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Entscheidung 13 KLs 25/22


Metadaten

Gericht LG Neuruppin 3. Große Strafkammer Entscheidungsdatum 16.04.2024
Aktenzeichen 13 KLs 25/22 ECLI ECLI:DE:LGNEURU:2024:0416.13KLS25.22.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Der Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung gegen die Ablehnung einer im Wege der Anrechnung vorzunehmenden Kompensation für eine mögliche rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung in dem von der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) unter dem Az. 220 Js 37112/09 geführten Verfahren wird als unbegründet verworfen.

Gründe

I.

Gegen den Verurteilten ist mit Urteil der Kammer vom 20. Januar 2023 - rechtskräftig seit dem 2. November 2023 - wegen zwei Fällen der Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge auf Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten erkannt worden.

In Unterbrechung einer in anderer Sache angeordneten Untersuchungshaft verbüßt der Verurteilte diese Strafe seit dem 2. Januar 2024 in der JVA xxx.

In einer ersten Strafzeitberechnung erklärte die Staatsanwaltschaft Cottbus - Rechtspfleger - die vom 14. Dezember 2021 bis zum 21. Mai 2022 in Tansania erlittene Auslieferungshaft (159 Tage) unter Berücksichtigung des in dem Urteil der Kammer festgesetzten Anrechnungsmaßstabs von 1 : 4, sowie die vom 22. Mai 2022 bis zum 20. Januar 2023 erlittene Untersuchungshaft (244 Tage), mithin insgesamt 880 Tage als auf die Gesamtfreiheitsstrafe anrechenbar.

Hiergegen wandte sich der Verurteilte mit anwaltlichen Schriftsätzen vom 23. November 2023 und vom 4. Januar 2024 und beantragte - zunächst hilfsweise, dann unbedingt - gerichtliche Entscheidung. Nach seiner Ansicht sei bei der Strafzeitberechnung zusätzlich das im Jahr 2009 durch die Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) (220 Js 37112/09) gegen ihn eingeleitete, zuletzt vor dem Landgericht Potsdam (210 KLs 4/20) geführte und mit Rücksicht auf das bezeichnete Urteil des Landgerichts Neuruppin mit Beschluss vom 14. Juli 2023 gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellte Verfahren in den Blick zu nehmen. Dort habe er acht Monate Untersuchungshaft erlitten, die wegen der funktionalen Verfahrenseinheit ebenfalls anzurechnen seien. Ferner sei dieses Verfahren rechtsstaatswidrig verzögert worden, sodass im Falle einer Verurteilung 24 Monate der verhängten Freiheitsstrafe für vollstreckt zu erklären gewesen wären. Analog zur Anrechnung verfahrensfremder Untersuchungshaft sei auch bei einer Verletzung des Beschleunigungsgebots in der anderen Sache eine entsprechende Anrechnung vorzunehmen. Andernfalls werde der Verurteilte um die Kompensation beraubt, die ihm im Falle einer nachträglichen Gesamtstrafen Bildung zugutegekommen wäre.

Die Staatsanwaltschaft Cottbus ist den Einwänden des Verurteilten insoweit beigetreten, als dass sie für die vom 21. Januar bis 13. September 2011 und die vom 28. März 2013 bis 10. April 2013 erlittene Untersuchungshaft weitere 250 Tage für anrechenbar erklärt hat. Eine weitergehende Anrechnung könne jedoch nicht erfolgen. Es fehle an einer entsprechenden Rechtsgrundlage.

Auf die anschließende Mitteilung des Verurteilten, er halte an seiner Auffassung zur Notwendigkeit der Anrechnung weiterer 24 Monate fest, hat die Staatsanwaltschaft die Sache dem Landgericht Berlin - Strafvollstreckungskammer - zur Klärung vorgelegt, welches mit Beschluss vom 4. März 2024 die Entscheidung über die Strafzeitberechnung an das Gericht des ersten Rechtszugs abgegeben hat.

II.

Nachdem die Staatsanwaltschaft die zunächst ihr als Vollstreckungsbehörde obliegende Entscheidung über die Strafzeitberechnung (§§ 36 ff. StVollstrO) getroffen und den gegen ihre Entschließung erhobenen Einwendungen teilweise abgeholfen hat, ist Gegenstand des nach § 458 Abs. 1 StPO statthaften und nach bindender Abgabe durch die Strafvollstreckungskammer gemäß §§ 462 Abs. 1 S. 1, 462a Abs. 1 S. 1 und 3 StPO vor der Kammer als Gericht des ersten Rechtszugs zu führenden Antragsverfahrens allein noch die Frage, ob und, wenn ja, in welchem Umfang eine „verfahrensfremde“, rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung nach Einstellung gemäß § 154 Abs. 2 StPO durch eine über den Wortlaut des § 51 StGB hinausgehende Anrechnungsentscheidung zu kompensieren ist.

Die Staatsanwaltschaft hat eine solche Anrechnung zu Recht gänzlich abgelehnt.

Der Anwendungsbereich des § 51 Abs. 1 S. 1 StGB als einzig in Betracht kommende Rechtsgrundlage ist unmittelbar nur bei „verfahrensidentischer“ Untersuchungshaft sowie bei anderen, aus Anlass der Tat erlittenen Freiheitsentziehungen eröffnet. Darüber hinaus kann nach ständiger Rechtsprechung unter bestimmten Voraussetzungen auch „verfahrensfremde“ Untersuchungshaft in analoger Anwendung der Vorschrift anzurechnen sein. In Fällen „verfahrensfremder“, rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen ist für eine analoge Heranziehung der Norm allerdings kein Raum, da es bereits an einer (planwidrigen) Regelungslücke fehlt, welche durch Erweiterung einer analogiefähigen Vorschrift geschlossen werden müsste. Für Fälle überlanger Ermittlungs- und Gerichtsverfahren ist zur Wahrung der Garantien aus Art. 6 Abs. 1 S. 1, 13 EMRK mit den §§ 198 ff. GVG ein Rechtsbehelf geschaffen worden, mit dem sich Betroffene gegen Verletzungen ihres Rechts auf eine angemessene Verfahrensdauer zur Wehr setzen können und die befassten Gerichte zu einer schnelleren Entscheidungsfindung veranlasst werden. Nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG wird derjenige, der infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, angemessen entschädigt. Dies gilt gemäß § 199 GVG ausdrücklich auch für das Strafverfahren. Dabei können Nachteile, die nicht Vermögensnachteile sind, durch die Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer und gegebenenfalls eine danebenstehende Entschädigung ausgeglichen werden, § 198 Abs. 2 und 4 GVG, sofern die unangemessene Dauer nicht bereits auf andere Weise durch ein Strafgericht oder die Staatsanwaltschaft zugunsten des Beschuldigten berücksichtigt worden ist, § 199 Abs. 3 S. 1 GVG. Die Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs ist bei vorangegangener - hier am 29. Juni 2023 - angebrachter Verzögerungsrüge gemäß § 198 Abs. 5 GVG bis sechs Monate nach Verfahrenserledigung möglich. Nach § 201 Abs. 1 GVG sind für die Klagen auf Entschädigung bei überlangen Verfahren die Oberlandesgerichte bzw. der Bundesgerichtshof ausschließlich zuständig. Für die notwendige, bislang nicht rechtskräftig erfolgte Prüfung, Feststellung und Kompensation einer in anderer Sache begangenen Verletzung des Beschleunigungsgebots müsste sich die Kammer also noch dazu über unmissverständliche Zuständigkeitsbestimmungen hinwegsetzen. Konstellationen wie die vorliegende sind damit einem umfassenden und abschließenden Regelungssystem unterworfen worden. Dass dieses nicht die von dem Verurteilten begehrte Rechtsfolge bereithält, macht es nicht planwidrig lückenhaft, sodass es bei der bereits zugesprochenen Anrechnung von insgesamt 1.130 Tagen und dem sich daraus ableitendes Strafendes am 28. Mai 2026 (Ablauf von 2/3 am 27. Juli 2024) verbleibt.

Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst (§ 464a Abs. 1 S. 2, § 465 Abs. 1 S. 1; OLG Braunschweig BeckRS 2014, 20153).