG die Möglichkeit einer fristwahrenden Anzeige geschaffen. Dabei handele sich um eine rein nationale Regelung, die zugunsten des Antragstellers einen privilegierten Familiennachzug auch dann noch ermöglichen solle, wenn der Visumantrag nicht innerhalb von drei Monaten gestellt werden könne. Die Regelung solle dem Umstand Rechnung tragen, dass dem Familienangehörigen eines Schutzberechtigten aufgrund besonderer Umstände im Aufenthaltsstaat eine fristgerechte Antragstellung nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen möglich sei. Die fristwahrende Anzeige sei daher weder Gegenstand der genannten Richtlinie noch der Rechtsprechung des EuGH. Sie sei eine vom Visumantrag unabhängige Regelung. Die Beklagte verweist hierzu auf die Rechtsprechung des erkennenden Gerichts (Beschluss vom 19. Januar 2022 - OVG 3 M 185/20 -, juris Rn. 7 und vom 18. Januar 2022 - OVG 3 M 22/21 -, juris Rn. 7). Unabhängig davon stelle die E-Mail vom 16. September 2018 keinen wirksamen Visumantrag dar. Sie enthalte nicht den Erklärungsgehalt eines Visumantrages. Der Stammberechtigte sei auch nicht antragsbefugt für seine Familienangehörigen oder von diesen bevollmächtigt gewesen. Dem Anspruch der Klägerin zu 3 stehe außerdem die fehlende Sicherung des Lebensunterhalts entgegen; es liege keine Atypik vor. Aus § 36 Abs. 2 AufenthG folge kein Anspruch, da keine Umstände ersichtlich seien, die eine außergewöhnliche Härte im Sinne der Vorschrift begründen könnten.

Die Beklagte und Berufungsklägerin beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 13. Juli 2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger und Berufungsbeklagten beantragen,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Sie verteidigen das angefochtene Urteil und machen ergänzend geltend: Die Beklagte missverstehe die Argumentation des Verwaltungsgerichts, das vorliegend nicht einen fristwahrenden Antrag nach § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und Satz 3 AufenthG für erforderlich gehalten, sondern angenommen habe, die Erklärung des Stammberechtigten könne als ein solcher Antrag verstanden werden, durch den dem vom EuGH formulierten Fristerfordernis Genüge getan werde; ein für die Fristwahrung maßgeblicher Antrag im Sinne der Rechtsprechung des EuGH müsse nicht notwendigerweise einem Antrag nach § 81 AufenthG entsprechen. Dieser Ansatz liege vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH nicht fern. Die Erklärung des Stammberechtigten sei der Beklagten auch direkt zugegangen. Jedenfalls in der Registrierung vom 22. Oktober 2017 sei ein Antrag im Sinne der Rechtsprechung des EuGH zu sehen. Daraus ergäben sich die Personalien der Kläger und das von ihnen verfolgte Begehren. Auch durch die Registrierung während der Minderjährigkeit werde die Möglichkeit eines zeitlich unbegrenzten Nachzugs verhindert. Eine vorherige anderweitige Antragstellung sei auch nicht möglich gewesen. Das ergebe sich aus der Antwort-E-Mail der Beklagten an den Stammberechtigten vom 21. September 2017. Insbesondere werde eine Antragsfrist nicht erwähnt. Dem entspreche es, dass heute noch auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes erklärt werde, ein Visumantrag müsse grundsätzlich persönlich gestellt werden. Vor diesem Hintergrund sei es widersprüchlich, die Erteilung eines Visums an einer fristgerechten Antragstellung scheitern zu lassen.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. In der Sache macht sie geltend, weder die E-Mail vom 16. September 2017 noch die Registrierung von 22. Oktober 2017 seien Anträge. Es hätte zur ordnungsgemäßen Geschäftsbesorgung des Bevollmächtigten im Rahmen seiner Tätigkeit gehört, einen solchen fristwahrenden Antrag zu stellen, zumal ihm hätte bekannt sein müssen, dass ein Termin noch während der Minderjährigkeit des Stammberechtigten nicht zu erlangen gewesen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Streitakte, der Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie der den Stammberechtigten betreffenden Akten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben.

Die Kläger können die Erteilung der begehrten Visa nicht verlangen. Die Ablehnung ihres hierauf gerichteten Begehrens durch die Beklagte ist rechtmäßig und verletzt sie daher nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

I. Die Kläger zu 1 und 2 haben keinen Nachzugsanspruch nach § 6 Abs. 3, § 36 Abs. 1 AufenthG in der zuletzt durch Gesetz vom 12. Juli 2018 (BGBl. I S. 1147) geänderten Fassung.

1. Danach ist den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG besitzt, abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (Sicherung des Lebensunterhalts) und § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (ausreichender Wohnraum) eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält. Mit der Vorschrift wurde den Vorgaben der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung - Familienzusammenführungsrichtlinie - FZ-RL - (ABl. L 251/12 vom 3. Oktober 2003) zum Nachzug zu unbegleiteten Minderjährigen Rechnung getragen (Bergmann/Dienelt/Dienelt, 14. Auflage 2022, AufenthG § 36 Rn. 1). Daher ist auch das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass sie im Lichte dieser Richtlinie in der Interpretation, die sie durch die Rechtsprechung des EuGH erfahren hat, auszulegen ist. Danach ist Artikel 2 Buchst. f i.V.m. Artikel 10 Abs. 3 Buchst. a FZ-RL dahin zu verstehen, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Antrages in diesem Staat unter 18 Jahre alt war, als „Minderjähriger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist, wenn er während des Asylverfahrens volljährig wird und ihm später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 -, Rn. 65). Dies gilt erst recht, wenn er nicht während des Asylverfahrens, sondern erst während des Verfahrens auf Familienzusammenführung volljährig wird (EuGH, Urteil vom 30. Januar 2024 - C-560/20 -, Rn. 36). Demnach ist der Sohn der Kläger zu 1 und 2 als Stammberechtigter minderjährig, denn er hat den Asylantrag gestellt, bevor er das 18. Lebensjahr vollendet hatte.

Dass der EuGH in der erstgenannten Entscheidung zugleich entschieden hat, der Antrag auf Familienzusammenführung könne nicht ohne jede zeitliche Begrenzung gestellt werden, sondern müsse innerhalb einer als angemessen zu wertenden Frist von drei Monaten ab Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestellt werden (a.a.O., Rn. 65), führt vorliegend zu keinem anderen Ergebnis. Die vom EuGH zugrunde gelegte Drei-Monats-Frist bezog sich auf Fälle, in denen der Betreffende während des Asylverfahrens, also vor Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, volljährig wird. Hier war der Stammberechtigte im Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung mit Bescheid vom 11. Mai 2017 noch minderjährig, volljährig ist er erst mit Vollendung des 18. Lebensjahres am 2. Februar 2018 geworden. Die Drei-Monats-Frist läuft in dieser Konstellation nicht. Sie soll lediglich verhindern, dass sich ein Flüchtling, der zum Zeitpunkt seines Asylantrags unbegleiteter Minderjähriger war, aber während dieses Verfahrens volljährig geworden ist, ohne jede zeitliche Begrenzung auf Artikel 10 Abs. 3 Buchst. a FZ-RL berufen könnte, um eine Familienzusammenführung zu erwirken. Einer derartigen zeitlichen Begrenzung bedarf es jedoch nicht, wenn dem Minderjährigen noch vor Erreichen der Volljährigkeit die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist und seine sorgeberechtigten Eltern ebenfalls vor Eintritt der Volljährigkeit des Kindes einen Antrag auf Familienzusammenführung nach § 36 Abs. 1 AufenthG gestellt haben. In einem solchen Fall besteht der Anspruch auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH bis zur gerichtlichen Entscheidung fort und erlischt nicht mit der Vollendung des 18. Lebensjahres des Kindes (EuGH, Urteil vom 30. Januar 2024 - C-560/20 -, Rn. 40 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. September 2018 - OVG 3 S 47.18, OVG 3 M 52.18 -, juris Rn. 6). Hiervon ausgehend hat die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit Bescheid vom 11. Mai 2017 die fragliche Drei-Monats-Frist nicht ausgelöst. In Fällen, in denen die Flüchtlingsanerkennung noch vor der Volljährigkeit des Betreffenden erfolgt, muss der Antrag auf Familiennachzug allerdings grundsätzlich, d.h. sofern bis dahin noch mindestens drei Monate für eine Antragstellung verbleiben, bis zum Zeitpunkt des Eintritts seiner Volljährigkeit gestellt worden sein (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. April 2024 - OVG 3 B 45.23 -, juris Rn. 20). Anderenfalls handelte es sich nicht mehr um Nachzug zu einem Minderjährigen.

2. Da der bereits am 11. Mai 2017 als Flüchtling anerkannte Stammberechtigte am 2. Februar 2018 volljährig geworden ist, hätte der Antrag auf Familiennachzug bis zu diesem Datum gestellt werden müssen. Daran fehlt es. Den Visumantrag haben die Kläger erst am 27. September 2018 und damit nach diesem Stichtag gestellt.

a) Die E-Mail des Stammberechtigten vom 16. September 2017 ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht als Antrag der Kläger auf Familiennachzug zu erachten.

aa) Soweit das Verwaltungsgericht annimmt, die E-Mail sei zumindest als Antrag nach § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und Satz 3 AufenthG zu verstehen, verkennt es, dass diese Vorschrift nicht anwendbar ist. § 29 Abs. 2 AufenthG regelt seinem Wortlaut nach ausschließlich die Voraussetzungen der Nachzugsansprüche von Ehegatten und minderjährigen ledigen Kindern eines als Flüchtling anerkannten Ausländers, nicht jedoch diejenigen der Eltern eines unbegleiteten Minderjährigen, der als Flüchtling anerkannt ist. Aus der FZ-RL folgt nichts Abweichendes. § 29 Abs. 2 AufenthG dient der Umsetzung des Artikels 12 Abs. 1 UAbs. 1 FZ-RL. Dieser bezieht sich nur auf die in Artikel 4 Abs. 1 der Richtlinie genannten Familienangehörigen, d.h. den Ehegatten und die minderjährigen Kinder (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Juni 2019 - OVG 3 M 98.19 -, juris Rn. 10 sowie Beschluss vom 9. Dezember 2021 - OVG 3 M 53/21 -, juris Rn. 9). Die Möglichkeit einer „fristwahrenden Anzeige“ des Stammberechtigten im Falle des Elternnachzugs sieht das Aufenthaltsgesetz nicht vor. Für eine analoge Anwendung besteht, ungeachtet der Frage, ob überhaupt eine unbeabsichtigte Regelungslücke vorliegt (was zu verneinen sein dürfte), kein Bedürfnis, da das in § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorgesehene Absehen von den Voraussetzungen der Lebensunterhaltssicherung und des ausreichenden Wohnraums bei einem Elternnachzug nach § 36 Abs. 1 AufenthG ohnehin entbehrlich ist, worauf die Beklagte zutreffend hinweist. Daran geht die Begründung des Verwaltungsgerichts vorbei, wenn sie ausführt, die E-Mail vom 16. September 2017 sei als Antrag nach § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und Satz 3 AufenthG zu verstehen. Dasselbe gilt für den Einwand der Kläger in der mündlichen Verhandlung, wonach gemäß § 29 Abs. 2 AufenthG der Zusammenführende antragsbefugt sei. Im Übrigen ist nach § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG erforderlich, dass der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels innerhalb von drei Monaten nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestellt wird. Diese Frist wahrte auch die E-Mail vom 16. September 2017 nicht. Die Anerkennung als Flüchtling erfolgte mit Bescheid vom 11. Mai 2017, der am 13. Mai 2017 zugestellt wurde.

bb) Unabhängig von Vorstehendem ist die E-Mail nach dem insoweit maßgeblichen verobjektivierten Empfängerhorizont nicht als Antrag auf Familiennachzug zu verstehen. Ein solcher Antrag kann zwar formlos gestellt werden, muss aber hinreichend eindeutig das Begehren erkennen lassen. Die E-Mail des Stammberechtigten enthält neben der Terminbitte für die Eltern keine weiteren Angaben und kündigt ausdrücklich an, dass der Antrag durch einen Rechtsanwalt aus Hamburg gestellt werde. Damit ist für den Empfänger klar zum Ausdruck gebracht, dass lediglich ein Termin vergeben werden sollte. Die Antwort-E-Mail der Beklagten vom 21. September 2017 zeigt, dass die Beklagte den Erklärungsinhalt der EMail des Stammberechtigten auch so verstanden hat.

Auf die Frage, ob der Stammberechtigte trotz seiner damaligen Minderjährigkeit in Vertretung seiner Eltern wirksam einen Antrag auf Familiennachzug hätte stellen können, kommt es vor diesem Hintergrund nicht an.

cc) Auch die weiteren vom Verwaltungsgericht zu besagter E-Mail angestellten Erwägungen überzeugen schon vor dem dargelegten Hintergrund, aber auch davon unabhängig nicht. Dass die Familienzusammenführungsrichtlinie es gebiete, eine E-Mail mit dem hier in Rede stehenden Inhalt als Antrag auf Familiennachzug anzusehen, ist nicht erkennbar. Artikel 5 Abs. 1 FZ-RL überlässt es den Mitgliedstaaten festzulegen, ob zur Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung der Antrag auf Einreise und Aufenthalt entweder vom Zusammenführenden oder von dem oder den Familienangehörigen bei den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats gestellt werden muss. Dass die Richtlinie als Voraussetzung für den Familiennachzug eine Antragstellung vorsieht, macht es auch nicht erforderlich, eine Handlung, die ihrem Erklärungsgehalt nach keinen Antrag darstellt, als solchen zu werten. Zur Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit der Richtlinie (dazu vgl. EuGH, Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 -, Rn. 55) erforderlich, aber auch ausreichend ist vielmehr, dass der Mitgliedsstaat den Betroffenen eine effektive Möglichkeit für eine solche Antragstellung eröffnet. Diese bestand für die Kläger vorliegend schon deshalb, weil ihnen mit dem Antwortschreiben der Botschaft vom 21. September 2017 eine schnellere Terminvergabe für den Fall in Aussicht gestellt worden war, dass sich aus den zum Beleg erforderten Unterlagen nach dem damaligen Rechtsverständnis der Beklagten eine Eilbedürftigkeit ergab.

b) Auch die Registrierung vom 22. Oktober 2017 erfüllt die Voraussetzungen für einen Antrag auf Erteilung von Visa zur Familienzusammenführung weder ihrem Wortlaut noch ihrer Funktion nach. Das ergibt sich aus der an den Kläger zu 1 namentlich gerichteten Registrierungsbestätigung der Botschaft. Darin heißt es: „Ihre Registrierung für die Beantragung eines Visums zur Familienzusammenführung in New Delhi wurde erfolgreich gespeichert.“ Weiter wird ausgeführt, dass sich die mit Namen und jeweiligem Geburtsdatum genannten Klägerinnen zu 2 und 3 gemeinsam mit dem Kläger zu 1 registriert hätten. Schon ihrem Wortlaut nach kommt der Anmeldung zur Warteliste der Erklärungswert einer Bitte zu, einen Vorsprachetermin bei einer Visastelle zum Zweck der Visumbeantragung zu erhalten. Sie ist damit eine auf Vorbereitung einer Antragstellung gerichtete Handlung und stellt grundsätzlich nicht schon die Beantragung eines Aufenthaltstitels dar (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. August 2020 - OVG 12 B 18.19 -, juris Rn. 24, sowie Beschluss vom 25. Januar 2022 - OVG 3 S 87/21 -, juris Rn. 14; ferner BVerwG, Urteil vom 15. August 2019 - 1 C 23.18 -, BVerwGE 166, 219 ff., juris Rn. 28 m.w.N. zur Buchung eines Termins bei der Ausländerbehörde über eine Online-Terminvereinbarung). Hinzu kommt, dass die Online-Registrierung und deren Bestätigung erkennbar die Funktion haben, das große Aufkommen an Visa-Verfahren organisatorisch zu bewältigen. Sie dient damit zum einen der Gewährleistung der betrieblichen Abläufe in den Auslandsvertretungen selbst, und zum anderen den Interessen der jeweiligen Antragsteller, die anderenfalls für einen nicht zumutbaren, weil nicht annähernd überschaubaren Zeitraum vor den einschlägigen Auslandsvertretungen warten müssten. Dementsprechend dienen die abgefragten Daten nicht der eigentlichen Antragsbearbeitung, sondern ermöglichen es, die Identität der registrierten Person mit dem zum gebuchten Termin bei der Botschaft erschienenen Antragsteller sicherzustellen.

Dass die Online-Registrierung kein Antrag auf Familienzusammenführung ist, war für die Kläger auch erkennbar. Sie waren im Oktober 2017 anwaltlich vertreten und ihr Prozessbevollmächtigter hat die Registrierung mutmaßlich selbst vorgenommen, die Registrierungsbestätigung aber jedenfalls an seine E-Mail-Adresse erhalten. Von diesem kann erwartet werden zum einen zu erkennen, dass die Registrierung keinen Antrag darstellt und sich zum anderen bewusst zu sein, dass der Nachzugsanspruch nach § 36 Abs. 1 AufenthG Minderjährigkeit des Stammberechtigten erfordert und die Antragstellung deshalb nicht ohne zeitliche Grenze hinausgeschoben werden kann und zwar unabhängig davon, ob man von der früheren (unzutreffenden) Auffassung der Beklagten hinsichtlich des Zeitpunkts, auf den hierfür abzustellen ist, ausgeht, oder von dem nach der Rechtsprechung des EuGH zugrunde zu legenden.

c) Der Auffassung, weder die E-Mail vom 16. September 2017 noch die Registrierung vom 22. Oktober 2017 seien als Antragstellung zu verstehen, steht auch nicht das Argument des Verwaltungsgerichts entgegen, eine persönliche Antragstellung sei im Hinblick auf die Wartezeiten bis zur Vergabe eines Termins praktisch ausgeschlossen gewesen, so dass eine Vereitelung der durch den EuGH aufgestellten Maßstäbe drohe, weil die Realisierung des Familiennachzugsanspruchs durch das Handeln der Behörden gefährdet werde. Diese Argumentation geht nicht nur daran vorbei, dass den Klägern vorliegend ein schnellerer Vorsprachetermin in Aussicht gestellt worden war, sondern auch daran, dass eine fristwahrende Visumantragstellung tatsächlich formlos per E-Mail oder schriftlich hätte erfolgen können (VG Berlin, Beschluss vom 3. Januar 2022 - VG 2 K 113/21 V -, BA S. 3). Die Frage, ob die fragliche E-Mail oder die Registrierung die Anforderungen an einen Antrag erfüllen, ist hiervon zu trennen. Vor diesem Hintergrund kann auch, anders als das Verwaltungsgericht meint, nicht angenommen werden, es hänge vom Handeln der Behörde ab, ob der Antrag rechtzeitig gestellt worden sei. Weiter ist auch insoweit darauf zu verweisen, dass die Kläger anwaltlich vertreten gewesen sind und Kenntnis von einem möglicherweise drohenden Anspruchsverlust infolge des Eintritts der Volljährigkeit des Stammberechtigten hatten. Ihr Einwand in der mündlichen Verhandlung, die Beklagte sei zum damaligen Zeitpunkt noch von einer unzutreffenden Rechtsansicht zu der Frage ausgegangen, auf welchen Zeitpunkt für die Minderjährigkeit des Stammberechtigten abzustellen sei, rechtfertigt nicht nur keine andere Einschätzung, sondern bekräftigt, dass Anlass bestand, neben der Registrierung einen formlosen Antrag zu stellen oder jedenfalls auf eine zeitnahe Terminvergabe hinzuwirken. Unabhängig von der Richtigkeit der in der Antwort-E-Mail der Beklagten vom 21. September 2017 geäußerten Ansicht, wonach der Nachzug nur bis zur Volljährigkeit des Stammberechtigten unter erleichterten Bedingungen möglich sei, hätte es im Interesse einer effektiven Rechtsdurchsetzung auch nahe gelegen und anwaltlicher Sorgfalt entsprochen, von der offerierten Möglichkeit Gebrauch zu machen, die Eilbedürftigkeit zu belegen, um einen zeitnahen Vorsprachetermin zu erhalten. Vor diesem Hintergrund überzeugt auch der Einwand der Kläger nicht, eine Antragstellung sei nur im Wege persönlicher Vorsprache möglich gewesen, jedenfalls habe die Beklagte diesen Eindruck erweckt. Selbst wenn man unterstellt, dass die Beklagte in ihrer Antwort-E-Mail vom 21. September 2017 diesen Eindruck erweckt habe, lassen die Kläger den Hinweis auf die Möglichkeit, auf eine frühe Terminvergabe hinzuwirken, außer Acht.

II. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG für die Kläger zu 1 und 2 zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte scheidet aus. Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist insoweit der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz (BVerwG, Urteil vom 21. August 2018 - 1 C 22/17 - juris Rn. 11; Urteil vom 17. Dezember 2015 - 1 C 31/14 - juris Rn. 9). Hier ist weder ersichtlich noch vorgetragen, dass der mittlerweile 24-jährige Stammberechtigte oder die im Ausland lebenden Kläger ein eigenständiges Leben nicht führen können, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe angewiesen sind, und dass diese Hilfe zumutbarer Weise nur im Bundesgebiet erbracht werden kann (zu diesen Maßstäben: BVerwG, Beschluss vom 25. Juni 1997, a.a.O. sowie BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 15.12 -, juris Rn. 12 m.w.N.).

III. Aus dem Vorstehenden folgt zugleich, dass die Klägerin zu 3 keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus § 32 Abs. 1 AufenthG herleiten kann. Nach dieser Vorschrift ist dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil einen Aufenthaltstitel u.a. nach § 36 AufenthG besitzen. Letztgenannte Voraussetzung ist nicht erfüllt. Die Kläger zu 1 und 2 sind nicht im Besitz und sie haben aus den dargelegten Gründen auch keinen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels.

Aus den unter II. dargelegten Gründen hat die Klägerin zu 3 auch keinen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG.

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 der Zivilprozessordnung.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.