Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat | Entscheidungsdatum | 13.11.2024 | |
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Aktenzeichen | OVG 3 B 69/23 | ECLI | ECLI:DE:OVGBEBB:2024:1113.OVG3B69.23.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 166 Abs 1 VwGO, § 162 Abs 1 VwGO, § 102a VwGO, § 121 Abs 3 ZPO |
Im auf Familiennachzug gerichteten Visumverfahren ist ein auswärtiger Rechtsanwalt gemäß § 166 Abs. 1 VwGO, § 121 Abs. 3 ZPO unbeschränkt und nicht zu den Bedingungen eines im Bezirk des Prozessgerichts niedergelassenen Rechtsanwalts beizuordnen.
Den Berufungsklägern wird für den Rechtszug vor dem Oberverwaltungsgericht Prozesskostenhilfe ohne Verpflichtung zu Ratenzahlungen bewilligt. Ihnen wird Rechtsanwalt S_____ beigeordnet.
Der Antrag, die Bewilligung von Prozesskostenhilfe auf Fahrtkosten des Klägers zu 3 zu erstrecken, wird abgelehnt.
Über den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist erneut zu entscheiden, nachdem der Senat den Beschluss vom 23. Januar 2024 auf die Gegenvorstellung der Kläger mit Beschluss vom 3. Mai 2024 aufgehoben hat.
Die Entscheidung beruht auf § 166 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit §§ 114 ff. ZPO. Die Rechtsverfolgung der Kläger bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg und erscheint nicht mutwillig. Im Berufungsverfahren ist - unionsrechtlich - zu klären, ob die Frist von drei Monaten ab der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 12. April 2018 – C-550/16 Rn. 61 – für einen auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG eingereichten Antrag auf Familienzusammenführung einzuhalten ist, wenn der Zusammenführende zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird, auch dann unverändert gilt, wenn diese Frist zum Zeitpunkt des Urteils vom 12. April 2018 schon abgelaufen war, nach der damaligen Behördenpraxis und der höchstrichterlichen Rechtsprechung in diesem Mitgliedstaat für einen bereits volljährigen Flüchtling aber keine erfolgversprechende Möglichkeit bestand, einen Antrag auf Familienzusammenführung zu stellen. Sollte diese Frage zu verneinen sein, stellt sich die weitere Frage, ob in solchen Fällen die Frist erst zu einem späteren Zeitpunkt beginnt oder ob dann eine längere Frist gilt. Der Senat hat diese Fragen in einem vergleichbaren Berufungsverfahren (OVG 3 B 68/23) dem Gerichtshof der Europäischen Union mit Beschluss vom 21. Mai 2024 zur Vorabentscheidung vorgelegt (Rechtssache C-571/24, Amtsblatt der EU vom 28. Oktober 2024, C/2024/6244).
Die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen liegen unter Berücksichtigung der hierzu abgegebenen Erklärungen vor (vgl. § 114 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 117 Abs. 2 ZPO). Nach den zuletzt vorgelegten Unterlagen sind auch für den Kläger zu 3 keine Ratenzahlungen (§ 115 Abs. 2 ZPO) mehr anzuordnen.
Die Entscheidung über die Beiordnung beruht auf § 166 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 121 ZPO.
Die Beiordnung ist nicht im Hinblick auf § 121 Abs. 3 ZPO darauf zu beschränken, dass sie nur zu den Bedingungen eines im Bezirk des Prozessgerichts niedergelassenen Rechtsanwalts erfolgt, also die Reisekosten des Prozessbevollmächtigten der Kläger nur bis zu dieser Höhe erstattungsfähig sind. Im Verwaltungsprozess werden die Reisekosten eines auswärtigen, am Wohnsitz des Beteiligten oder in dessen Nähe ansässigen Rechtsanwalts zum Prozessgericht grundsätzlich als zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendige Aufwendungen im Sinne des § 162 Abs. 1 VwGO angesehen (vgl. Neumann/Schaks in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 162 Rn. 67). Im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Gebot einer weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten im Bereich des Rechtsschutzes (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2008 – 1 BvR 2310/06 – juris Rn. 30 ff.; vgl. Neumann/Schaks in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 166 Rn. 5 ff.) ist deshalb in verwaltungsgerichtlichen Prozesskostenhilfeverfahren auch ein auswärtiger (nicht im Bezirk des Prozessgerichts niedergelassener) Rechtsanwalt in der Regel unbeschränkt beizuordnen, wenn er am Wohnsitz des Antragstellers oder in dessen Nähe ansässig ist, zumal in einem derartigen Fall Reisekosten eines Anwalts zum Gerichtstermin regelmäßig durch ersparte Kosten für eine Informationsreise des Beteiligten zu seinem Anwalt zur Prozessvorbereitung ausgeglichen werden (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 30. April 2015 – 11 S 124/15 – juris Rn. 4; OVG Bautzen, Beschluss vom 11. April 2011 – 2 D 69/10 – juris Rn. 4). Ein solcher Sachverhalt ist hier im Hinblick darauf gegeben, dass der Prozessbevollmächtigte der Kläger am Wohnort des Klägers zu 3 niedergelassen ist.
Unabhängig davon würde nichts anderes gelten, wenn der Kläger zu 3 nicht selbst am Klageverfahren beteiligt wäre und dieses allein von seinen Eltern, den Klägern zu 1 und 2 betrieben würde, denn die in Klageverfahren auf Visumerteilung zum Familiennachzug häufig gegebene Situation, dass die im Ausland lebenden Kläger einen Rechtsanwalt am Wohnort des Familienangehörigen oder Ehepartners hinzugezogen haben, zu dem der Nachzug erfolgen soll (Referenzperson), entspricht wertungsmäßig der Situation, dass ein auswärtiger Beteiligter einen in seiner Nähe niedergelassenen Rechtsanwalt beauftragt (vgl. zu § 162 Abs. 2 Satz 1 VwGO VG Berlin, Beschluss vom 10. November 2005 – 14 KE 312.05 – juris Rn. 6). Direkter Ansprechpartner des Rechtsanwalts ist in diesen Verfahren die Referenzperson. Da über sie der Informationsaustausch zwischen den im Ausland lebenden Klägern und ihrem Bevollmächtigten erfolgen kann, sind die Reisekosten des wohnortnah zu der Referenzperson ansässigen Prozessbevollmächtigten regelmäßig als erstattungsfähig anzuerkennen.
Dass Reisekosten zum Prozessgericht erspart werden können, wenn der Prozessbevollmächtigte der Kläger im Wege der Videoübertragung an einer auf Antrag eines Beteiligten oder aufgrund gerichtlicher Entscheidung von Amts wegen als Videoverhandlung stattfindenden mündlichen Verhandlung teilnimmt (vgl. § 102a VwGO in der zuletzt mit Gesetz vom 18. Juli 2024, BGBl. I Nr. 237, geänderten Fassung), rechtfertigt keine andere Entscheidung. Ob eine Videoverhandlung angeordnet wird, ist im Zeitpunkt der Bewilligung von Prozesskostenhilfe regelmäßig noch nicht absehbar. Zudem belässt die gesetzliche Regelung den Beteiligten das Recht, persönlich zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen (zur Videoverhandlung als auf Akzeptanz angelegtem Serviceangebot BT-Drs. 17/1224, S. 2, 12). Eine Obliegenheit des Prozesskostenhilfe beanspruchenden Beteiligten, zur Einsparung von Reisekosten per Videoübertragung an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen, wäre gemessen an der grundsätzlich gebotenen Rechtschutzgleichheit bemittelter und unbemittelter Beteiligter nur begründbar, wenn eine solche Obliegenheit im Kostenrecht allgemein anerkannt wäre. Das ist jedoch nicht der Fall. Soweit der Senat in dem Beschluss vom 23. Januar 2024 eine andere Auffassung vertreten hat, hält er daran nicht fest.
Der mit der Gegenvorstellung vom 1. Februar 2024 gestellte Antrag, die Bewilligung von Prozesskostenhilfe auf die Fahrtkosten des Klägers zu 3 zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung zu erstrecken, bleibt ohne Erfolg.
Einem mittellosen Beteiligten können Reisekosten für die Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung gemäß § 166 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 122 Abs. 1 ZPO in analoger Anwendung bewilligt werden. Für die gerichtliche Entscheidung über einen darauf gerichteten Antrag sind in erster Linie die Vorschriften über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe maßgebend. Wurde bereits Prozesskostenhilfe bewilligt, richtet sich die Entscheidung über die Bewilligung der Reisekosten danach, ob die Teilnahme des Antragstellers an der mündlichen Verhandlung notwendig ist. Notwendig ist sie, wenn das persönliche Erscheinen des Beteiligten angeordnet worden ist. Ist das nicht der Fall, ist zu prüfen, ob dem Beteiligten die aus eigenen Mitteln nicht zu bestreitende Anreise zum Termin nach den Grundsätzen eines fairen Verfahrens billigerweise abgeschlagen werden kann. Dabei hat das Gericht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) sowie das einfachgesetzlich gewährte Recht zur Stellungnahme gem. § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 137 Abs. 4 ZPO einerseits und die Möglichkeit der ausreichenden Vertretung durch den beigeordneten Rechtsanwalt andererseits gegeneinander abzuwägen. Mit Blick auf das verfassungsrechtliche Gebot, das Prozessrecht so auszulegen und anzuwenden, dass ein Beteiligter nicht zum Objekt des Verfahrens gemacht wird, ist dabei die Bedeutung der Sache für den Betroffenen und das mutmaßliche Verhalten einer nicht mittellosen, auf verständige Wahrnehmung ihrer Rechte bedachten Partei zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Februar 2017 – 6 C 28.16 – juris Rn. 2 f. m.w.N.).
Hieran gemessen ist die Bewilligung von Reisekosten des Klägers zu 3 nach dem bisherigen Verfahrensstand nicht geboten. Das Verfahren betrifft im Wesentlichen Rechtsfragen. Der Senat sieht derzeit keine Gründe, die eine Anwesenheit des Klägers zu 3, etwa zur Klärung des Sachverhalts, erfordern. Es kann nicht angenommen werden, dass ein nicht mittelloser, auf verständige Wahrnehmung seiner Rechte bedachter Beteiligter dies anders beurteilen würde. Auch die Kläger haben nicht dargelegt, weshalb sie eine persönliche Teilnahme des Klägers zu 3 an der mündlichen Verhandlung für erforderlich halten und die Vertretung durch den ihnen beigeordneten Rechtsanwalt nicht ausreichen sollte.
Über die weiteren, auf Zurverfügungstellung der technischen Mittel für eine Teilnahme an einer Videoverhandlung oder auf Durchführung der mündlichen Verhandlung in M_____ gerichteten Hilfsanträge muss nicht entschieden werden, da sie nur für den Fall einer eingeschränkten Beiordnung des Prozessbevollmächtigten der Kläger gestellt worden sind.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).