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Entscheidung 12 U 31/24


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 12. Zivilsenat Entscheidungsdatum 07.11.2024
Aktenzeichen 12 U 31/24 ECLI ECLI:DE:OLGBB:2024:1107.12U31.24.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 20.02.2024 verkündete Urteil der 6. Zivilkammer - Einzelrichter - des Landesgerichts Potsdam, Az. 6 O 71/23, teilweise abgeändert.

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 50,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 11.02.2023 zu zahlen.

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 713,76 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 21.05.2023 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen hat der Kläger zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht gemäß den §§ 517 ff. ZPO eingelegte Berufung der Beklagten hat auch in der Sache überwiegend Erfolg.

Dem Kläger steht einen Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld im Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall vom 02.12.2022 aus den §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 S. 1 StVG, 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG nur unter Berücksichtigung einer Mithaftung von 1/3 zu.

Die Haftung der Beklagten dem Grunde nach aus § 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 S. 1 StVG wird von diesen nicht infrage gestellt. Das Fahrzeug des Klägers wurde bei dem Unfall beschädigt und dieser in seiner Gesundheit verletzt. Die Haftung ist auch nicht nach § 7 Abs. 2 StVG ausgeschlossen.

Keine der Parteien hat den ihr obliegenden Nachweis geführt, dass der Verkehrsunfall ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG gewesen ist. Die Beklagten machen dies bereits nicht geltend, da ein Verstoß des Beklagten zu 1. gegen § 9 Abs. 3 S. 1 sowie § 9 Abs. 5 StVO unstreitig gestellt wird. Auch der Kläger hat den ihm obliegenden Unabwendbarkeitsnachweis nicht geführt. Ihm ist vielmehr nach den tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts, die in der Berufung nicht infrage gestellt werden und damit nach § 529 ZPO zugrundezulegen sind, ein Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO (Überholen bei unklarer Verkehrslage) vorzuwerfen.

Entgegen der Auffassung des Landgerichts liegt ein Überholvorgang des Klägers vor. Überholen ist der tatsächliche, absichtslose Vorgang des Vorbeifahrens auf demselben Straßenteil (Fahrbahn) an einem anderen Verkehrsteilnehmer, der sich in derselben Richtung bewegt oder verkehrsbedingt wartet (vgl. König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. § 5 StVO Rn. 16). Eine Erhöhung der Geschwindigkeit setzt der Begriff des Überholens ebenso wenig voraus wie einen Fahrstreifenwechsel, sodass es nicht darauf ankommt, ob der Kläger beim Überholen die Gegenfahrbahn benutzt hat. Es liegt auch ein verkehrsbedingtes Anhalten der am rechten Fahrbahnrand wartenden Fahrzeuge vor. Dies ist der Fall beim Warten aus Gefälligkeit gegenüber einem anderen Verkehrsteilnehmer (vgl. König a.a.O.). So liegt der Fall auch hier. Die am Fahrbahnrand wartenden und nach rechts blinkenden Fahrzeuge haben verkehrsbedingt angehalten, um dem in der Einfahrt befindlichen Lkw die Ausfahrt und dem Beklagten zu 1. das Linksabbiegen zu ermöglichen.

Unter diesen Umständen lag eine unklare Verkehrslage vor. Unklar ist die Lage, wenn nach allen Umständen mit gefahrlosem Überholen nicht gerechnet werden darf, weil z.B. das Verhalten anderer, für das beabsichtigte Überholen maßgeblicher Verkehrsteilnehmer (Querverkehr und der zu Überholende) ungewiss ist (vgl. KG NZV 2010, 506; OLG Hamm VRS 53, 138; OLG Köln MDR 2011, 290; OLG Saarbrücken NJW-Spezial 2010, 746). Eine unklare Situation liegt vor, wenn in einer haltenden Fahrzeugschlange erkennbar eine Lücke freigehalten ist, um dem Querverkehr das Überqueren oder aus einer Tankstelle das Einfahren zu ermöglichen (vgl. BayObLG NZV 1988, 77; KG VM 1992, 486; OLG Hamm NZV 1992, 238). Im Streitfall liegt eine vergleichbare Situation vor. Für den Kläger war erkennbar, dass die am rechten Fahrzeugrand haltenden und nach rechts blinkenden Fahrzeuge angehalten hatten, um dem in der Einfahrt befindlichen Lkw die Ausfahrt zu ermöglichen. Es bestand daher die Möglichkeit, dass der Lkw entweder nach links oder nach rechts in die Fahrspur des Klägers einbiegen würde, was einem ungefährdeten Überholvorgang entgegenstand. Zudem hatte der Kläger nach seinen eigenen Angaben bei seiner persönlichen Anhörung das Fahrzeug des Beklagten zu 1., das sich zum Linksabbiegen eingeordnet hatte, zu Beginn seines Überholvorganges bemerkt, sodass er auch damit rechnen musste, dass der Beklagte zu 1. durch die entstandene Lücke in die Einfahrt abbiegen könnte. Dies wird letztlich auch vom Landgericht so gesehen, dass jedenfalls von einer unübersichtlichen Verkehrslage ausgeht.

Auch unter dem Gesichtspunkt der sogenannten „Lückenfälle“ war der Kläger zu erhöhter Aufmerksamkeit verpflichtet. Danach darf ein vorfahrtsberechtigter Verkehrsteilnehmer beim Überholen einer Fahrzeugkolonne nicht uneingeschränkt auf die Achtung seines Vorranges vertrauen. Vielmehr hat er, wenn er an einer zum Stillstand gekommenen Fahrzeugkolonne vorbeifährt, bei Annäherung an eine Kreuzung oder Einmündung auf größere Lücken in der Kolonne zu achten und sich darauf einzustellen, dass diese Lücken vom Querverkehr benutzt werden. Er darf sich daher der Lücke nur mit voller Aufmerksamkeit und unter Beachtung einer Geschwindigkeit nähern, die ihm notfalls ein sofortiges Anhalten ermöglicht. Dies gilt nicht nur dann, wenn mit einem Einfahren des Querverkehrs wegen der Erkennbarkeit der Lücke zu rechnen war, sondern bereits dann, wenn eine Fahrzeugreihe vor einer Einmündung ins Stocken gerät. Dann muss derjenige, der diese Reihe überholen oder an dieser vorbeifahren will, mit dem Vorhandensein ihm unsichtbarer Hindernisse rechnen und seine Geschwindigkeit darauf einstellen (vgl. BGH, Urteil vom 04.06.2024 – VI ZR 374/23, NJW 2024, 1046, juris Rn. 16 m.w.N.). Ein vorausschauender „Idealfahrer“ hätte daher beim Annähern an die wartenden Fahrzeuge seine Geschwindigkeit verringert und damit gerechnet, dass entweder der in der Einfahrt wartende Lkw ausfahren oder der sich zum Linksabbiegen eingeordnete Beklagte zu 1. die Lücke möglicherweise ausnutzen würde, um selbst in die Einfahrt abzubiegen.

War somit der Unfall für keine der Parteien unabwendbar, ist gemäß § 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG eine Abwägung der jeweiligen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge vorzunehmen, wobei jeder Halter dem anderen Teil einen als Verschulden anzurechnenden Umstand oder andere dessen Betriebsgefahr erhöhende Tatsachen zu beweisen hat (vgl. BGH NZV 1996, 231). Diese Abwägung führt im Streitfall dazu, dass der Kläger mit einem Anteil von 1/3 für seinen Schaden selbst einzustehen hat.

Die vom Landgericht angesetzte Haftungsquote von nur 10 % ist unter den gegebenen Umständen nicht haltbar. Aufgrund des schuldhaften Verkehrsverstoßes des Klägers ist die Betriebsgefahr seines Fahrzeuges erhöht, zumal die Betriebsgefahr grundsätzlich auch ohne einen Verkehrsverstoß des Klägers mit 20 bis 25 % anzusetzen wäre. Da jedoch der überwiegende Verursachungsbeitrag auf Seiten des Beklagten zu 1. liegt, ist der Mithaftungsanteil des Klägers in Übereinstimmung mit dem Beklagtenvortrag mit 1/3 anzusetzen. Da eine höhere Mithaftungsquote von den Beklagten nicht geltend gemacht wird, bedarf es der beantragten Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht.

Hinsichtlich der geltend gemachten Schadenshöhe ergibt sich dadurch folgende Berechnung: Von den materiellen Schadenspositionen i.H.v. 9.933,76 € ist ein Abzug von 1/3 vorzunehmen, sodass ein erstattungsfähiger Betrag von 6.622,51 € verbleibt. Abzüglich der unstreitigen und von der Beklagten zu 2. zur Aufrechnung gestellten Forderung in Höhe von 2.492,77 € für die Aufwendungen an dem beschädigten Lkw verbleibt ein Betrag von 4.129,74 €. Der in dieser Höhe verbleibende Anspruch des Klägers ist durch die vorgerichtliche Zahlung der Beklagten zu 2. vollständig erloschen.

Die Höhe des vom Landgericht als angemessen angesehenen Schmerzensgeldes von 500,00 € bei vollständiger Haftung ist von den Beklagten mit der Berufung nicht angegriffen worden. Der Kläger kann somit unter Berücksichtigung seines Mithaftungsanteils ein Schmerzensgeld i.H.v. 333,33 € verlangen, worauf die Beklagte zu 2. gemäß dem Abrechnungsschreiben vom 13.03.2023 266,67 € gezahlt hat (2/3 von 400,00 €). Damit wäre noch ein zu zahlender Betrag von 66,67 € offen. Insoweit hat es daher bei der vom Landgericht austenorierten Urteilssumme von 50,00 € zu verbleiben.

Der Kläger hat ferner Anspruch auf Erstattung der ihm entstandenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten auf der Basis eines Gegenstandswertes von bis zu 7.000,00 €. Zuzüglich Auslagenpauschale und Mehrwertsteuer errechnet sich ein zu ersetzender Betrag i.H.v. 713,76 €.

Der Zinsanspruch folgt aus §§ 288, 291 BGB.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 2 Nr. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.

Der Gebührenstreitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 3 ZPO i.V.m. § 47 Abs. 1 S. 1 GKG auf 4.246,15 € festgesetzt.