Toolbar-Menü
 
Sie sind hier: Gerichtsentscheidungen Afghanistan, Nachzug der Eltern und Geschwister zu einem (vermeintlich)...

Afghanistan, Nachzug der Eltern und Geschwister zu einem (vermeintlich) minderjährigen Flüchtling, Minderjährigkeit, unechte Tazkira, Reisepässe mit abweichenden Geburtsdaten, frühere Einreisen nach Europa zu Orchesterauftritten, Altersbestimmungsgutachten


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 6. Senat Entscheidungsdatum 29.08.2024
Aktenzeichen OVG 6 B 13/23 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2024:0829.OVG6B13.23.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 36 Abs 1 AufenthG , Artikel 2 Buchst. f, Artikel 10 Abs. 3 Buchst. a Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG

Leitsatz

1. Zur Feststellung der Identität und des Geburtsdatum eines Ausländers ist primär auf die Angaben in amtlichen Ausweispapieren abzustellen.

2. Einzelfall verneinter Minderjährigkeit wegen divergierender Altersangaben in Reisepässen und vorgelegter afghanischer Tazkira

Tenor

Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Verwaltungsgericht Berlin vom 13. Juni 2023 wird zurückgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten der Berufung mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 vom Hundert des Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Kläger sind afghanische Staatsangehörige. Sie begehren die Erteilung von Visa zum Zweck des Familiennachzugs.

Die Kläger zu 1 und 2 sind die Eltern der 2006, 2008 und 2016 geborenen Kläger zu 3 bis 5 und der nach eigenen Angaben am _____2004 geborenen Referenzperson X_____, zu der die Kläger nachziehen möchten.

Die Referenzperson reiste im August 2019 nach Deutschland ein und beantragte am 14. Januar 2020 Asyl, woraufhin ihr das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 12. Mai 2020 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannte. Sie ist im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2, 1. Fall AufenthG.

Am 25. Januar 2022 beantragten die Kläger bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Islamabad die Erteilung von Visa zum Zwecke des Familiennachzugs zur Referenzperson. Diesen Antrag lehnte die Botschaft mit Bescheiden vom 8. Dezember 2022 mit der Begründung ab, die zwischen Visumantragstellung und behördlicher Entscheidung am ____2022 eingetretene Volljährigkeit der Referenzperson stehe einer Visaerteilung nicht entgegen, jedoch sei nicht von tatsächlich bestehenden familiären Bindungen zwischen der Referenzperson und den Klägern auszugehen. Die Referenzperson habe im Asylverfahren angegeben, seit ihrer Kindheit in einem Internat gelebt und ihre Familie seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen zu haben, da sie selbst in Afghanistan und ihre Familie im Iran gelebt habe. Sie habe auch weder die richtige Anzahl ihrer Geschwister benennen noch deren Geschlecht und Namen richtig bezeichnen können.

Mit der hiergegen am 22. Dezember 2022 erhobenen Klage machten die Kläger geltend, die Referenzperson habe im Internat gelebt, da ihr dies ermöglicht habe, als Mädchen Mitglied eines Orchesters zu sein und weltweit aufzutreten. Bis zum Jahr 2016 habe sie zweimal im Jahr ihre Ferien bei der Familie verbracht. Nach deren Flucht in den Iran im Jahr 2016 habe telefonisch Kontakt zur Familie bestanden. Dass sie ihre jüngste Schwester nicht benannt habe, könne auf Vergessen oder auf der mit der Befragung einhergehenden psychischen Belastung beruhen. Auch die damalige Unkenntnis vom genauen Aufenthaltsort der Kläger innerhalb des der Referenzperson unbekannten Landes Iran sei nachvollziehbar.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 13. Juni 2023 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Anspruch der Kläger zu 1 und 2 nach § 36 Abs. 1 AufenthG scheitere daran, dass die Referenzperson im maßgeblichen Zeitpunkt der behördlichen bzw. der tatsachengerichtlichen Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung nicht mehr minderjährig gewesen sei. Ein Anspruch nach Artikel 10 Abs. 3 Buchst. a der Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG - FZ-RL - scheitere jedenfalls daran, dass die Referenzperson zum Zeitpunkt der Asylantragstellung weder minderjährig noch unbegleitet im Sinne der Richtlinie gewesen sei. Das von den Klägern vorgetragene Geburtsdatum der Referenzperson, der _____2004, sei nicht durch die vorgelegte Tazkira bewiesen. Deren Echtheit und inhaltliche Richtigkeit sei zweifelhaft. Die Beklagte habe hierzu nachvollziehbar ausgeführt, die darin enthaltene Angabe des Geburtsdatums sei untypisch, da es an einer zusätzlichen Angabe des Alters fehle. Zudem sei lediglich in der Tazkira der Referenzperson der Nachname aufgeführt, welcher bei den Tazkiras der übrigen Familienmitglieder fehle. Die Tazkira enthalte weder Informationen zum Ausstellungsdatum noch seien die Unterschriften datiert. Außerdem weiche die laufende Nummer vom bekannten Format ab, da sie lediglich aus vier statt aus sechs Ziffern bestehe. Das Dokument erwecke nach Einschätzung der Botschaft den Eindruck, es sei auf Bestellung angefertigt worden. Eine physikalisch-technische Urkundenuntersuchung durch das Bundesamt habe zudem ergeben, dass der Vordruck inklusive Dokumentnummer kopiertechnisch erstellt worden sei, somit von bekanntem Vergleichsmaterial abweiche und daher davon ausgegangen werden könne, dass es sich um eine nicht amtliche Ausstellung handele. Zudem sei zu berücksichtigen, dass für die Referenzperson vor ihrer Flucht in die Bundesrepublik Deutschland Pässe existiert hätten, in denen als Geburtsdatum der ____2001 bzw. der ____2002 ausgewiesen sei. Der ____2004 könne auch nicht aufgrund anderer Umstände als richtiges Geburtsdatum zugrunde gelegt werden. Das im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens betreffend die Vormundbestellung erstellte Gutachten, nach dem die Referenzperson zum damaligen Zeitpunkt „nicht mit sehr großer Wahrscheinlichkeit über 18 Jahre alt sei“, belege die damalige Minderjährigkeit nicht. Nach dem Gutachten sei Voll- und Minderjährigkeit im begutachteten Zeitpunkt gleich wahrscheinlich. Der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Asylverfahren ausgestellte Bescheid vom 12. Mai 2020 entfalte gemäß § 6 Satz 1 AsylG nur insoweit Bindungswirkung, als über den Asylantrag verbindlich entschieden worden sei. Auch die der Referenzperson ausgestellte Aufenthaltserlaubnis habe nur insoweit Tatbestandswirkung, als damit die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts begründet werde. Das im Reiseausweis für Flüchtlinge bescheinigte Geburtsdatum sei nach der Rechtsprechung widerlegbar. Das sei hier aufgrund der genannten Umstände anzunehmen. Überdies habe die als Zeugin vernommene Referenzperson nicht nachvollziehbar machen können, ob und ggf. woher sie ihr eigenes Geburtsdatum tatsächlich kenne. Sie habe im Rahmen der Beweisaufnahme ausgesagt, sich nicht erinnern zu können, wie alt sie gewesen sei, als sie zum Musikinternat gewechselt, als ihr älterer Bruder aus Afghanistan geflohen sei oder als ihre jüngeren Geschwister zur Welt gekommen seien. Auch ihr Alter im Zeitpunkt ihrer eigenen Einschulung habe die Zeugin nicht sicher benennen, sondern lediglich schätzen können. Soweit der bereits früher als sie nach Deutschland eingereiste und als Vormund bestellte ältere Bruder als Zeuge ausgesagt habe, Daten und Alter einer Person hätten in der afghanischen Kultur keine große Bedeutung, möge dies zwar die Aussagen der Zeugin plausibel erklären. Jedoch bestärke es gleichzeitig die erheblichen Zweifel hinsichtlich der Frage, ob sie tatsächlich in der Lage gewesen sei, Geburtsdatum und -jahr sicher zu benennen. Dies werde bekräftigt durch die Aussage des Bruders, in Afghanistan wisse keiner, wann genau er Geburtstag habe; auch die Entscheidung über den Zeitpunkt der Einschulung eines Kindes treffe man nicht anhand des Alters, sondern danach, wann das Kind die Schneidezähne verliere oder wann es vernünftig sprechen könne. Das Geburtsdatum werde nicht in einem System gespeichert, sondern später von den Eltern geschätzt. Im Hinblick auf das deshalb unklare und auch nicht schätzungsweise eingrenzbare Alter der Zeugin bei ihrer Einschulung könne schließlich aus der Aussage, sie sei im Zeitpunkt der Flucht im Jahr 2019 in der 9. Klasse gewesen, das Geburtsdatum nicht zuverlässig eingegrenzt oder auf dieses geschlossen werden. Weiter seien neben dem nunmehr benannten Geburtsdatum weitere Geburtsdaten von ihrem Bruder benannt worden, der ____2003 oder 2004 sowie in der Klageschrift der ____2004. Auch wenn die Pässe der Referenzperson für Reisen zu Orchesterauftritten auf Veranlassung des Internats ein falsches Geburtsdatum auswiesen, um ihr das Reisen ohne ihre Eltern zu ermöglichen, könne daraus nicht mit hinreichender Sicherheit auf deren Minderjährigkeit im Zeitpunkt der Asylantragstellung geschlossen werden. Selbst wenn die Daten der Pässe falsch sein sollten, seien dadurch die bestehenden Zweifel an dem angegebenen Geburtsdatum nicht ausgeräumt. Artikel 11 Abs. 2 Satz 2 FZ-RL, wonach die Ablehnung eines Antrags nicht ausschließlich mit dem Fehlen von Belegen begründet werden dürfe, stehe nicht entgegen. Die Ablehnung beruhe hier nicht ausschließlich auf fehlenden Belegen, sondern auf den unstimmigen und unklaren Angaben der Kläger und der dazu vernommenen Zeugen. Der Anspruch scheitere unabhängig davon daran, dass der Antrag auf Familienzusammenführung nicht binnen drei Monaten nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit Bescheid vom 12. Mai 2020 gestellt worden sei. Erst recht lasse sich nicht feststellen, dass die Referenzperson bei der Visa-Antragstellung am 25. Januar 2022 noch (immer) minderjährig gewesen sei.

Die Referenzperson sei zum Zeitpunkt der Asylantragstellung auch nicht mehr unbegleitet im Sinne des Artikels 10 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Artikel 2 Buchst. f FZ-RL gewesen. Ein Flüchtling sei nicht unbegleitet im Sinne dieser Bestimmungen, wenn ein deutsches Gericht ihm vor Asylantragstellung ein volljähriges Geschwister als Vormund bestelle, denn dann befinde er sich in der Obhut eines nach nationalem Recht verantwortlichen Erwachsenen. Dies gelte jedenfalls dann, wenn kein Amtsvormund, sondern ein volljähriges Familienmitglied des Flüchtlings als Vormund bestellt werde. Hier habe das Amtsgericht M_____ mit Beschluss vom 27. Dezember 2019 nach der Einreise der Referenzperson, aber vor deren Asylantragstellung das Ruhen der elterlichen Sorge festgestellt und den volljährigen Bruder der Referenzperson, in dessen Obhut sie sich ausweislich des Inhalts der Ausländerakte befunden habe, als Vormund bestellt. Auf die Frage, ob zwischen der Referenzperson und den Klägern familiäre Bindungen bestünden, komme es vor diesem Hintergrund nicht an.

Die Kläger zu 3 bis 5 hätten keinen Nachzugsanspruch aus § 32 Abs. 1 AufenthG, weil es am erforderlichen Aufenthaltstitel der Eltern fehle. Die Kläger zu 1 bis 5 könnten eine Aufenthaltserlaubnis auch nicht nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte bekommen. Insbesondere sei die volljährige Referenzperson nicht auf die Lebenshilfe ihrer Eltern angewiesen. Ein Anspruch bestehe auch nicht nach § 22 AufenthG aus humanitären Gründen.

Mit der Berufung verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Sie machen geltend, die Referenzperson sei im maßgeblichen Zeitpunkt der Asylantragstellung minderjährig gewesen. Hierzu verweisen sie auf deren vorgelegte Geburtsurkunde (Tazkira). Dass es an der zusätzlichen Angabe des Alters fehle, sei nicht untypisch. Vielmehr sei es üblich, dass kein genaues Geburtsdatum genannt, sondern das jeweilige Alter der zu beurkundenden Person in Jahren bei Ausstellung angegeben werde, während sich in der beglaubigten englischen Form in der Regel ein genaues Geburtsdatum befinde. Dementsprechend sei auch in der Geburtsurkunde der Referenzperson in der Dari-Fassung ein geschätztes Alter zum Zeitpunkt der Ausstellung angegeben, während sich in der englischen Fassung das Geburtsdatum nach afghanischer Zeitrechnung, der ____1383, bzw. zusätzlich nach dem gregorianischen Kalender der _____2004, befinde. Das sei allgemein bei Ausstellung afghanischer Tazkira üblich. Weitere Altersangaben gebe es grundsätzlich nicht. Die Unrichtigkeit oder Unechtheit der Geburtsurkunde lasse sich auch nicht damit begründen, dass bei der Referenzperson der Nachname aufgeführt sei, jedoch nicht bei den übrigen Familienmitgliedern. Das Urkundenwesen in Afghanistan sei bekanntermaßen sehr fragil und Eintragungen in der Geburtsurkunde oft ungenau. Auch im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Juli 2020 werde ausgeführt, dass Eintragungen ungenau seien, Geburtsdaten häufig lediglich in Form von Alter und Jahr der Beantragung erfasst, genaue Geburtsdaten selten erfasst und dann meistens geschätzt würden. Es gebe keine einheitlichen Druckverfahren oder Sicherheitsmerkmale für die Tazkira. Es existiere kein Personenstands- oder Staatsangehörigkeitsregister in Afghanistan. Da Tazkira sowohl zentral in Kabul als auch im Geburtsort ausgestellt würden, könne es vorkommen, dass eine Person mehrere Tazkira mit unterschiedlichen Daten besitze. Vorliegend treffe es zwar zu, dass das Dari-Dokument kein Ausstellungsdatum besitze, jedoch mit Unterschriften versehen sei, während das englische Dokument das Ausstellungsdatum und einen Stempel trage. Gleichwohl könne nicht zwangsläufig davon ausgegangen werden, dass die angegebenen Daten falsch seien. Das gelte auch für den Umstand, dass das Dokument kopiertechnisch erstellt worden sei. In der Akte des Bundesamts befinde sich der Vermerk, das Dokument sei als Ersatz ausgestellt worden. Die der Referenzperson vor ihrer Flucht ausgestellten Pässe enthielten unrichtige Geburtsdaten. Sie sei dort älter gemacht worden, um in anderen Ländern auf Konzertreise ohne familiäre Begleitung gehen zu können. Sicherheit bestehe insoweit nicht, weil die Pässe durch die Musikakademie beantragt und aufbewahrt worden seien. Bei der Würdigung des Altersfeststellungsgutachtens vom 11. November 2019 lasse das Verwaltungsgericht außer Acht, dass im Gutachten explizit ausgeführt werde, dass die Referenzperson „nicht mit sehr großer Wahrscheinlichkeit über 18 Jahre alt“ sei und das angegebene Geburtsdatum _____2004 mit den Befunden übereinstimme. Dies habe auch zur Bestellung der Vormundschaft geführt. Vor dem Hintergrund, dass afghanische Staatsangehörige ihrem Geburtsdatum keine Bedeutung beimäßen, da dies in ihrer Kultur unüblich sei, könne auch nicht von der Referenzperson verlangt werden, nachvollziehbar darzulegen, in welchem Alter sie eingeschult oder auf das Internat gewechselt sei. Die spätere Bestellung ihres volljährigen Bruders zum Vormund schließe die Annahme, die Referenzperson sei „unbegleitet“ im Sinne des Artikels 2 Buchst. f FZ-RL, nicht aus. Zum einen komme es insoweit grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Einreise an. Spätere Umstände könnten nur dann berücksichtigt werden, wenn ein nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlicher Erwachsener den Minderjährigen in Obhut nehme. Daran fehle es jedenfalls deshalb, weil die Referenzperson durchgängig bis heute in einer Jugendwohnung durch das Jugendamt untergebracht und vom Jugendamt bis heute als junge Erwachsene aufgrund weiteren Betreuungsbedarfs betreut werde. Der Bruder habe zum damaligen Zeitpunkt selbst in einer Jugendwohnung gelebt und sei lediglich für die behördenrechtlichen Angelegenheiten der Referenzperson verantwortlich gewesen. Der Nachzugsanspruch der Kläger zu 3 bis 5 ergebe sich wegen Vorliegens einer außergewöhnlichen Härte aus § 36 Abs. 2 AufenthG. Die minderjährigen Kläger seien auf die Betreuung und Versorgung durch ihre Eltern angewiesen und könnten nicht allein in Afghanistan zurückbleiben, da sie dort nicht überleben würden. Sie lebten seit ihrer Geburt zusammen mit ihren Eltern, von denen sie ausschließlich versorgt und betreut würden. Die Kläger verfügten über ausreichenden Wohnraum in der Wohnung des hier bereits lebenden Bruders. Eine ausreichend große Wohnung habe dieser angemietet, er sei in Vollzeit berufstätig und könne auch den Lebensunterhalt der Geschwister sicherstellen.

Die Kläger beantragen,

das Urteil des Verwaltungsgericht Berlin vom 13. Juni 2023 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide vom 8. Dezember 2022 zu verpflichten, den Klägern Visa zum Zwecke der Familienzusammenführung zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil und führt ergänzend aus: Im Falle der sich aus den Reisepässen der Referenzperson ergebenden Geburtsdaten wäre diese in einem Fall (Geburtsdatum ____2001) bereits bei ihrer Einreise volljährig gewesen, so dass der Anspruch auf Familiennachzug von vornherein ausschiede. Im anderen Fall (Geburtsdatum ____2002) wäre sie vor Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft am 12. Mai 2020 volljährig geworden. Dann hätte der Antrag auf Familienzusammenführung binnen drei Monaten gestellt werden müssen. Das sei nicht geschehen. Die Visa seien erst am 25. Januar 2022 beantragt worden. Es sei aus den Gründen des angefochtenen Urteils zweifelhaft, ob die Referenzperson am angegebenen Datum _____2004 geboren sei. Hinsichtlich der fehlenden familiären Bindung halte die Beklagte an ihrer Auffassung fest und verweise auf die Begründung der Ablehnungsbescheide. Spätestens mit Bestellung des erwachsenen Bruders zum Vormund der Referenzperson nach deutschem Recht könne dieser als verantwortlicher Erwachsener im Sinne des Artikels 2 Buchst. f FZ-RL betrachtet werden. Der verantwortliche Erwachsene müsse auch nicht bereits bei Einreise die Personensorge innehaben. Nicht ausschlaggebend sei außerdem, ob das afghanische Sorgerecht die Übertragung der Vormundschaft auf den Bruder vorsehe. Eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG liege aus den Gründen des angefochtenen Urteils nicht vor. Die Kläger hätten auch keinen Anspruch auf Aufenthaltserlaubnisse nach § 22 Satz 1 AufenthG. Ihre Lebensumstände unterschieden sich nicht von denen der meisten anderen afghanischen Staatsangehörigen.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt und sich zur Sache nicht geäußert.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Streitakten, der Akten des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens - OVG 6 S 18/22 - sowie der Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Beigeladenen verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

I. Der Senat konnte trotz Ausbleibens der Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung entscheiden, weil diese in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO).

II. Die Berufung der Kläger ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klage ist unbegründet. Die Kläger können die Erteilung der begehrten Visa nicht verlangen. Die Ablehnung ihres hierauf gerichteten Begehrens durch die Beklagte ist rechtmäßig und verletzt sie daher nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

1. Die Kläger zu 1 und 2 haben keinen Nachzugsanspruch nach § 6 Abs. 3, § 36 Abs. 1 AufenthG in der zuletzt durch Gesetz vom 12. Juli 2018 (BGBl. I S. 1147) geänderten Fassung.

Danach ist den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG besitzt, abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (Sicherung des Lebensunterhalts) und § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (ausreichender Wohnraum) eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält. Mit der Vorschrift wurde den Vorgaben der Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG - FZ-RL - zum Nachzug zu unbegleiteten Minderjährigen Rechnung getragen (Bergmann/Dienelt/Dienelt, 14. Auflage 2022, AufenthG § 36 Rn. 1). Daher ist sie im Lichte dieser Richtlinie in der Interpretation, die sie durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs erfahren hat, auszulegen. Danach ist Artikel 2 Buchst. f i.V.m. Artikel 10 Abs. 3 Buchst. a FZ-RL so zu verstehen, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Antrages in diesem Staat unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als „Minderjähriger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 -, Rn. 65). Diese Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor.

a) Die Referenzperson ist im danach maßgeblichen Zeitpunkt nicht minderjährig gewesen. Das ergibt sich aus den Angaben in ihren beiden Reisepässen.

Der Verwaltungsvorgang enthält einen vom Bundesverwaltungsamt durchgeführten Bestandsabgleich aus dem Ausländerzentralregister zu der Referenzperson. Diesem Bestandsabgleich lassen sich die in den Reisepässen dokumentierten Personaldaten der Referenzperson entnehmen sowie die Daten der ihr erteilten Visa, die es ihr ermöglicht haben, während ihrer Zeit im Musikinternat Reisen zu Orchesterauftritten zu unternehmen.

Reisepässe sind amtliche Ausweispapiere zur Feststellung der Identität und des Geburtsdatums einer Person. Der amtliche Charakter legt es nahe, auf diese Dokumente abzustellen. Sie haben dem Senat zwar nicht vorgelegen. Ihre Existenz ergibt sich allerdings aus dem von der Beklagten überreichten, die Referenzperson betreffenden Verwaltungsvorgang. Vor diesem Hintergrund hat der Senat keine Zweifel an der Echtheit der Reisepässe, zumal davon auszugehen ist, dass diese sowohl beim Ausstellen des jeweiligen Visums als auch bei jeder der Einreisen durch die zuständigen Behörden der Schengen-Staaten geprüft worden sind. Die Richtigkeit der in dem Bestandsabgleich enthaltenen Angaben ist zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit.

Zwar nennen die im Abstand von einem Jahr ausgestellten Pässe unterschiedliche Geburtsdaten. Der erste der beiden Pässe wurde am 3. März 2015 ausgestellt und nennt als Geburtsdatum den ____2001. Am 6. März 2016 wurde ein weiterer Reisepass ausgestellt, der als Geburtsdatum den ____2002 nennt. Dies weckt jedoch keine Zweifel daran, dass die Referenzperson spätestens zu dem letzteren der beiden Daten geboren ist. Die afghanischen Behörden legen nach dem insoweit plausiblen Vortrag der Kläger und den Angaben der Referenzperson sowie ihres Bruders in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht, das beide als Zeugen vernommen hat, mangels eines brauchbaren Personenstandswesens in derartigen Angelegenheiten regelmäßig die Angaben der Antragsteller zugrunde. Hiervon geht der Senat auch in Bezug auf die Angaben in den Reisepässen aus. Soweit die Referenzperson vor dem Verwaltungsgericht angegeben hat, das Musikinternat habe sich um die Reisepässe gekümmert, hat sie keine näheren Belege dafür angeführt. Dem Senat erscheint ihre Darlegung als Mutmaßung. Das entspricht auch der schriftsätzlichen Darstellung der Prozessbevollmächtigten der Kläger (vgl. Schriftsatz vom 28. August 2023). Selbst wenn man allerdings ein entsprechendes Vorgehen des Musikinternats unterstellte, änderte dies nichts daran, dass für die Bestimmung des Alters der Referenzperson auf die Angaben in den Reisepässen abzustellen ist.

Hierfür spricht entscheidend, dass die Familie der Referenzperson zum Zeitpunkt der Ausstellung der Reisepässe noch nicht damit rechnen konnte, durch die Angabe eines späteren Geburtsdatums der Referenzperson Vorteile im hiesigen Verfahren zu erlangen. Dies gilt gleichermaßen für das Musikinternat, soweit dessen Wunsch unterstellt würde, zu bewirken, dass die Referenzperson an Auslandsreisen des Orchesters teilnimmt.

Soweit die Kläger in ihrem Schriftsatz vom 28. August 2023 (nur) für möglich halten, bei der Beantragung der Reisepässe durch die Musikakademie sei ein höheres Alter angegeben worden, um der Referenzperson ebenso wie anderen minderjährigen Orchestermitgliedern die Reise ohne Familienverbund zu ermöglichen, handelt es sich - wie bereits ausgeführt - zum einen um eine Spekulation. Zum anderen ist diese Spekulation nicht plausibel. Es ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass es nach afghanischem Recht für die Möglichkeit, ohne die Eltern zu reisen, auf den fraglichen Altersunterschied (einerseits ____2004, andererseits _____2001 bzw. ____2002) ankomme. Dies lässt die Darstellung verfahrensangepasst erscheinen.

Jungen benötigen nach afghanischem Recht bis zur Vollendung des siebenten Lebensjahres, Mädchen bis zur Vollendung des neunten Lebensjahres eine Person, die sie praktisch betreut, versorgt und erzieht (Heinrich/Dutta/Ebert, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Afghanistan, S. 39). Gemäß Artikel 249 des afghanischen Zivilgesetzbuchs vom 5. Januar 1977 - ZGB - (zitiert nach Heinrich/Dutta/Ebert, a.a.O.) endet die primär der Mutter obliegende tatsächliche Personensorge für Jungen und Mädchen mit Vollendung des jeweils genannten Lebensjahres. Mit Vollendung des 18. Lebensjahres tritt Volljährigkeit ein (Artikel 39 Satz 1 ZGB). Für Auslandsreisen ohne elterliche Begleitung ergibt sich beim Vergleich des von der Klägerin im Visumverfahren angegebenen Geburtsdatums mit den Geburtsdaten aus den beiden Reisepässen kein Unterschied.

Aus den Regelungen des afghanischen ZGB zu Reisen Minderjähriger folgt nichts anderes. Gemäß Artikel 252 ZGB kann die Mutter nicht ohne Erlaubnis des Vaters das Kind mit auf eine Reise nehmen, solange sie verheiratet ist oder sich in der Wartezeit befindet. Der Vater des Kindes kann nicht während der Dauer der tatsächlichen Personensorge ohne Erlaubnis des tatsächlichen Personensorgeberechtigten das Kind mit auf eine Reise nehmen (Artikel 254 ZGB). Ab welchem Zeitpunkt unbegleitete Reisen möglich sind, regelt das afghanische Recht nicht ausdrücklich. Es kann vor dem dargelegten Hintergrund allerdings angenommen werden, dass sie jedenfalls mit Volljährigkeit möglich sind.

Die Referenzperson war - mit einer Ausnahme - bei den von ihr unternommenen Reisen nach den in den Reisepässen angegebenen Geburtsdaten nicht volljährig. Mit dem am 3. März 2015 ausgestellten Reisepass ist die Klägerin viermal in Europa eingereist. Erstmals erfolgte dies mit einem vom 14. Januar 2017 bis 2. Februar 2017 gültigen Visum. Zu diesem Zeitpunkt war sie nach dem im Reisepass angegebenen Geburtsdatum (_____2001) 15 Jahre alt. Ein weiteres Mal ist sie mit einem vom 31. Mai bis zum 3. Juli 2018 gültigen Visum eingereist, so dass sie nach dem angegebenen Geburtsdatum zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt war. Erneut eingereist ist sie mit einem vom 4. bis zum 27. März 2019 gültigen Visum. Danach wäre sie zu Beginn der Geltungsdauer des Visums 17 und bei deren Ablauf 18 Jahre alt gewesen. Allein bei der letzten Einreise mit diesem Reisepass, für die ihr ein vom 10. bis zum 18. Juli 2019 gültiges Visum ausgestellt wurde, war sie bei Zugrundelegung des im Reisepass angegebenen Geburtsdatums bereits 18 Jahre alt und damit volljährig. Bei der nach den gespeicherten Daten einzigen Reise der Referenzperson mit dem am 6. März 2016 ausgestellten Reisepass (Geburtsdatum _____2002) war sie während der Gültigkeitsdauer des ihr erteilten Visums (25. September bis 16. Oktober 2018) 16 Jahre alt.

Vor diesem Hintergrund erschließt sich nicht, dass die Referenzperson in den Reisepässen „älter gemacht“ worden sei, als sie ist. Im Gegenteil begründet das Fehlen einer plausiblen Erklärung für den behaupteten Umstand durchgreifende Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Angaben zu einem höheren Alter der Referenzperson.

Diese Zweifel werden verstärkt durch die von den Klägern für die Referenzperson vorgelegte Tazkira, die als ihr Geburtsdatum den ____2004 nennt.

Der Senat hält die Tazkira für nicht echt.

Die Tazkira wurde nach den von den Klägern nicht bestrittenen Feststellungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. Februar 2020 einschließlich der Dokumentnummer nur kopiertechnisch erstellt und weicht von bekanntem Vergleichsmaterial ab. Der hieraus von dem Bundesamt gezogene Schluss, es handele sich nicht um eine amtliche Ausstellung, ist plausibel.

Das Verwaltungsgericht hat sich darüber hinaus ebenso schlüssig auf das Vorbringen der Beklagten gestützt, in der Tazkira fehle die Angabe des Alters neben dem Geburtsdatum, das typischerweise aufgeführt werde. Die Beklagte verfügt durch ihre Auslandsvertretungen über besonderes Fachwissen und umfangreiche praktische Erfahrungen in diesem Bereich. Zudem spricht für die Richtigkeit ihrer Einschätzung, dass bei den Tazkira der übrigen Familienmitglieder das Alter aufgeführt ist, und zwar in den Dokumenten sowohl des Innenministeriums (Klägerin zu 4) als auch der zentralen Registrierungsbehörde (übrige Kläger). Die pauschale Bekundung der Kläger, das Fehlen der Altersangabe sei „nicht untypisch“, zieht das grundsätzliche Erfordernis der Altersangabe nicht in Zweifel. Warum die Abweichung nicht untypisch sei, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.

Eine weitere Abweichung besteht darin, dass der Familienname lediglich in der Tazkira der Referenzperson, nicht aber in denjenigen der übrigen Familienmitglieder angegeben wird. Darüber hinaus wurde für die Tazkira der fünf Kläger ein einheitliches Muster verwendet, obwohl die Ausstellungsdaten sich voneinander unterscheiden (Kläger zu 1: 31. Oktober 2018, Klägerin zu 2: 5. Juli 2020, Klägerin zu 3: 22. September 2020, Klägerin zu 4: 22. Oktober 2010, Kläger zu 5: 7. Juli 2020), während einzig die Tazkira der Referenzperson von diesem Muster abweicht.

Der pauschale Einwand der Kläger, das Urkundenwesen in Afghanistan sei sehr fragil und Eintragungen in Geburtsurkunden seien oft ungenau, ist nicht geeignet, die durchgreifenden Zweifel an der Echtheit der für die Referenzperson vorgelegten Tazkira zu beseitigen. Nach Feststellung des Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom 16. Juli 2020, auf den sich die Kläger für ihren Vortrag beziehen, kommen verfahrensangepasste Dokumente auch häufig vor. Der ebenso allgemein gehaltene Einwand der Kläger, es könne „nicht zwangsläufig davon ausgegangen werden, dass die angegebenen Daten falsch seien“, geht an den dargelegten konkreten und durchgreifenden Hinweisen auf die fehlende Echtheit der von der Referenzperson vorgelegten Tazkira vorbei.

Selbst wenn man aber annähme, die Tazkira sei von den afghanischen Behörden und damit amtlich ausgestellt, würde dies zu keiner abweichenden Einschätzung führen. Nach den Angaben der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat beruhen die in den in Afghanistan ausgestellten Tazkira angegebenen Daten auf den Angaben der jeweiligen Antragsteller. Die Tazkira der Referenzperson wurde ausweislich des darauf befindlichen Stempelaufdrucks am 18. September 2018 ausgestellt. Es ist davon auszugehen, dass der Referenzperson zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt war, dass es für etwaige Nachzugsansprüche ihrer Familienangehörigen auf ihre Minderjährigkeit ankomme. Zwar reiste sie selbst erst im August 2019 nach Deutschland ein. Zum angegebenen Ausstellungszeitpunkt befand sich ihr nach eigenen Angaben am _____1999 geborener Bruder aber bereits als Flüchtling in Deutschland. Ein Nachzugsanspruch der übrigen Familienmitglieder auf Grundlage des § 36 Abs. 1 AufenthG konnte von ihm nicht abgeleitet werden, weil lediglich Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG festgestellt wurden. Er ist deshalb auch lediglich im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG, die nicht zum Katalog der in § 36 Abs. 1 AufenthG aufgeführten Aufenthaltstitel zählt und deshalb keine Nachzugsansprüche für Verwandte in gerader Linie ermöglicht.

Nach alledem ist die Tazkira von vornherein nicht geeignet, Zweifel an dem Alter der Referenzperson zu wecken.

Soweit die Referenzperson das in der Tazkira angegebene Alter als zutreffend angibt, ist dies vor dem dargelegten Hintergrund verfahrensangepasst.

Das Vorliegen unterschiedlicher Dokumente und Informationen in Bezug auf das Alter der Referenzperson führt auch nicht als solches zu durchgreifenden Zweifeln an dem Alter. Die gerichtliche Überzeugungsbildung fußt nicht auf der Zahl von Angaben oder deren formeller Übereinstimmung, sondern auf dem jeweiligen Gewicht im Rahmen einer Gesamtschau. Der Verweis der Kläger auf die Konkurrenz der Altersangaben, zu der sie durch Vorlage einer - unechten - Tazkira beigetragen haben, führt daher nicht schon zu dem Schluss, über das Alter der Referenzperson sei Gewissheit nicht zu erlangen. Vielmehr hat die von dem Senat vorgenommene Gesamtschau zum Ergebnis, dass das Alter in den am 3. März 2015 bzw. am 6. März 2016 ausgestellten Reisepässen zugrunde zu legen ist, da deren Ausstellung anders als die laut Stempelaufdruck am 18. September 2018 erfolgte Ausstellung der Tazkira und anders als das Vorbringen im laufenden Verfahren noch nicht durch verfahrensbezogene Erwägungen beeinflusst werden konnte.

Vor dem dargelegten Hintergrund führen auch die nicht hinreichend konkreten Feststellungen in dem vom Vormundschaftsgericht eingeholten „Gutachten Altersdiagnostik“ vom 11. November 2019 nicht dazu, auf andere Erkenntnisse als die Geburtsdaten in den Reisepässen abzustellen.

Das Gutachten äußert in der „Zusammenfassenden Beurteilung und Bewertung“, aufgrund der dort vorliegenden altersrelevanten röntgenologischen Merkmale lasse sich feststellen, dass die Untersuchte zur Untersuchungszeit „nicht mit sehr großer Wahrscheinlichkeit über 18 Jahre alt“ sei. Das Mindestalter liege „in diesem Fall bei 15 Jahren.“ Das angegebene Geburtsdatum ____2004 stimme mit „den Befunden überein“.

In der Beurteilung der Befunde unter Ziffer 5. vermerkt das Gutachten, die Weisheitszähne 38 und 48 zeigten eine fast abgeschlossene Kronenbildung bis zur Schmelz-Zement-Grenze. Dieser Entwicklungsstand sei einem Stadium E zuzuordnen und werde mit einem mittleren Durchschnittsalter von 13 bis 18 Jahren beschrieben. Ohne dass es hierauf noch ankäme, wird diese Angabe durch eine im Internet allgemein zugängliche Publikation gestützt, nach der in einer Übersichtstabelle für die Molaren 38 und 48 im Stadium E bei Probandinnen ein mittleres Alter von 16,8 bzw. 17,2 Jahren bei Standardabweichungen von 2,3 bzw. 2,4 Jahren angegeben wird (Leidl, Altersbestimmung am Lebenden mittels radiologischer Mineralisationsklassifikation der Weisheitszähne, Tabelle 1, S. 34).

Nach alledem bot die ärztliche Untersuchung keine hinreichende Grundlage für eine genauere Eingrenzung des Alters in Bezug auf die Frage der Minderjährigkeit. Dass das von der Referenzperson zuletzt angegebene Geburtsdatum laut Gutachten mit den Befunden übereinstimme, bedeutet im Lichte der weiteren Feststellung, die Untersuchte sei „nicht mit sehr großer Wahrscheinlichkeit über 18 Jahre alt“, lediglich, jenes Geburtsdatum liege innerhalb einer Lebensaltersspanne, die unter anderem das nach klägerischer Auffassung zutreffende - ebenso jedoch das nach Überzeugung des Senats gegebene - Lebensalter einschließt. Eine weitere Aufklärung des Sachverhalts durch Einholung eines erneuten Altersfeststellungsgutachtens zum gegenwärtigen Zeitpunkt erscheint nicht angezeigt. Das Altersgutachten vom 11. November 2019 stellt fest, ein Erkenntnisgewinn durch weiterführende Röntgenaufnahmen der Hand bzw. der Clavicula sei in dem vorliegenden Fall nicht zu erwarten.

Sind nach alledem zur Bestimmung des Geburtsdatums der Referenzperson die Angaben in ihren beiden Reisepässen maßgeblich, so lagen zu keinem der beiden dort genannten Geburtsdaten die Voraussetzungen eines Nachzugsanspruches für die Kläger zu 1 und 2 nach § 36 Abs. 1 AufenthG vor.

Legt man den ____2001 als Geburtsdatum zugrunde, wäre die Referenzperson bereits bei ihrer Einreise nach Deutschland im August 2019 volljährig gewesen.

Legt man den _____2002 als Geburtsdatum zugrunde, wäre sie zwar bei Einreise und Asylantragstellung noch minderjährig gewesen, allerdings im Laufe des Flüchtlingsanerkennungsverfahrens volljährig geworden, da die Flüchtlingseigenschaft erst mit Bescheid vom 12. Mai 2020 zuerkannt wurde. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hätte deshalb der Antrag auf Erteilung der Visa zum Familiennachzug innerhalb einer Frist von drei Monaten nach der Flüchtlingsanerkennung gestellt werden müssen (Urteil vom 12. August 2022 - C-279/20 -, Rn. 54). Daran fehlt es. Die Kläger haben die hier streitigen Visa erst am 25. Januar 2022 bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Islamabad gestellt. Nichts anderes gilt, wenn man ihren Vortrag zugrunde legt, wonach sie die Anträge bereits am 8. September 2021 schriftlich bei der Botschaft gestellt hätten.

b) Offenbleiben kann vor diesem Hintergrund, ob das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen hat, die Referenzperson sei nicht als unbegleitet im Sinne des Artikel 10 Abs. 3 Buchst. a i.V.m. Artikel 2 Buchst. f FZ-RL anzusehen, weil ihr volljähriger Bruder durch ein deutsches Gericht vor der Stellung des Asylantrages als ihr Vormund bestellt wurde. Ebenso wenig muss entschieden werden, ob die Beklagte das Bestehen familiärer Bindungen im Sinne des Artikel 16 Abs. 1 Buchst. b FZ-RL zutreffend verneint.

2. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG für die Kläger zu 1 und 2 scheidet aus. Nach dieser Vorschrift kann - unbeschadet weiterer Voraussetzungen - Familienangehörigen eines Ausländers zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist.

Der Nachzug nach dieser Vorschrift ist auf seltene Ausnahmefälle beschränkt, in denen die Verweigerung des Visums und damit der Familieneinheit im Lichte von Artikel 6 GG, Artikel 8 EMRK grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen widerspräche, also schlechthin unvertretbar wäre. Die Besonderheiten des Einzelfalls müssen nach Art und Schwere so ungewöhnlich und groß sein, dass die Folgen der Visumversagung unter Berücksichtigung des Zwecks der Nachzugsvorschriften, die Herstellung und Wahrung der Familieneinheit zu schützen, sowie des Schutzgebots des Artikels 6 GG unvertretbar sind (BVerwG, Beschluss vom 25. Juni 1997 - 1 B 236.96 - juris Rn. 8). Dies setzt grundsätzlich voraus, dass der im Bundesgebiet oder der im Ausland lebende Familienangehörige allein ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung von familiärer Lebenshilfe angewiesen ist, und dass diese Hilfe zumutbarerweise nur im Bundesgebiet erbracht werden kann (BVerwG, Beschluss vom 25. Juni 1997, a.a.O. sowie BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 15.12 -, juris Rn. 12 m.w.N.). Hieraus folgt weiterhin, dass Nachteile im Herkunftsland, die allein wegen der dortigen allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse drohen, nicht zur Begründung einer außergewöhnlichen Härte im Zusammenhang mit der Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft herangezogen werden können (BVerwG, Urteil vom 25. Juni 1997 - 1 B 236.96 -, juris Rn. 9). Die außergewöhnliche Härte muss vielmehr familienbezogen sein (BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - BVerwG 10 C 9/12 – juris Rn. 23; vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. April 2018 - OVG 3 S 23.18 -, juris Rn. 2; Senatsurteil vom 2. August 2023 - OVG 6 B 3/23 -, juris Rn. 20).

Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist weder ersichtlich noch vorgetragen. Insbesondere ist insoweit zu berücksichtigen, dass die Referenzperson nicht nur nach den obigen Feststellungen, sondern auch nach dem Vortrag der Kläger mittlerweile volljährig und damit nicht mehr auf familiäre Unterstützung angewiesen ist. Denn maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz (BVerwG, Urteil vom 21. August 2018 - 1 C 22/17 - juris Rn. 11; Urteil vom 17. Dezember 2015 - 1 C 31/14 - juris Rn. 9).

3. Aus dem Vorstehenden folgt zugleich, dass die Kläger zu 3 bis 5 keinen Anspruch auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 32 Abs. 1 AufenthG herleiten können. Nach dieser Vorschrift ist dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil einen Aufenthaltstitel u.a. nach § 36 AufenthG besitzen. Letztgenannte Voraussetzung ist nicht erfüllt. Die Kläger zu 1 und 2 sind nicht im Besitz und sie haben aus den dargelegten Gründen auch keinen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels.

4. Aus den unter 2. dargelegten Gründen, haben auch die Kläger zu 3 bis 5 keinen Anspruch auf Aufenthaltserlaubnisse nach § 36 Abs. 2 AufenthG.

5. Die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen an die Kläger zu 1 bis 5 nach § 22 Satz 1 AufenthG aufgrund dringender humanitärer Gründe scheidet aus, weil weder ersichtlich noch geltend gemacht ist, dass sie sich in einer Lage befänden, die sich signifikant von der Lage der übrigen Bevölkerung Afghanistans unterscheidet.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 der Zivilprozessordnung.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.